Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 16.11.10 |
von Michael Lausberg
1 Einleitung
Der lateinische Begriff der tolerantia wurde von Martin Luther als
„Tollerantz“ in die deutsche Sprache übertragen. Der Autor geht in der
nachfolgenden Untersuchung von folgender Definition aus:i
„Toleranz […] bezeichnet allgemein das Dulden oder
Respektieren von Überzeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits als
falsch und normabweichend angesehen werden, andererseits aber nicht vollkommen
abgelehnt und nicht eingeschränkt werden.“
Sie ist nicht gleichbedeutend mit Übereinstimmung, stellt jedoch eine
mögliche Vorstufe zur Akzeptanz dar.
Als Gedanken-, Glaubens- und Gewissenfreiheit hat die Toleranz im
Staatsrecht, in den Grundrechten und in den Menschenrechten zunehmend
Rechtsverbindlichkeit erlangt. Toleranz ist eines der Grundbedingungen für
Humanität und Demokratie bzw. der freien, rationalen Auseinandersetzungen
zwischen konkurrierenden Wahrheits- und Geltungsansprüchen von Erkenntnissen
und Normen.
In dieser Arbeit wird aus Platzgründen
ausschließlich auf die Entwicklung in Europa und Nordamerika eingegangen.
Zunächst wird die der Gedanke der Toleranz in der Antike und im Mittelalter
dargestellt. Anschließend folgt die Auseinandersetzung im Zeitalter von
Reformation und Gegenreformation. Danach wird die Toleranz im demokratischen
Verfassungsstaat beschrieben.
2 Die Idee der Toleranz in der Antike und im Mittelalter
Tolerantia ist seit seinen Ursprüngen in der spätantiken Kirche ein
„Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und christlicher
Gemeinschaftsbildung“ii Als
ein sozialer Relationsbegriff zielt er auf die normative Gestaltung der
Beziehungen unter Menschen. Von diesen Anfängen her enthält der Begriff der
Toleranz „epochenübergreifende, bis zur Gegenwart durchgehaltene
Bedeutungselemente“, zu denen vor allem Geduld und Gerechtigkeit gehören.iii Die
Bedeutungskonstanz steht in einer Wechselbeziehung zu einem langfristigen
Bedeutungswandel, ohne dass sich das Wort selbst verändert. In diesem
Zusammenspiel von Bedeutungskonstanz und Bedeutungswandel spiegelt sich die
Herausbildung der Idee der Toleranz im westeuropäischen Entwicklungsprozess
wieder.
Im römischen Sprachgebrauch umschrieb tolerantia die Individualtugend des
Ertragens von physischem und psychischem Unrecht, ob Folter, Schmerzen,
Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen. Diese Bedeutung wurde von den frühen
Kirchenvätern unter dem Eindruck der Christenverfolgung stärker akzentuiert und
als göttliche Gabe überhöht, die die Christen zur standhaften Erduldung von
Verfolgung und Tod befähigt. Die Schriften des Kirchenvaters Cyprian (200-258)
belegen die sozialethische Ausweitung dieses Tugendbegriffes. Die Geduld wurde
mit dem politischen Fundament der christlichen Liebe verbunden und somit als
„Fundament des Friedens“ und „Band der Eintracht“ begriffen. Diese Eintracht in
der Gemeinde ging verloren, „wenn sich die Brüder untereinander nicht in
gegenseitiger Geduld (…) gewogen sind.“ Der Gleichmut, der sich im Tolerieren
der jüdischen Religion beweisen sollte (sic), würde „Ungläubige“ vom
christlichen Glauben überzeugen. Dieser Charakter der Tugend der Toleranz ergab
sich vermutlich aus Cyprians Konzeption der Kirche als „Liebeskirche“, die im
gemeinschaftlichen Ertragen der Verfolgung bis hin zum Märtyrertod allein die Bestandgarantie
für das Überleben der christlichen Gemeinde sah.iv
Dieser frühchristlichen Tugend der Toleranz kam eine ordnungspolitische
Rolle zu, die allerdings auf den Binnenraum der Gemeinschaft, d.h. die Kirche,
bezogen wurde.
