Erschienen in Ausgabe: No. 20 (2/2003) | Letzte Änderung: 10.06.09 |
Entvölkerte Landschaften, seelische Verheerungen - Das Erbe des Kommunismus in den neuen Ländern
von Arnulf Baring
Die neuen Bundesländer bieten insgesamt ein wenig
hoffnungsvolles Bild. In Sachsen und Thüringen sieht es besser aus als in
Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, besser auch als in Brandenburg - vom
Speckgürtel um Berlin abgesehen, der als einzige Region der genannten drei
Länder wächst und floriert. Die Abwanderung vor allem begabter, tatkräftiger
junger Leute hält immer noch an. Sie ist Besorgnis erregend. Knapp zwei
Millionen Menschen haben die neuen Länder seit 1990 verlassen. Selbst in
Sachsen wanderten im Jahr 2001 immer noch 19 000 Menschen ab. Herwig Birg,
Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung an der Universität Bielefeld,
beklagt lebhaft, dass die Politiker der neuen Länder den Bevölkerungsschwund
ignorieren. Wenn die Abwanderung von Ost nach West anhalte und die Geburtenrate
niedrig bleibe, mahnt Birg, könne die Region auf Dauer nicht überleben. Es gibt
viele kleinere Orte, in denen man kaum noch Kinder sieht. Ein Landrat in
Brandenburg sagte mir, die Schulbusse begännen ihre Tour wegen der geringen
Kinderzahl um 5.30 Uhr früh. Das bedeutet: die Schüler müssen schon um 4.30 Uhr
aufstehen - was an sich schon ein Grund zur Abwanderung ist.
Zwar hat der Bund alte Stadtkerne vorzüglich saniert und restauriert. Aber es
gelingt nicht, die Bewohner aus den Plattenbausiedlungen zum Umzug in die
früheren Zentren zu bewegen. Sie fühlen sich dort wohl, wo sie jetzt sind.
Weshalb sollten sie Freude an einem Renaissance-Erker oder einem Barockportal
empfinden? Man hat sie nie gelehrt, dass dergleichen schön und für das
Selbstgefühl der Bewohner wichtig ist.
In unserem Nachbarland Polen sind auf den Briefmarken "Dwors"
abgebildet, also traditionelle Gutshäuser, kleine Landschlösschen. Auch in der
Gegenwartsliteratur entdeckt Polen in überraschender Breite seine alten,
adligen Traditionen wieder. Dergleichen wäre in Deutschland, zumal in Ostdeutschland,
heute undenkbar. Der langjährige Potsdamer Oberbürgermeister Horst Gramlich
sagte mehrere Jahre nach der Wiedervereinigung öffentlich, ihm sei erst nach
1990 bewusst gemacht worden, wie schön das alte Potsdam sei.
Die mindestens drei, wenn nicht vier Millionen Menschen, die nach 1945, vor
1989 das Gebiet der Sowjetzone, später der DDR, verlassen haben, sowie deren
Kinder und Enkel sind nach 1990 im Großen und Ganzen nicht zurückgekehrt. Damit
fehlen noch immer breite Mittelschichten, fehlt ein flächendeckendes Bürgertum.
In dieser gesellschaftlichen Mitte wachsen aber in allen Ländern, in allen
Gesellschaften der Welt Kreativität und Verantwortungsgefühl,
Risikobereitschaft und selbstsichere Unternehmungsfreude. Um dem Mangel an
geeignetem Personal und unternehmerischen Elan, auch fehlenden ökonomischen
Perspektiven abzuhelfen, müsste, wie Lothar Späth gesagt hat, der Osten
wirklich kippen, aber nicht in den Abgrund, sondern in die Marktwirtschaft. In
diesem Zusammenhang betonte er gleichzeitig, dass wir die Milliarden für
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen besser in die Köpfe unserer Kinder investieren
sollten. Dazu müsste es eine massive Zuwanderung mittelständischer Familien aus
dem Westen geben, eine neuartige, friedliche Ostkolonisation. Angesichts unserer
demographischen Situation - der Überalterung, der geringen Geburtenrate, des
absehbaren Schrumpfens unserer Bevölkerung - ist eine solche Entwicklung
unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen. Eher ist in den kommenden Jahren
und Jahrzehnten mit einer begrenzten Zuwanderung aus Polen, auch aus Tschechien
in entvölkerte deutsche Gegenden entlang der Oder-Neiße-Grenze zu rechnen. Das
könnte an sich einen Entwicklungsschub auslösen. Aber es ist nicht zu
übersehen, dass aus der ehemaligen DDR kräftige, auch damals verständliche
Vorbehalte gegenüber Polen stammen, die noch nicht überwunden sind.
