Erschienen in Ausgabe: No 39 (5/2009) | Letzte Änderung: 25.06.09 |
von Bettina Röhl
Reich-Ranicki
ist ein großartiger Provokateur und ein verkannter Opportunist. Ein
Film zeigt jetzt sein frühes Leben und auch sein Überleben im
Warschauer Ghetto. Aus diesem Anlass erscheint hier ein Nachdruck des
Interviews der Autorin mit Marcel Reich-Ranicki aus 2004 über das Leben
des Literaturkritikers.
Die Literaturkritik ist traditionell das
Feld der großen Wortschlachten, der Gefechte mit dem Florett und
manchmal auch mit der Axt.
Der große Literaturkritiker Alfred Kerr – vielleicht das große
Vorbild von Reich-Ranicki – konnte in der Kaiserzeit und der Zeit der
Weimarer Republik bis zu seiner Flucht vor den Nazis in Deutschland
Dinge öffentlich sagen, die in jedem anderen Zusammenhang als
ungeheuerlich empfunden worden wären. Die Literaturkritik ist eben die
Kunst des geschriebenen Wortes, die die Kunst beurteilt und die Kunst
ist frei und die Literaturkritik womöglich noch freier.
Literaturkritik ist ebenso wichtig wie verzichtbar und in diesem
Spannungsfeld können große Persönlichkeiten wie Ranicki zu großer Form
auflaufen. Ranickis literarisches Urteil ist nicht immer richtig und
auch nicht immer gerecht, aber es ist laut und vernehmlich und
verständlich.
Sein damaliger Verriss der Blechtrommel von Günter Grass von 1959
ist die bis heute sicher beste und klügste Beschreibung dieses enorm
berühmten, einträchtigen, sprachgewaltigen und Zeitgeschichte
beschreibenden Buches, mit einer albernen und sinnlosen 3
Promille-Schnapsidee als Aufhänger in Gestalt des blechtrommelnden
Oskar Matzerath. Das brachte Reich-Ranicki sehr schön auf den Punkt –
ganz entgegen dem allgemeinen Trend, aus dem der Kultstatus von Günter
Grass entstand.
Ranicki – so wird landläufig gesagt – kritisiere rücksichtslos, wenn
ihm danach sei, Freund und Feind. Aber es wird meistens vergessen
darauf hinzuweisen, dass Ranicki auch von einer großen Sehnsucht nach
persönlicher Versöhnung geradezu getrieben ist. Wenn Ranicki sagt, dass
Grass jemand sei, der regelrecht geliebt werden möchte, dann könnte er
damit auch ein Stück seiner selbst beschreiben. Auch Ranicki will auf
seine Art geliebt werden.
Das größte Verdienst von Ranicki ist die öffentliche Verbreitung des Produktes Literatur.
Bis in Harald Schmidts Unterschichten hinein ist Literatur ein
Begriff geworden, der über Jahrhunderte einer dünnen Schicht des
Bildungsbürgertums weitestgehend vorbehalten war.
Der jetzt von der ARD ausgestrahlte Film „Mein Leben“ nach der
gleichnamigen Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki ist schön, aber
auch manchmal etwas seicht, ohne Ecken und Kanten, von denen der
Protagonist reichlich hat.
Der Film zeigt die Lebensgeschichte Ranickis light. Die unerhörte
Lebensgeschichte des Marcel Reich-Ranicki, der, wie auch seine Frau
Tosia, durch die Hölle des Warschauer Ghettos ging, konnte nicht
vermittelt werden, aber der Film bringt den großen alten Mann auch
einem jüngeren Publikum, das ihn eigentlich nicht mehr wirklich kennt,
ins Bewusstsein. Das ist ein nicht zu unterschätzender Wert des Films.
Mit freundlicher Genehmigung von Bettina Röhl (www.welt.de)
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