Augustinus verstärkte den Sinngehalt der tolerantia als existentielle Tugend
des christlichen Gemeinschaftslebens. Sie war für ihn eine Grundvoraussetzung
für die Existenz der Kirche sowie der christlichen Gemeinden. Der sündige
Mensch im Diesseits sei auf mitmenschliche Geduld (tolerantia) angewiesen, die
Frieden stifte, indem sie die Menschen sich in ihrer Sündhaftigkeit zu ertragen
und zu lieben erlaube. Nach Augustinus wirkte eine vis tolerantiae (Kraft des
Erduldens) als Gemeinschaftsband in der menschlichen Gesellschaft. Diese These
bezog sich auf die Geschichtstheologie des Augustinus, wo im Diesseits die
weltliche Stadt des Satans und die himmlische Stadt Gottes derart vermischt
seien, dass im irdischen Leben Gut und Böse, Verworfene und Erlöste
unterscheidbar seien.
So verstand Augustinus unter Toleranz „ein von Motiven christlicher Caritas
geprägtes Verhalten, das Mitchristen in ihrer Andersartigkeit erträgt; als
Norm kirchlichen Gemeinschaftslebens Toleranz zur Friedenswahrung- auch
gegenüber Häretikern und Schismatikern verpflichtete.v
Augustinus machte aus dem Begriff der tolerantia „einen gemeinschaftsbildenden
und gemeinschaftserhaltenden Handlungsbegriff“vi Die
Toleranz hat ihre Grenze dort, wo sie ihr Handlungsziel, die Einheit der
Kirche, zu erhalten drohe. Er sprach allerdings in Bezug auf Pagane und Juden
nicht von tolerantia. Für Pagane empfahl er die gewaltfreie Missionierung,
obwohl er öffentliche Maßnahmen gegen Kulte und Tempel unterstützte. Andere
christliche Autoren des Frühmittelalters fassten den Toleranzbegriff weiter als
Augustinus und die Papstkirche. So fand sich in der Geschichtstheologie des
Salvian von Marseille (5. Jh.) der Gedanke, dass Gott diejenigen Häretiker
ertrage, die er der tolerantia für würdig erachtete. Wer sich besseres Wissen
an Gott versündigte, den strafe er entsprechend und diszipliniere ihn schon im
Diesseits.vii
Insgesamt gesehen stellte Augustinus und die christliche Kirche den Wahrheitsanspruch
in keiner Weise in Frage. Tolerantia bedeutete Duldung und Ertragen der
Andersartigkeit, aber niemals Anerkennung der von ihm vertretenen Position oder
seines Verhaltens. Im Hochmittelalter führte zum einen die Differenzierung des
sozialen und religiösen Lebens zur Interpretation der tolerantia im Sinne der
Duldung einer Pluralität der kultischen Praxis und rituellen Gewohnheiten unter
der Voraussetzung der Anerkennung der einen theologischen Wahrheit. Zum anderen
war in diesen geschichtlichen Differenzierungen eine Verschärfung der
existenzbedrohenden innerkirchlichen Spannungen und religionspolitischen
Konfrontationen angelegt, auf die mit einer Einschränkung des Spielraumes der
Toleranz und einem wachsenden Einsatz der öffentlichen Gewalt geantwortet
werden konnte.
Es lassen sich drei Aspekte in der mittelalterlichen Deutung der tolerantia
unterscheiden:viii
1.Die Grenze der Toleranz wurde politisch und juristisch gezogen,
insofern die Kategorien des römischen Rechtes auf häretische Aktivitäten
angewandt und eine entsprechende Gerichtsbarkeit eingeführt wurden. Die
kirchliche Ketzergesetzgebung definierte im Einklang mit den weltlichen
Herrschern seit dem 12. Jahrhundert Häresie als crimen publikum (Staatsverbrechen).
Kaiser Friedrich II. verschärfte diese in der kirchlichen und weltlichen
Gesetzgebung angelegte Tendenz. Der politisch-juristische Kampf gegen die
Häresie und andere Formen abweichenden religiösen Verhaltens (Hexerei, Magie)
wurde verstärkt, um durch öffentliche Zwangsmittel die Rechtgläubigkeit als
religiös-kulturelle Grundlage der Gesellschaft zu bewahren. Während die
Reichweite der tolerantia erheblich eingeschränkt und das Ausmaß der Duldung in
das Ermessen des Papstes gestellt wurde, blieb die offizielle Position
gegenüber Juden und „Ungläubigen“ prinzipiell unverändert, die Praxis der
Verfolgung von Juden und „Ungläubigen“ wurde jedoch erheblich ausgeweitet.