Die Politik der Bundesregierungen Kohl und Schröder sowie der Länder im Westen
Deutschlands hat in den letzten zwölf Jahren geglaubt, enorme Finanzmittel
sowie entsandte Experten aus Wirtschaft und Verwaltung könnten rasch
"blühende Landschaften" schaffen. Dabei hat man verkannt, wie viele
Faktoren zusammenwirken müssen, um leistungsfähige, moderne Industrien und
Dienstleistungen flächendeckend zu ermöglichen. Klaus von Dohnanyi hat über
diese Zusammenhänge frühzeitig Lesenswertes geschrieben. Unmittelbar nach der
Wiedervereinigung veröffentlichte er 1990 ein Buch mit dem Titel "Das
deutsche Wagnis". In ihm behauptete er, wir hätten "die größte ökonomische
Kraftanstrengung" vor uns, "die Deutschland nach 1945 unternehmen
musste". Die Ausgangslagen für DDR-Arbeitsplätze seien "heute
verheerend", die Standortbedingungen für Investitionen miserabel. Damals
aktuelle Untersuchungen zeigten, wie er schrieb, was für erfolgreiche
Standortkonkurrenzen besonders wichtig sei: Verkehrsanbindungen, Schul- und
Ausbildungsverhältnisse, wegen des qualifizierten Arbeitsmarktes die
Nachbarschaft anderer Unternehmen vergleichbarer Branchen, die Nähe
einschlägiger, hochkarätiger wissenschaftlicher Institutionen, die
Lebensqualität des Wohnumfelds und eine kompetente, kooperative öffentliche
Verwaltung.
Den meisten Beobachtern und Analytikern entgeht noch immer, dass wir in den
neuen Ländern weithin tief verunsicherte Menschen vor uns haben. Nur ganz
wenige Beobachter - wie beispielsweise Hans-Joachim Maaz, Chefarzt der
Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle - haben
frühzeitig erkannt, welche schweren psychischen Belastungen aus der DDR stammen
und weiterwirken. 1990 erschien von Maaz das Buch "Der Gefühlsstau".
In ihm hieß es, der Einzelne sei in der DDR einem enormen psychischen Druck
ausgesetzt gewesen, der ein umfassendes System autoritärer Unterwerfung erzeugt
habe. Durch die reale Angst vor Bestrafung sei er noch verstärkt worden. Die
fantasierte Bedrohung durch eine allgegenwärtige Bespitzelung habe den Druck
ins Irrationale gesteigert. Die DDR-Menschen hätten ihn entweder an andere
weitergegeben oder gegen sich selbst gewendet - gesundheitsschädlich, psychisch
deformierend, zerstörerisch. Die anhaltende Wucht dieser Mechanismen sei enorm.
Wer nie erlebt hat, schrieb Maaz, was es heißt, wenn alles vorgeschrieben ist,
was man sehen, hören, denken, sprechen, fühlen und tun darf, wird kaum ahnen,
was das SED-Regime in den Körpern und Seelen derer angerichtet hat, die ihm
unterworfen waren. Die Wirkungen lähmen vermutlich über mehrere Generationen,
auch Kinder und Kindeskinder. Das gilt übrigens nicht nur in der DDR, sondern
mehr oder weniger stark für alle Staaten, die ein halbes Jahrhundert lang von
der Sowjetunion und ihrer Partei geprägt wurden.
