Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 17.07.09 |
von Ulrich Büchler
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den
eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese
Chance beruht.“[1]
„Die fast unlösbare Aufgabe
besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht
sich dumm machen zu lassen.“[2]
Grundprämisse: der etymologische Kontext der Macht
Der Begriff Macht bezeichnet
etymologisch ein Können des Menschen: ein komplexes Vermögen im Rahmen sozialer
Interaktion gezielt auf Verhältnisse einzuwirken und dabei eigene Interessen
durchzusetzen.[3]
Als zielgerichtetes Können erwächst Macht aus der Grunddynamik menschlicher
Realität, die sich effektiv im Sein und Haben versammelt. Diese Dynamik
fungiert als selbstverständliche Voraussetzung jeder Macht. Das Sein und das
Haben, die Modi der Grunddynamik, vollziehen sich selbst in kausaler Relation:
wie das Können aus dem Sein und Haben, so geht das Haben aus dem Sein als
absolutem Modus der Grunddynamik hervor.
Die Macht, das auf die Durchsetzung
eigener Interessen gerichtete Können, verweist aber zuerst auf das Haben als
unmittelbarer Voraussetzung: jegliches Können des Menschen ist auf ein Haben
gegründet. In Relation zum Sein des Menschen, das sein individuelles Dasein und
Sosein bezeichnet, versteht sich das Haben als sein individuelles Verfügen.
Macht als ein Vermögen, Verhältnisse wirksam zu beeinflussen, setzt somit ein
Verfügen über reale eigene Mittel voraus, seien es materielle, finanzielle,
ideelle und/oder andere Mittel.
Das quantitative und qualitative
Ausmaß des Vermögens richtet sich wiederum nach dem des Verfügens als
prinzipieller Ausgangs- und Bezugskategorie. Empirisch besteht insofern strenge
Kausalität, als das Maß des Verfügens im Sinne des Habens das Maß des Vermögens
im Sinne des Könnens sachlogisch determiniert: wenig Macht hat, wer über wenig
Mittel verfügt, viel Macht hat, wer über viele Mittel verfügt. Im Extrem
gesehen: alle Macht hat, wer über alle Mittel verfügt, keine Macht hat, wer
über keine Mittel verfügt.
Grundprinzip des Ökonomismus: das dialektische Wesen der Macht
Der Ökonomismus ist heute das
metaphorische Phänomen der Macht schlechthin. Im Bund mit allen Erzeugnissen
rationalen Denkens und Handelns unterliegt auch das ökonomistische Projekt
jener signifikanten Dialektik, der zufolge die Vernunft des Menschen stets
zugleich sein mündiges, freies und unmündiges, unfreies Dasein erwirkt. Das
heißt analog, dass seine Selbstermächtigung immer auch seine Selbstentmachtung
einleitet: weil das ökonomistische Konzept die Freiheit erschließt, sich
ökonomisch verhalten und betätigen zu können, jenseits kultureller wie
moralisch-religiöser Tradition, schließt es kehrseitig wie von selbst die
Unfreiheit ein, sich ökonomisch verhalten und betätigen zu müssen.
Das Prinzip der Dialektik, der
Widerstreit von Position und Negation, den die Vernunft stets neu entfacht und
austrägt, durchdringt und bestimmt alles menschliche Sein und Haben. Diese
Grundspannung besteht darum unbedingt - weswegen die Dialektik rationalen Gewinns
und Verlusts ökonomischer Handlungsfreiheit nur ein Abbild von ihr darstellt.
Davon abgesehen gibt sich das Wesen der Macht überhaupt darin zu erkennen, dass
sie allemal ihr Gegenteil hervorruft und so der Ohnmacht konditional Vorschub
leistet: das auf die Durchsetzung eigener Interessen gerichtete Können erzeugt
ein Müssen, sofern und sobald der Kontext, das Interesse und Ziel es rational
erfordern.
Ökonomismus total: Ein Phänomen auf dem Siegeszug!
Das negative Moment der Dialektik,
das Umschlagen in unfreie Denk- und Verhaltensweisen, bildet gleichsam die
Kehrseite des ökonomistischen Projekts, die seit jeher das positive Moment
flankiert und obendrein dessen vollmundiges Freiheitsversprechen konterkariert.
