Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 17.07.09 |
Manfred Geier, Die Brüder Humboldt. Eine Biograhie, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg (Januar 2009), 350 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3498025112, ISBN-13: 978-3498025113, Preis: 19,90 EURO
von Heike Geilen
"Sie sind
miteinander bestens vertraut und zugleich voneinander getrennt 'wie zwei
entgegengesetzte Pole' [...] Versenkung ins Innere/Treiben ins Äußere;
Konzentration auf sich/Wirkung auf andere; Leben in Ideen/Forschen in der Wirklichkeit;
Bildung der eigenen Individualität in ihrer Besonderheit/Beobachtung der
natürlichen Dinge in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang; Kultivierung der
inneren Würde/Drang nach äußerer Anerkennung." So wird es von dem
älteren der beiden "Protagonisten" in der vorliegenden Biografie in
einer strengen Dichotomisierung, einer Zweiteilung, wenn auch nicht neutral
oder gar objektiv, festgehalten.
Die Rede ist von Wilhelm (1767-1853) und Alexander (1769-1859)
Humboldt, dem schillernden "Zweigespann" des neubürgerlich gestimmten
Zeitgeistes im ausgehenden Zeitalter der Aufklärung, der deutschen Klassik und
dem darauffolgenden des Idealismus. Der 1943 geborene Sprach- und
Literaturwissenschaftler Manfred Geier, der bereits mit "Kants Welt"
(2003) eine hervorragende Biografie schrieb, legt nun eine weitere, brillante über
die beiden Universalgelehrten des 18./19. Jahrhunderts vor.
Ihrer unterschiedlichen Charaktere sind sich die Brüder in
voller Klarheit bewusst. Sie verhalten sich wie komplementäre Figuren
zueinander, doch sie schätzen und zollen sich zeitlebens gegenseitige
Anerkennung, "weil jeder im anderen
erkennt, was ihm selbst fehlt."
Manfred Geier hat diese korrelative Bewunderung und
Hochachtung in dem vorliegenden Buch zum roten Faden, zum Leitthema gemacht und
beide gleichberechtigt, parallel porträtiert. Auf reichlichen 300 Seiten presst
er deren immense Lebensfülle, ihre vielfältigen Kontakte, Freundschaften,
Reisen und Korrespondenzen und die zeitgeschichtlichen Ereignisse zusammen,
jedoch ohne Wesentliches auszugrenzen oder gar den Leser über Gebühr zu
überfrachten. Auf lockere Art und Weise, mit stilistischer Eleganz und
Noblesse, immer auf höchstem Niveau und mit philosophischer Grundtendenz, gibt
Geier einen hervorragenden Einblick in die Lebenswelt dieser beiden Männer.
Gleichzeitig öffnet er die Tür zum Verständnis ihrer Werke, ja, er ermutigt
gar, sich weiterer Sekundär- oder Primärliteratur zu bedienen, um diese beiden
gleichen Ungleichen noch besser kennenzulernen.
Rückzug ins Innere versus
Orientierung nach außen
Das Leben der Humboldts fing alles andere als glorios an. Als
1779 ihr weltoffener, heiterer Vater stirbt, beginnt für sie eine Zeit der
emotionalen Einsamkeit und kühlen Distanz zu ihrer Mutter, hervorgerufen offensichtlich
durch deren besondere Unnahbarkeit und Kälte. Hinzu kommt die hofmeisterliche
Kontrolle durch ihren Hauslehrer Kuntz. Wilhelm und Alexander haben, wie es in
vielen vornehmen und begüterten Familien üblich war, nie eine Schule besucht,
waren ständig unter der Aufsicht von Erwachsenen, "die zwar das Beste für sie wollten, aber ihre Empfindungen nicht
nachvollzogen." Ihre prägnanten Verhaltensweisen und Stimmungen werden
zeit ihres Lebens ein Zeugnis über ihre Zeit auf "Schloss Langeweil im
märkischen Sand" (Anm.: der Familiensitz Schloss Tegel) geben.
Schon früh zeigt sich die unterschiedliche charakterliche
Prägung der Brüder, die sie ihr ganzes Leben beibehalten werden. Stürzt sich
der eine (Wilhelm) in "ständiges
Studieren, ununterbrochenes Lernen und intensives Lesen", hat der
andere (Alexander) "sehr wenig Lust,
[sich] mit den Wissenschaften zu befassen." Rückzug in die innere Welt
der Sprachen und der Literatur versus Orientierung nach außen in die Natur, zu
Steinen, Pflanzen, Muscheln und Käfern. Für beide ist es der angemessenste
Ausweg aus all den Zwängen, Verstellungen und ständigen Aufopferungen. Erst
1785 sollte sich die Welt ein wenig mehr für sie öffnen, als die beiden
Jugendlichen in das Bildungsmilieu der "Berliner Aufklärung" geraten.