Die Kommunisten haben also die Mentalität der Menschen in der DDR viel tiefer
beeinflusst, und zwar außerordentlich negativ, als die Nationalsozialisten -
und zwar einfach aus dem Grunde, weil sie so lange an der Macht waren. In
welchem Umfang die Menschen in der früheren DDR verängstigt, wurzellos gemacht,
verunsichert worden sind, darüber wird selten öffentlich gesprochen, weil es
als kränkend für unsere Landsleute gilt, wie ein Vorwurf an sie wirkt. Sie sind
aber ohne eigenes Verschulden in eine unglaublich schwierige Lage geraten, in
der sie sich nicht zu helfen wussten. Kürzlich schrieb mir ein Anwalt aus
Magdeburg, er sei von seinen Eindrücken vor Ort beängstigt, ohne sich
eigentlich erklären zu können, was genau ihn umtreibe. Ihm dämmere in letzter
Zeit die Erkenntnis, dass die Bevölkerung in den neuen Bundesländern,
soziologisch betrachtet, eine entwurzelte Summe von Individuen und Gruppen
unterschiedlichster Herkunft und Zielsetzung sei, die alle nach Orientierung
suchten. Dabei meine er nicht, schrieb er, den notwendigen Pluralismus einer
offenen Gesellschaft, sondern eine aus Unsicherheit und Furcht stammende
Mentalität der Unterdrückung und Anpassung. Es handle sich um eine Haltung, die
nicht zu vergleichen sei mit einem biedermeierlichen Rückzug ins Private. Denn
"auch das Private", schrieb er, "stimmt hier so nicht mehr und
wirkt seltsam fremdbestimmt, fremdartig beeinflusst". Die frühere DDR habe
eine Gesellschaft hinterlassen, in der sich alle Individuen auf der Suche nach
sich selbst befänden - und das auf jeder Seins- und Organisationsebene ohne
Grundvertrauen und ohne Konsens untereinander.
Vielleicht darf ich zitieren, was ich dem Magdeburger Anwalt geantwortet habe.
Ich fände seine Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse dort, schrieb
ich, so einleuchtend wie bedrückend. Sie deckten sich mit meinen Mutmaßungen.
Dann fuhr ich fort: "Alle Beobachter vor Ort haben in den vergangenen
Jahren viel zu sehr die materiellen Aspekte der Krise in der früheren DDR
betont und daher geglaubt, es handle sich wesentlich um Mängel, denen man mit
finanziellen Aufwendungen beikommen könne. Wenn man aber die gewaltigen
Aufwendungen mit den erreichten, bescheidenen Stabilisierungen vergleicht, kann
man dem Schluss nicht ausweichen, dass die eigentlichen Störungen in dem
Bereich liegen, in dem Sie sie vermuten. Freilich sind wir wohl beide ratlos,
wie diesem kranken Seelenzustand abzuhelfen wäre. Ich ertappe mich immer wieder
beim Vergleich mit der NS-Zeit. Es klingt sehr missverständlich - angesichts
des Desasters eines total verlorenen Krieges und der unglaublichen Verbrechen
des Regimes -, wenn ich sage, dass die Nationalsozialisten nach meiner
Einschätzung unser Volk viel weniger beschädigt haben als die Kommunisten, und
zwar deshalb, weil sie nach zwölf Jahren wieder weg waren. Wenn man die ersten
beiden Nachkriegsjahrzehnte im Westen analysiert, fällt auf, wie energisch und
zuversichtlich unsere Landsleute damals den Wiederaufbau bewerkstelligt haben.
In der DDR war der Sieg des Regimes über die Seelen viel tief greifender, viel
totaler. Und warum? Weil die SED ein halbes Jahrhundert, drei Generationen
lang, die Gesellschaft umfassend prägte. Genauer gesagt: das, was wir unter
‚Gesellschaft’ verstehen, wurde auseinander gesprengt, atomisiert. Die
kreativen Teile der Bevölkerung, das Bürgertum, der Mittelstand, mehrere
Millionen Menschen wurden weggeekelt. in den Westen getrieben - oder vor Ort
demoralisiert und entkräftet, ausgeschaltet."
Wie ich oben schrieb, gilt dieser Befund mehr oder weniger in gleichem Maße für
alle von den Sowjets gequälten und zu Grunde gerichteten Länder. So schrieb
Ende vergangenen Jahres Jaroslaw Makowski, Philosoph und Redakteur einer in Krakau
erscheinenden katholischen Wochenzeitung: An der Oberfläche seien die neuen
Verhältnisse in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft durchgesetzt und akzeptiert.
