Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 22.06.09 |
von Gregor Gysi
Über die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung
der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht sprechen, wenn man nicht
wenigstens ein oder zwei Sätze zu der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung
eines neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die deutsche
Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das Naziregime verhindert hätte. Aber
dieses Regime hat von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden waren
in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise verbrecherisch. Vielmehr hatte
dieses Regime ausschließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Insofern war
der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung, und es konnte nur ein Tag der Befreiung
sein.
Dann war Deutschland von den vier Siegermächten besetzt. Es stellte sich die
Frage, was jetzt geschehen sollte. Die deutschen Politikerinnen und Politiker
in Ost und West hatten nicht die Geduld der Österreicherinnen und Österreicher.
Auch Österreich war von vier Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land
geblieben. Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe Deutschland
ganz als das ganze halb – und die im Osten dachten genauso. Vermutlich hätten
die vier Siegermächte gar nichts machen können, wenn alle Verantwortlichen in
Deutschland gesagt hätten: wir gründen nur einen Staat zusammen. Wie hätten sie
das verhindern sollen? Aber hier gab es diese Kraft, diese Geduld nicht.
Was wäre eigentlich daran so schlimm, wenn wir diesen Weg zusammen gegangen
wären? Wir wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag gewesen, so wie
Österreich. Das wäre doch keine Katastrophe gewesen, im Gegenteil, und auf
diese Weise hätte die Spaltung verhindert werden können. Die Spaltung begann
mit der einseitigen westlichen Währungsunion. Es darf übrigens nicht vergessen
werden, dass zuerst die Bundesrepublik Deutschland ohne den Osten gegründet
worden ist und erst danach die DDR. Die Verantwortlichen der BRD verzichteten
auf den Osten, als sie gründeten. Mit der Spaltung Deutschlands wurde auch der
Kalte Krieg zwischen beiden deutschen Staaten ausgetragen, und zwar auf beiden
Seiten. Wäre aus dem Kalten ein Heißer Krieg geworden, dann existierte
Deutschland heute nicht mehr. Das war zwischen den Großmächten verabredet. Es
gab Politiker, auch wieder in Ost und West, die das erkannten und zu verhindern
versuchten. Das ist gelungen.
Im Nachhinein war die Besetzung Ostdeutschlands durch die Sowjetunion ein
Zufall. Man stelle sich vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrungen
und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bayern eine Art DDR geworden.
Daraus folgt: wenn jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt
hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemaligen Bürger der DDR erklärt,
wie er oder sie in der DDR gelebt hätte, wenn er oder sie dort gelebt hätte. Er
oder sie kann es eigentlich nicht wissen und sollte diesbezüglich einen
gewissen Grad an Bescheidenheit an den Tag legen.
Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende Verfassung. Es ist
erstaunlich, wie tief zwei Sätze aus dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der
Menschen verankert sind.
Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und der zweite
Satz lautet „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen“. Selbst wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde,
diese Sätze zu streichen - dafür wird es in Deutschland niemals eine
Zweidrittelmehrheit geben.
Heute sind beide Sätze nach wie vor von großer Bedeutung. Sie beschreiben
jedoch keinen Ist-Zustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten, sie seien
verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum geben, und in den letzten Jahren
gab es zu wenig Ringen darum, die Würde des Menschen wirklich für unantastbar
zu erklären und die soziale Eigentumsverpflichtung herauszuarbeiten. Das
Gegenteil erleben wir gerade in der Krise.
Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demokratischen Grundrechte
sehr deutlich, die sozialen Rechte werden weniger betont.
Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die Mauer fiel friedlich, die
deutsche Einheit kam friedlich zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein
großes Glück in unserer Geschichte. Seitdem gibt es einen ungeheuren
Fortschritt für die ostdeutsche Bevölkerung; denn sie lebt in politischer
Freiheit und Demokratie. Es war eine Zäsur in der Geschichte, aber die Einheit
erfolgte leider durch Beitritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht
durch Vereinigung.
Es gab zwei wesentliche Mängel, die sich bis heute auswirken. Eine Ursache,
warum wir gesellschaftlich immer noch gespalten sind, liegt darin, dass die
ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und anderen Bereichen nicht am
Einigungsprozess beteiligt, sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache
besteht darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf den Osten
übertragen wurde und Erfahrungen, die dort existierten, nicht berücksichtigt
wurden.
So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut zur Kenntnis, aber sie
konstatieren, dass es seit der Einheit auch im Westen wirtschaftlich und sozial
bergab gehe. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Milliarden erhalte,
ohne dass sich die wirtschaftliche Lage dort und im Westen verbessere.
Obendrein seien die Ostdeutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten
komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen, sodass wir uns diesbezüglich
schon vereinigen.
Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen zur Wirtschafts- und
Soziallage falsch sind. Der Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt
nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gigantischen Umverteilung von
unten nach oben. Genau diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt werden.
Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durchschnitt noch um 15 Prozent
niedriger als im Westen. Die Löhne im Osten sind durchschnittlich ein Drittel
niedriger als im Westen, und zwar bei gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit.
Der Niedriglohnsektor umfasst 41 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse im
Osten und 19 Prozent im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so
hoch.
Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen Missachtung ostdeutscher
Biografien. Geradezu symbolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung „60
Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck: Die Geschichte der DDR wird
nicht als Teil der deutschen Geschichte begriffen. Es gibt bis einschließlich
1990 kein Bild, keine Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht von
John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer, nicht von Fritz Cremer, nicht
von Otto Niemeyer-Holstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder
Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht von Willi Sitte, nicht von
Werner Tübke, nicht von Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno
Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jahren Bundesrepublik
Deutschland nicht vertretbar.
Die älteren Generationen haben Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an
der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompliziert war und ist. Aus
Anlass der Fußballweltmeisterschaft 2006 in diesem Land hat eine neue junge
Generation ihr Verhältnis zu unserer Nation auf ihre Weise entwickelt, was sehr
hoffnungsvoll stimmt.
Diese Generation will keine Nation mehr unter sich haben und auch keine über
sich. Sie erfüllt damit einen Traum Brechts. Diese junge Generation überwindet
die Teilung unserer Gesellschaft. Sie wird deutsch, aber auch europäisch und
vor allem weltbürgerlich sein.
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