Insbesondere die massenhafte Zwangsmissionierung nichtchristlicher Territorien
aus machtpolitischen Motiven war weit verbreitet.
2.Thomas von Aquin brachte für die Geschichte des Toleranzbegriffes ein
neues Argument. In einer Nebenbemerkung stellte er fest, es sei theologisch
unzulässig, jüdische Kinder aus Zwang zu taufen, da es das Naturrecht der
Eltern verletze. Diese auf das Naturrecht bezogene Interpretation der
tolerantia wurde in der spanischen Scholastik des 16. Jahrhunderts weiter
ausgeführt. De Vitoria bemerkte, dass Unglaube weder das ius naturale noch das
ius humanum aufhebe. Die uneingeschränkte Geltungskraft des Naturrechts machte
die Duldung durch die Kirche hinfällig. De Vitoria sprach deswegen nicht von
der tolerantia und stellte die Idee der Toleranz auf den Boden des
Naturrechtes, auf dem im 18. Jahrhundert die Menschen- und Bürgerrechte der
amerikanischen Revolution begründet werden sollten.
3.Der spätmittelalterliche Aufbruch mystischer Lebens- und Denkformen
beförderte eine in der Kirche präsente intellektuelle Position, die die
Pluralität von Kult und Ritus als Variationen der einen Glaubenswahrheit
deutete. Diese Idee der religio una rituum varietate (eine Religion in der
Verschiedenheit der Riten) wurde von Nikolaus Cusanus (1401-1464) philosophisch
unterfüttert. Er löste das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Bekenntnissen
und Kulten im Sinne einer Toleranz, die die verschiedenen äußeren Formen des
Glaubenslebens als gleichwertige Auslegungen der ihnen gemeinsamen einen
mystischen Gotteserfahrung betrachtete. Der Anspruch des Christentums, im Besitz
der von Gott endgültig geoffenbarten Wahrheit zu sein, blieb in dem Toleranzkonzept
des Cusanus enthalten. Die von ihm als Vision entworfene concordantia
religionum sollte aus einem friedensstiftenden Kommunikationsprozess hervorgehen,
auf den sich alle Religionen einlassen, in dem sie die in ihnen selber
unreflektiert und unausdrücklich enthaltenen Wahrheitsmomente freilegen und
sich deren Verwiesenheit auf die christliche Offenbarungswahrheiten bewusst
machen.ix
Im ausgehenden Mittelalter gewann tolerantia eine allgemeine, d.h. nicht
kirchenbezogene, sozialpolitische Bedeutung. Sie bezog sich auf die Duldung von
sozialen Gruppen in der alteuropäischen Ständegesellschaft, die jenseits der
ständisch-rechtlichen Ordnung leben mussten: Vaganten, Bettler, Sinti und Roma,
Prostituierte etc. Ihre Duldung oder Nichtduldung war in der Regel völlig
willkürlich in das Ermessen der Obrigkeit gestellt.
3 Toleranz im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation
Der politisch-soziale und geistig-kulturelle Umbruch, der im 16. Jahrhundert
ganz Europa erfasst hatte, und die Auflösung der alten Ordnung setzte im
geistig-religiösen Leben Entwicklungen in Gang, die sich aus einer Vielzahl
intellektueller Quellen und Traditionen schöpften und die Freiheit des
Gewissens und der Religionsausübung mit dem Toleranzbegriff verbanden:x
„Die pluralisierende Wirkung gesellschaftlicher
Differenzierungsprozesse stellte an die Duldungsbereitschaft der geistlichen
und politischen Ordnungsmächte erhöhte Anforderungen. Die gesellschaftlichen
Wandlungsprozesse unterminierten gesamtgesellschaftliche Ordnungsbilder und steigerten
überdies die reflexive Tätigkeit des einzelnen; auf diese Weise freigewordene
und freigesetzte Subjektivität führte zur Entstehung persönlicher Freiräume,
(…).“
Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden Prinzipien des Religionsrechtes
festgeschrieben: Sie enthielten das Recht des Landesherren, die Konfession der
Untertanen zu bestimmen, und sicherten die Parität der Religionsgemeinschaften
im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Diese Regelungen bezogen sich auf
Gruppen, nicht auf die Gewissensfreiheit der Individuen. Das Prinzip des
Konfessionsstaates herrschte in ganz Europa vor, obwohl die spezifischen
Formen des Religionsausgleiches und der Umfang der Duldung religiöser
Minderheiten variierten. Die Religionsausgleiche und Toleranzedikte bis in das
18. Jahrhundert verstanden unter Toleranz noch keineswegs die wechselseitige
Anerkennung des jeweiligen Bekenntnisses und den Anspruch auf das
Individualrecht der Gewissens- und Religionsfreiheit. Erst mit der
Toleranzgesetzgebung in Österreich (1781), Preußen (1788/1794) und schließlich
die Begründung verfassungsstaatlicher Ordnungen im Zeitalter der Revolutionen
in den USA und Frankreich wurden die religiöse Parität in der Gleichstellung
religionsverschiedener Bürger eingeleitet und schließlich als naturrechtlich
begründetes Menschen- und Bürgerrecht verfassungsmäßig verankert.xi
Der Toleranzbegriff verlor seinen glaubens- und kirchenpolitischen Bezug und
wandelte sich zu einem allgemeinen ordnungspolitischen Prinzip.