In der Substanz unberührt, befindet sich das Projekt bis heute auf einem
Siegeszug - und zwar nicht nur insoweit, als es die materielle Realität des
Menschen in Gestalt unzähliger Erzeugnisse durchdringt, sondern, was mehr
zählt, insoweit, als es die kulturelle Deutungshoheit über die Realität selbst
behauptet.[4]
Zugespitzt formuliert: der Ökonomismus offenbart die ideologie-typische
Tendenz, die mehrdimensional-komplexe Lebensrealität des Menschen zu
verleugnen, um das eigene eindimensionale Realitätskonzept absolut zu setzen.
Damit erlangt nur mehr die Realität Realitätsstatus, die ökonomischen Vorgaben
entspricht. Alle übrige, also die inkompatible Realität, die wiederum unzählige
Varianten vereint, bleibt ausgeschlossen, weil sie kalkulatorisch irrelevant
und darum im Prinzip irreal ist.
Der systemimmanente Totalanspruch
auf die Erschaffung von Realität sowie auf die monopolistische Ernennung und
Deutung dessen, was überhaupt real und somit relevant ist, zeugt von einem
kulturgeschichtlich singulären Machtanspruch. Faktisch ist das Generalspektrum,
die universale Summe menschlicher Realität, in den Selektionsfokus einer
reduktionalen Weltsicht geraten. Die zweckrationale, einzig auf sich selbst
bedachte Sicht aller Dinge zielt total darauf ab, ein Realitätsverständnis und
spiegelbildlich ein Selbstverständnis des Menschen zu etablieren, das in höchst
möglichem Maße ökonomischen Kriterien unterliegt. Letztlich verengt sich der
Verständnishorizont des eigenen Lebens mitsamt seinen modalen Determinanten: so
wie das eigene Sein und Haben, so sind auch das eigene Können, das Müssen, das
Wollen, das Sollen und Dürfen mehr und mehr vom Diktat der Ökonomie erfasst,
der imperativen, weil exklusiven Maxime des Marktes verpflichtet.
Ökonomismus spektral: ein Phänomen auf dem Maskenzug!
Die im Kern hegemonialen Ambitionen
des ökonomistischen Projekts erscheinen insofern verhüllt, als es sich im
alltäglichen Umgang meisterlicher Maskerade bedient. Sein Siegeszug ist
zugleich ein spektraler Maskenzug, ein Sieg facettenreicher Verkleidung. Dabei
spiegelt das Facettenspektrum nur die systemeigene Adaptivität: je nach
Kontext, Interesse und Ziel firmiert das Projekt mal im Zeichen trivialer
Privatisierung und Deregulierung, mal im Zuge radikaler Rationalisierung und
Budgetierung, mal im Namen pauschaler Modernisierung und Optimierung, oder
schlicht im Sinne funktionaler Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller
öffentlichen Gesellschaftsbereiche. Was immer die Masken, Roben und Embleme
besagen, schlussendlich geht es immer um das gleiche: die Eliminierung marktfremder
und Implementierung marktkonformer Prinzipien in Staat und Gesellschaft - wenn
irgend möglich an allen Orten, zu allen Zeiten, mit allen Mitteln, mit aller
Macht.
Der Variantenreichtum des
Marktprinzips steht zugleich in tiefem Kontrast zu der Rollenarmut, die es dem
einzelnen Menschen aufzwingt. Grund- und festgelegt ist die künstlich
gefertigte Armut an Rollen durch die gezielte begriffliche Wahrnehmung des
Menschen in der gesellschaftlichen Interaktion. Das Zeitalter marktstaatlicher
Tendenzen verzeichnet es explizit als normal, die vielzähligen Rollen des
Menschen im öffentlichen Raum auf eine einzige Rolle einzuschränken und in der
Semantik des Marktes summarisch zu fassen. Dieses reale Phänomen drastischer
Eingrenzung und Verengung resultiert aus einer vorrangig ökonomietheoretischen
Betrachtung und semantisch analogen Umwandlung der menschlichen Person: vom
Bürger - mit Anspruch auf staatliche Leistungen, sei es als Kind, als Schüler
und Student, als arbeitsloser, als niedrig entlohnter, als kranker, als
behinderter, bedrohter oder überhaupt irgendwie bedürftiger Mensch - zum Kunden.
Exkurs: kolossale Sprachverwirrung - der Begriff „Kunde“
Der Rollenumwandlung geht eine
Verwirrung einher, die der Kundenbegriff zweifach auslöst. Zum einen damit, dass
der Begriff suggeriert, der Bürger sei kraft seines Bürgerseins ermächtigt,
staatliche Leistungen souverän in Anspruch zu nehmen, obwohl der
Inanspruchnahme selbst keine wirklich souveräne Entscheidung vorausgeht. Denn
wer von Leistungen anderer abhängt, trifft gerade keine freien Entscheidungen.