Ein nahezu radikales Kontrastbild zu ihrer Kindheit: "Genussvolle Geselligkeit statt erlittener Einsamkeit, Offenherzigkeit
statt Verstellung, Freiheit statt Zwang.", berichtet Manfred Geier.
Unterhaltsam weiß der Autor die nächsten Schritte in die
Welt von Wilhelm und Alexander Humboldt nachzuzeichnen und den Leser informativ
und spannend über deren Lebensstationen zu berichten. Dies sind nach Berlin
zunächst die noch gemeinsamen Studentenjahre in Göttingen bei Georg Christoph Lichtenberg, Christian
Gottlob Heyne und dem Zoologen Johann Friedrich Blumenbach. Hier lernen sie
auch den Naturforscher Georg Forster, der mit James Cook die Welt umsegelt
hatte, kennen. Mit jenem wird sie eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Geier berichtet aber ebenso von ihren Erfahrungen mit der Französischen
Revolution oder der Entwicklung ihrer klassischen Ideen vom Ganzen gemeinsam
mit Schiller und Goethe. Natürlich dürfen die Reisen Alexander von Humboldts
nach Mittel- und Südamerika, seine naturwissenschaftlichen Forschungen im
Orinoko-/Amazonas-Gebiet und sein "Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu
besteigen" nicht unerwähnt bleiben. Haben doch gerade sie ihm endgültig zu
Ruhm und Ehren getragen. Währenddessen macht sein Bruder Wilhelm Politik für
Deutschland, gründet die Berliner Universität und initiiert eine Reform des
preußischen Erziehungswesens, "eine
Idee der Bildung, in deren Mittelpunkt nicht staatliche Interessen oder
berufliche Nützlichkeit stehen, sondern 'der Mensch selbst' mit seinen
physischen, intellektuellen und moralischen Kräften."
Aber Alexanders immer mehr "Französischsein" lässt
die Brüder mehr und mehr entfernen.
Unterhaltsame und
fundierte literarische Darstellung
Zur Lockerheit und Farbigkeit der Erzählung trägt maßgeblich
bei, dass sich Manfred Geier nicht nur auf eine Ansammlung von Fakten,
Stationen, Personen und intellektuellen Würdigungen der beiden Protagonisten
beschränkt, sondern vor allem die Einflechtung und Nachzeichnung derer äußerst
menschlichen "Befindlichkeiten", erotischen Wünsche und sexuellen
Orientierungen. Während Wilhelm die Rolle des "grob Sinnlichen" zufällt
(er vergnügte sich im Zweifelsfall mit Prostituierten), entdeckt Alexander
allmählich seine Homophilie. Geiers intensives Nachspüren der - auch hier
konträr agierenden - Triebschicksale beider Brüder, macht deren geistigen
Lebensweg noch verständlicher.
Letztendlich finden die Brüder in den zwanziger Jahren des
19. Jahrhunderts wieder zusammen. Während Wilhelm als freier Gelehrter sich den
vergleichenden Sprachstudien widmet, kehrt .Alexander nach Deutschland, in die
Dienste des preußischen Königs, zurück und beginnt sein fünfbändiges Spätwerk "Kosmos" zu
entwerfen. Der Tod des älteren Bruders, der im "Kosmos" des Denkens
und der Sprache zu Hause war, trifft ihn schwer. Alexander, der nie so gesund
war wie auf seinen abenteuerlichen Reisen, wird ihn um 24 Jahre überleben. Im
Park des Schlosses Tegel liegen beide neben Wilhelms Gattin Caroline im
Familiengrab der Humboldts bestattet.
Das Zitat Wilhelm von Humboldts an seine Frau Caroline vom
16. März 1814, welches Manfred Geier dem Buch vorangestellt hat, soll dieser
Rezension als Schlusswort dienen. Denn erst beim Zuschlagen der letzten Seite
wird man sich ihrer Aussagekraft in voller Tragweite bewusst: "Was das Sonderbarste ist, so gleichen
wir uns doch eigentlich in tausend Stücken. Für einen dritten muß es kaum zwei
Leute geben, über die es so amüsant sein muß, sich vergleichend zu
mokieren." Manfred Geier hat dies auf jeden Fall getan.
Fazit:
Die immense Fülle an Fakten und Ereignissen aus dem Leben
von Wilhelm und Alexander Humboldt weiß Manfred Geier in einem beeindruckenden,
subtanzreichem und klugen Terzett aus Naturkunde, Philosophie sowie
unterhaltsamer und fundierter literarischer Darstellung gekonnt zu vereinen und
in einer äußerst lesenswerten, ja, oft sogar bewegenden Biografie zu
kompensieren.
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