Daher könne man den Eindruck haben, es sei überflüssig, heute noch nach Spuren
des Kommunismus im polnischen Bewusstsein und heutigen Leben der Polen zu
suchen. Aber das, was man auf den ersten Blick sehe, sei nur "eine Art
äußerer Vorhang". Viel wichtiger sei, was sich hinter ihm verberge und
damit dem oberflächlichen Blick entziehe. Nach außen herrsche relativer Friede.
Alles weise darauf hin, dass der Kommunismus mit seinen schädlichen
Konsequenzen für das individuelle und gesellschaftliche Leben auf dem
Müllhaufen der Geschichte gelandet sei. Doch dann fährt Jaroslaw Makowski fort:
"Das Problem steckt jedoch in dem, was hinter diesem äußeren Vorhang
geschieht. Dort tobt, wie in der Mitte eines Sees, ein wahrer Sturm. Von Zeit
zu Zeit steckt jemand ganz allein, manchmal eine Gruppe, den Kopf aus dem
Wasser, schreit Fragen hinaus, schwimmt weiter oder verschwindet ganz einfach
in der Tiefe. Die Menschen schreien nicht so sehr aufgrund dessen, was sie
sehen, sondern eher auf Grund dessen, was sie nicht sehen, in dem sie aber
weiterhin tief versunken sind. Versunken sind sie in einer kommunistischen Schmiermasse.
Zwar haben wir äußerlich keinen Kommunismus mehr, aber man spürt ihn in der
Tiefe, im Bewusstsein des Menschen, das geprägt wurde von einem System der Lüge
und der fehlenden Verantwortung, einem System, wie es der Kommunismus mit
Sicherheit war."
Wie geht man mit einer solchen Vergangenheit verantwortlich, also illusionslos
klar, aber gleichzeitig verständnisvoll und menschenfreundlich um? Wie können
wir, die wir im Westen es so viel einfacher hatten, unseren Landsleuten in eine
hellere Zukunft helfen?
Zunächst einmal ist Dankbarkeit angesagt bei allen, die nicht jahrzehntelang in
einer totalitären Diktatur leben mussten; sodann Bescheidenheit gegenüber
denen, die wehrlos einem solchen Regime ausgeliefert waren.
Das SED-Regime empfand die bürgerliche Gesellschaft als seinen Hauptfeind,
rechnete auch selbstständige Bauern zu seinen Gegnern, Christen sowieso, und
versuchte daher alles zu beseitigen, was an diese Gruppen, ihre Werte und
Maßstäbe erinnerte, an ihr kulturelles Urteilsvermögen, an ihre Verankerung in
historischen Bezügen. Die sozialistische DDR war ein Regime der Handlanger, der
Landarbeiter. Sie wurde nicht mehr von Handwerksmeistern geprägt, wie wir sie
noch in früheren Sozialdemokraten - man denke an August Bebel oder Friedrich
Ebert - vor uns hatten. Die Führungsschicht der DDR ist sich bei ihrem
gedanklich unzulänglichen und, daher illusionären Versuch, eine völlig neue,
andersartige Gesellschaft zu schaffen, vermutlich gar nicht bewusst gewesen,
was sie in ihrer Entschlossenheit, alles Bisherige niederzumachen, in Wahrheit
anrichtete. Indem sie die bisherigen Fundamente des Zusammenlebens beseitigte,
führte sie eine Situation herbei, in der sie scheitern musste. Von dunklen
Ahnungen eigener Unfähigkeit befallen, war die SED-Führung übrigens weniger und
weniger überzeugt, dass ihr über die Zerstörung hinaus konstruktiv Erfolg
beschieden sein werde.
Der materielle Niedergang, dann der Zusammenbruch der DDR in Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft war schlimm genug. Aber noch schlimmer war und viel
länger wird das seelische Gift wirken und damit die Ressentiments, Neid und
Missgunst, Verunsicherung, Angst, Beschämung, Lähmung, die es zur Folge hatte -
lauter Leiden, Unlust und Frustimpulse, die die Auflösung der früheren
gesellschaftlichen Strukturen begleitet und vertieft haben.
Professor Dr. Arnulf Baring ist Jurist, Zeithistoriker und Publizist.
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