4 Die Toleranz im modernen demokratischen Verfassungsstaat
Die Herausbildung der modernen Idee der Toleranz war kein notwendiges
Prinzip der westeuropäischen Geschichte, sondern das Resultat einer prinzipiengeleiteten
und ordnungspolitischen Entscheidung im Zuge der nationalen Identitätsbildung
in der westeuropäischen Staatenwelt, der der demokratische Verfassungsstaat
seine Entstehung verdankte.
In der politischen Theorie der so genannten politiques („Politiker“) und
ihres Wortführers Jean Bodin wurde diese Position erstmals ausgearbeitet als
Antwort auf die französischen Konfessionskriege des 16. Jahrhunderts. Die
„Politiker“ hielten das konfessionsstaatliche Prinzip „ein Glaube, ein Gesetz,
ein König“ für undurchführbar. Zwar habe die Regierung die Pflicht, die
etablierte Religion eines Gemeinwesens zu verteidigen, aber die Sicherung des
Friedens und der inneren Ordnung sei ein höherwertiges Gut.xii
Nicht die staatlich erzwungene Rechtgläubigkeit, sondern das Zusammenwirken
der Bekenntnisse in ihrer unterschiedlichen Deutung der göttlichen Wahrheit
gewährleistete das öffentliche Wohl, auf das Herrscher und Untertanen verpflichtet
waren. Das wechselseitige Recht auf Duldung und Anerkennung unter der
Voraussetzung der Wahrung des inneren Friedens und der Loyalität zum
politischen Gemeinwesen generalisierte die Idee de Toleranz.
Das humanistisch-naturrechtliche Paradigma des politischen Gemeinwesens
wurde in der Folge auf vielfältige Weise in England (Milton, Harrington,
Locke), den Niederlanden (Spinoza), Deutschland (Pufendorf, Thomasius),
Frankreich (Montesquieu, Rousseau) und den USA (Jefferson, Madison, Adams)
fortentwickelt. Wo immer aber die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen
politisch-kulturell, d.h. durch Bürgerrechte definiert wurde, erstreckte sich
die Toleranz auf alle Glieder des politischen Verbandes, solange sie die
gemeinsamen Prinzipien des politischen Lebens respektierten.xiii
Erstmals durchdacht wurde diese ordnungspolitische Voraussetzung einer
Institionalisierung der Toleranz in den Schriften John Lockes zum Ausgang des
17. Jahrhunderts. Seine Argumentation verdeutlichte das ideengeschichtliche
Traditionsfundament, auf dem das verfassungsstaatliche Prinzip der Toleranz
aufbaute. Locke trennte den Bereich der politischen Machtausübung, das civil
government, vom Bereich der Religion. Politische Herrschaft, die für Locke
staatsbürgerliche Volksherrschaft war, bezog sich auf die bürgerlichen
Interessen von Leben, Freiheit, Gesundheit, körperlicher Unversehrtheit und
Eigentum. Die Toleranz der politischen Macht erstreckte sich grundsätzlich auf
alle Formen der privaten Vergesellschaftung. Darüber hinaus waren die Kirchen
und die Sekten ebenso wie jede private Person zu gegenseitiger Toleranz
verpflichtet. Öffentliche Gottesleugner, Atheisten konnten sich nicht auf die
Toleranz berufen. Denn Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der
menschlichen Gesellschaft ausmachten, hatten keine Verbindlichkeit für
Atheisten. Wer die Religion unterminierte, konnte sich laut Locke nicht auf das
Privileg der religiösen Toleranz berufen.xiv
Diese Position Lockes wirkte noch im Verfassungsdiskurs des ausgehenden 18.