Zum anderen nährt der Kundenbegriff die Illusion, dass die Bedürfnisse des
Bürgers im Fokus stehen, obwohl doch tatsächlich der staatliche Anspruch auf
eine irgendwie normierte, aber vorrangig monetär gefasste Gegenleistung mehr
und mehr Raum fordert. Als Kunde nur rhetorisch hofiert, gerät der Bürger ins
Visier eines an sich zahlungsschwachen, weil verschuldeten Staates, der seine
Leistungen detailgetreu berechnet. Und das heißt: nur wer zahlt oder genug zahlt,
ist Kunde - wer nicht oder nicht genug zahlt, ist kein Kunde.
Ökonomismus real: Ein Phänomen
auf dem Feldzug!
Das ökonomistische Modell zielt in
allen Varianten seiner Maskerade letztlich auf ein Machtmonopol zwecks
exklusiver Erschaffung und Deutung menschlicher Realität. Kein Maskenbild
verschleiert indes die autoritären Ambitionen so perfekt wie das der
Liberalisierung, die allseits Tore der Freiheit verheißt, aber nirgends
aufschließt. Denn jede staatliche Beseitigung bloß hypothetischer Beschränkungen
wirtschaftlicher Handlungsfreiheit erweitert nur einseitig die Spielräume des
Kapitals. Der pausenlos gepriesene Freiraum des Menschen entsteht nur
fiktional, niemals faktual. Im Gegenteil: die Entgrenzung und Entfesselung des
Marktes, der angeblich freie Wettbewerb, das angeblich freie Spiel der Kräfte
macht letztlich alle, die am Marktgeschehen teilnehmen, zu unfreien Menschen.
Wie sollte es anders sein: freier Wettbewerb erzeugt nichts anders als Zwang
zur Konkurrenz, zur Selektion und Exklusion. Und auch das freie Spiel der
Kräfte ist nichts als Postulat, eine pseudo-rationale Legitimation des freien
Marktes selbst - samt der Kluft zwischen arm und reich.
Der Maskenzug des Ökonomismus
gleicht insofern immer einem realen Feldzug. Im Namen sinnentleerter Freiheit
vollzieht sich ein offenkundig irrationaler Prozess selbst- und fremdbestimmter
Unterwerfung des Menschen unter perfekt rationale Prinzipien der Ökonomie.
Dieser Prozess erfasst alle, zeitigt aber für die allermeisten diametral
gegensätzliche Resultate, je nach Maß des Zwangs, am Spiel der Kräfte
teilzunehmen. Ohne Frage: sozial-ökonomisch besehen, ist und bleibt es ein
unermesslicher Unterschied, ob jemand Gewinner oder Verlierer dieses ein und
desselben Spiels ist - ob jemand an der relativen Unsicherheit seines Reichtums
oder an der absoluten Sicherheit seiner Armut verzweifelt. Fest steht, dass
dieses Spiel per se weder andere Regeln kennt noch zulässt. Denn darauf gründet
das System: dass die Macht und die Mittel zu ihrer Gewinnung und Ausübung
ungleich verteilt sind, dass die immense Macht- und Mittelfülle der
allerwenigsten Menschen notwendigerweise einen immensen Mangel der allermeisten
systematisch verursacht und verfestigt.
Ökonomismus fatal: Ein Phänomen
auf dem Rückzug?
Das Dauermissverhältnis von Fülle
und Mangel bezeichnet die normale, weil unvermeidliche soziale Schieflage des
Systems, das gleichsam relative Chaos im ökonomistischen Kosmos. Das totale
Chaos tritt zyklisch ein: von Zeit zu Zeit stürzen die Gewinner der Missstände
sich selbst und alle Verlierer in eine Krise - unlängst in eine Krise horrender
Dimension. Und das nicht etwa im toten Winkel der Politik, sondern in ihrem
Wissen und mit ihrem Zutun! Denn zumindest im Rechtsstaat kann sich ökonomische
Macht legal nicht unabhängig von politischer Macht, sondern überhaupt nur
deswegen entfalten, weil ihr der Staat selbst Raum zur Entfaltung gewährt. Die
gegenwärtig schwerste Systemkrise der Nachkriegszeit ist darum zuerst eine
politische Krise, weil sie ein eminent politisches Versagen abbildet.[5]
Der Versuch politischer Instanzen,
die eigene Alleinverantwortung für die Entfesselung der Marktmächte
abzustreiten, um sodann die dadurch ausgelöste Krise diesen Mächten selbst
anzulasten, erscheint bestenfalls als Fluchtversuch in groteskes Theater.
Abseits der Bühne ist eines klarzustellen: die Politik trägt nicht nur eine
aktuelle Hauptverantwortung für das fatale Chaos, sondern eine generelle
Hauptverantwortung für das Marktsystem und sein Reglement. Und natürlich auch
für die Zumutungen des Reglements im Sinne des Ökonomismus! Nun während der
Krise aber zu meinen, der Siegeszug des ökonomistischen Projekts münde direkt
in seinen Rückzug, ist freilich naiv. Auf die Kapitulation folgt allemal die
Restauration des Systems. Wiewohl die Politik natürlich alles versucht,
zumindest Rückzugsscheingefechte zu inszenieren - medial befördert, um die
Blicke von sich weg-, auf die globalen Konzerne hinzulenken, auf die Zentralen
der Macht und ihre gierigen Topversager. Auch das ist groteskes Theater,
Staatstheater par excellence.
Exkurs: Kolossale
Sprachverwirrung - der Begriff „Gier“
Die scheinbar harte Kritik, die
gerade die deutsche Politikelite am Management globaler Konzerne anbringt, ist
nichts als Treibstoff für ein zähes Gerichtsspiel um Schuld und Unschuld am
Krisenchaos. Das Scheinurteil ist je und je schon immer gefällt, sobald ein
einziges Stichwort - die Gier, die Habgier - ertönt und alles Rampenlicht auf
den Scheindeliquenten zieht. Dabei wäre alles Spiel umsonst, würde das Gierurteil
nicht auf den stetigen Neidimpuls der Massen treffen, der dem Gerichtsspiel ein
Dauerinteresse sichert. Und das Gerichtsspiel selbst wäre längst nicht so
effektvoll, wenn es nicht auch als Verwirrspiel um den Begriff der Habgier zu
faszinieren wüsste. Allerdings: Verwirrung stiftet nicht der Begriff, sondern
seine Benutzer, die ihr Theaterurteil moralisch instrumentalisieren:
einerseits, um mit der Habgier das Böse zu brandmarken, anderseits, um dadurch
Gut und Böse, das eigene, politische und das fremde, ökonomische Lager
dualistisch zu trennen. Aber damit aber nicht genug.
Das politische Ensemble ignoriert
überhaupt, dass die Gier als Begriff und Lebenstrieb keine Trennung in
Varianten zulässt. Oder wollte irgendwer behaupten, dass die Habgier als böse
und die Wissbegier als gute Variante fungieren? Nein, es ist weder möglich,
diesen Gegensatz aufzubauen, noch auch redlich, die menschliche Gier nur simpel
zu kritisieren. Denn kritikwürdig an sich ist sie nicht: im Ressourcenreich des
Menschen muss sie trotz aller Vorbehalte als unabkömmlich gelten, als
Triebkraft, ohne die jegliche Entwicklung illusorisch ist. Wirklich
kritikwürdig ist jedoch das Kritiktheater um die Habgier, das einzig darauf
abzielt, die Massen im Schein zu blenden und die Schuld für das Chaos zu
verschleiern. Das ist zutiefst unredlich, zumal der Verlauf und das Ende des
Spektakels schon feststehen: die billige Habgierkritik mündet alsbald in
billige Erklärungen, die als Entschuldigungen getarnt sind, gefolgt von
billigen Begnadigungen zwecks hastiger Restauration der Verhältnisse und
stetiger Abstraktion ihrer ursächlichen Defizite: business as usual - bis zum
nächsten Mal.
Rollendiffusion: Politik vor der
Systemkrise
Die Rolle des Politikbetriebs im
Vorstadium des totalen Chaos ist klar zu fassen, wenngleich das Ensemble seiner
deutschen Protagonisten alle Spuren zu verwischen sucht. Der Rückblick lehrt,
dass die Regierungspolitik jeglicher Couleur sich nicht damit begnügt hat, nur
die angeblich unvermeidlichen Folgen des Ökonomismus zu kommunizieren, sondern
dessen Ideologie selbst zu protegieren. Da nutzt aller Schleier nichts: Zu
lange hat die Politik selbst die einfältige Schleifenbotschaft abgesetzt, der
zufolge der Staat so ungefähr nichts und der Markt so ungefähr alles zu richten
vermöge - wenn man ihn nur ließe. Zu laut hat sie das freie Spiel der Kräfte
gepriesen und sich nur allzu bereit unter sein quasi-metaphysisches Regelwerk
begeben. Vollends entblößt hat sich die Politik jedoch mit ihrem
Ökonomiejargon, der den Menschen allein auf seine Funktion im System degradiert.