Jahrhunderts und 19. Jahrhunderts fort.
Die Philosophen und Autoren der Aufklärung, besonders Voltaire und Lessing
verhalfen wohl der religiösen Toleranz nachdrücklich zum Durchbruch und waren
von großem Einfluss auf die westlichen Gesellschaften.xv
Lessing war ein vielseitig interessierter Dichter, Denker und Kritiker. Als
führender Vertreter der deutschen Aufklärung wurde er zum Vordenker für das
neue Selbstbewusstsein des Bürgertums.
Der Gedanke der Freiheit - für das Theater gegenüber der Dominanz des
französischen Vorbilds, für die Religion vom Dogma der Kirche - zieht sich wie
ein roter Faden durch sein ganzes Leben. Folgerichtig setzte er sich auch für
eine Befreiung des aufstrebenden Bürgertums von der Bevormundung durch den Adel
ein. In seiner eigenen schriftstellerischen Existenz bemühte er sich ebenfalls
stets um Unabhängigkeit.
In seinen religionsphilosophischen Schriften argumentierte Lessing gegen den
Glauben an die Offenbarung und gegen das Festhalten an den „Buchstaben“ der
Bibel durch eine herrschende Lehrmeinung.xvi
Dem gegenüber vertraute er auf ein „Christentum der Vernunft“, das sich am
Geist der Religion orientierte. Er glaubte, dass die menschliche Vernunft,
angestoßen durch Kritik und Widerspruch, sich auch ohne die Hilfe einer
göttlichen Offenbarung entwickeln werde. Um eine öffentliche Diskussion gegen
die orthodoxe „Buchstabenhörigkeit“ anzuregen, veröffentlichte er in den
Jahren 1774 bis 1778 sieben Fragmente eines Ungenannten, die zum so
genannten Fragmentenstreit führten. Sein Hauptgegner in diesem Streit war der
Hamburger Pastor Johann Melchior Goeze, gegen den Lessing unter anderem als Anti-Goeze
benannte Schriften von Hermann Samuel Reimarus herausgab.
Außerdem trat er in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Vertretern
der herrschenden Lehrmeinung (z.B. im Anti-Goeze) für Toleranz gegenüber
den anderen Weltreligionen ein. Diese Haltung setzte er auch dramatisch um in
dem Drama Nathan der Weise, als ihm weitere theoretische
Veröffentlichungen verboten wurden. In der Schrift Die Erziehung des
Menschengeschlechts legte er seine Position zusammenhängend dar.xvii
Erst als die Ordnungsgehalte der Verfassung selbst im Rechts- und
Verfassungsstaat der staatsbürgerlichen Loyalität geworden waren, wurde auf die
explizite Verpflichtung des einzelnen Bürgers auf eine transzendente Begründung
der Grundnormen verzichtet. Die Toleranz wurde nun uneingeschränkt auf alle
Staatsbürger und, rechtlich eingeschränkt für alle Nichtstaatsbürger im
Geltungsbereich der Verfassung, ausgedehnt. Die Grenze der Toleranz war
politisch-pragmatisch definiert durch die Forderung nach Anerkennung der
friedensstiftenden Verfassung in ihrer Form und in ihrem Geist. Insofern aber
der demokratische Verfassungsstaat im Ethos seiner Bürger allein lebendige
Wirklichkeit gewann, bedurfte das rechts- und verfassungsstaatlich normierte
Toleranzprinzip einer Verankerung im Sozialverhalten der Bürger selbst. Als
Bürgertugend beruhte die Toleranz auf dem
„Gegenseitigkeitsprinzip, durch das sich die Menschen
untereinander als gleichberechtigt in ihrer Menschenwürde anerkennen.xviii
Toleranz ist in der Tat selber so etwas wie ein Dogma der Humanität. Ein Dogma
(…) der Geselligkeit. Geselligkeit ist das rechte Verhältnis freier Individuen,
das rechte Verhältnis wirklicher Menschen.“
5 Fazit
Die Toleranz ist eine Handlungsregel für das Geltenlassen der religiösen,
sozialen, politischen und philosophischen Überzeugungen, Normen und Wertsysteme
sowie der ihnen entsprechenden Handlungen Andersdenkender. Die moderne
westliche Idee der Toleranz ist untrennbar mit der Geschichte der christlichen
Kirche, der durch die Bipolarität von Sacerdotium und Imperium bestimmten res
publica christiana des westlichen Mittelalters, mit der Entwicklung der
nachreformatorischen Christentümer sowie der Formierung des modernen Staates
verknüpft. Aber erst die Umbildung des alteuropäischen Staates in ein
konstitutionelles Regime und dessen Fortbildung zum demokratischen
Verfassungsstaat löste die Idee der Toleranz aus dem religionspolitischen
Kontext und verallgemeinerte das Prinzip der Toleranz in politischer und
sozialer Hinsicht.
6 Literatur
- Augustin, C./Wienand, J./Winkler, C.: Religiöser Pluralismus und Toleranz
in Europa, Wiesbaden 2006
- Barner, W. u.a.: Lessing.
Epoche-Werk-Wirkung, 6. Auflage, München 1998
- Broer, I./Schlüter, R.: Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996
- Forst, R.: Toleranz, in: Sandkühler, H. J. (Hrsg.): Enzyklopädie
Philosophie, 2. Bände, Hamburg 1999, S. 1627-1632
- Gutsche, R.: Frankreich, Berlin 1988
- Hildebrandt, D.: Lessing. Biographie
einer Emanzipation, München 1982
- Locke, J.:A Letter
Concerning Toleration (1689), in: Works VI, London 1823, S. 5-58
- Schweizer, G.: Ungläubig sind immer die anderen, Stuttgart 1990
- Schmiedinger, H. (Hrsg.): Wege zur Toleranz. Geschichte einer europäischen
Idee in Quellen, Darmstadt 2002
- Schreiner, K./Besier, G.: Toleranz, in: Brunner, O. u.a. (Hrsg.):
Geschichtliche Grundbegriffe VI, Stuttgart 1990, S. 445-605
- Sternberger, D.: Toleranz als Leidenschaft für Wahrheit, in: Schriften 9,
Frankfurt/M. 1988
- Strohschneider-Kohrs, I./Niemeyer, M.: Vernunft als Weisheit. Studien zum
späten Lessing, Frankfurt/Main 1998
- Schwöbel, C./von Trippekskirch, D.: Die religiösen Wurzeln der Toleranz,
Freiburg im Breisgau 2002
i Forst, R.: Toleranz. in: Sandkühler
H.J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. 2 Bände, Hamburg 1999, S. 1627–1632,
hier S. 1627.
ii Schreiner, K/Besier, G.: Toleranz,
in: Brunner, O. u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe VI, Stuttgart 1990,
S. 445-605, hier S. 450.
iii Ebd., S. 532.
iv Schmidinger, H. (Hrsg.): Wege zur
Toleranz. Geschichte einer europäischen Idee in Quellen, Darmstadt 2002, S.
45f.
v Schreiner,/Besier,: Toleranz, in:
Brunner, O. u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe VI, a.a.O., S. 445-605,
hier S. 542.
vi Ebd., S. 543.
vii Augustin, C./Wienand, J./Winkler,
C.: Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Wiesbaden 2006, S. 78.
viii Schwöbel, C./von Trippekskirch, D.:
Die religiösen Wurzeln der Toleranz, Freiburg im Breisgau 2002, S. 67ff.
ix Schreiner,/Besier,: Toleranz, in:
Brunner, O. u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe VI, a.a.O., S. 445-605,
hier S. 461.
x Ebd., S. 527.
xi Broer, I./Schlüter, R.: Christentum
und Toleranz, Darmstadt 1996, S. 167.
xii Gutsche, R.: Frankreich, Berlin
1988, S. 78f.
xiii Schweizer, G.: Ungläubig sind immer
die anderen, Stuttgart 1990, S. 35f.
xiv Locke, J.:A Letter Concerning Toleration (1689), in: Works VI, London 1823, S. 5-58.
xv Barner, W. u.a.: Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 6. Auflage,
München 1998, S. 12.
xvi Hildebrandt, D.: Lessing.
Biographie einer Emanzipation, München 1982, S. 34.
xvii Strohschneider-Kohrs, I./Niemeyer,
M.: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing, Frankfurt/Main 1998, S.
24.
xviii Sternberger, D.: Toleranz als
Leidenschaft für Wahrheit, in: Schriften 9, Frankfurt/M. 1988, S. 164f.
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