Der Jargon lässt nichts an
Präzision vermissen. Das Politikmedium teilt allen Bürgern durch
Schlagwort-Sprache exakt ihre Funktion und Relevanz im System mit. So reicht
das Spektrum von suggestiv neutralen Worthülsen wie „Kunde“ und „Konsument“
über technokratische Phrasenschablonen wie „Leistungsträger“ und „Kostenfaktor“
bis hin zu puristischen Selektionsvokabeln wie „Besitzstandswahrer“ und
„Sozialschmarotzer“. Im Olymp der Unworte sogar residieren die preisgekrönte
„Ich-AG“ und das ebenfalls preisgekrönte „Humankapital“. Wiewohl der „Ich-AG“
intern ein Vorrang gebührt, weil sie kunstbegrifflich ökonomie- und
politikideologische Aspekte vollendet vereint: ein synthetisch perfektes
Synonym für staatlich goutiertes Unternehmertum in eigenster Sache. Diese
Topversion ökonomistischer Menschensemantik indiziert bis heute die
selbstgefällige Rollendiffusion der Politik. Durch Koketterie mit dem Zeit- und
Marktgeist, durch Mitfiebern im Spiel der freien Kräfte hat sie Jahr für Jahr
ihre Generalverantwortung für das ökonomische Ganze verdrängt: das Regulieren,
Korrigieren und Kontrollieren ökonomischer Prozesse kraft staatlicher
Zwangsrechte - im Interesse wie zum Wohle aller.
Rollenkonglomeration: Politik in
der Systemkrise
Das Ergebnis marktseliger
Selbstverblendung steht nun fest und verlangt nun seinerseits jenes fulminante
Theater zur Blendung der Massen. Im satten Licht des Scheingerichts gerät das
Volk in amnestische Zustände. Längst vergessen ist das blinde Schalten und
Walten der Politik im Sinne der Ökonomie, längst vergessen, dass sie die Büchse
der Pandora selbst geöffnet, die Marktmächte entfacht, sich als Marktschreierin
verdingt, den Staat in ein Unternehmen und die Bürger zu Kunden verwandelt hat.
Alles ist neu, alles ist anders. Ob nun irgendetwas besser wird, ist zu
bezweifeln. Nicht nur, weil die Politik bislang ihre Generalverantwortung für
die Systemkrise leugnet und wegschiebt, sondern auch, weil das Krisenchaos
international eben die staatlichen Finanzressourcen zu verschlingen droht, die
zur globalen Wende der ohnehin kritischen sozial-ökologischen Gesamtsituation
unbedingt erforderlich sind.
Die schlichte und doch wuchtige
Lehre aus der der Krise ist durch politisches Blendwerk aber nicht infrage
gestellt, sondern nur bestätigt: der Markt regelt nichts, wenn nicht die
Politik den Markt regelt. Und subtil ergänzt: je freier der Markt definiert
ist, umso stärker muss die Politik ihn regulieren, korrigieren und
kontrollieren. Ansonsten ist das Chaos perfekt, was kaum verwundert.
Dialektisch besehen ist es nur logisch, dass jegliche Freiheit, um nicht in
Willkür abzugleiten, einer Instanz bedarf, der sie sich zu verantworten hat.
Entzieht sich die Instanz, wie über Jahre geschehen, ihrer Kontrollverantwortung,
oder paktiert sogar blindlings mit den Mächten der Freiheit, so ist es nur eine
Frage der Zeit, bis die Dialektik ihren Zwangstribut fordert. Darum verlangt
die frühere Aktion gigantischer Entfesselung des Marktes heute nach einer Aktion
gigantischer Rettung. Nein, faktisch fordert sie mehr. Eine weit gigantischere
Aktion, weil Systeme, die nicht beizeiten gewartet und gepflegt werden, sich
selbst verschleißen, um daraufhin eine umso intensivere Reparaturleistung zu
erzwingen. Genau so ergeht es der Politik. Zuvor in Sphären seliger Diffusion
entschwunden, ist sie nun gefordert, ein Konglomerat an Rollen zu übernehmen.
Nun gilt: so viel Regulieren, Korrigieren, Kontrollieren war noch nie - zumal
neben dem Geschäft ganz ordinären Regierens.
Rollenkonzentration: Politik im
Zeitalter der Krisen
Die lastvollen Aktionen zur
Marktrettung bilden indes nur eine müde Trainingseinheit für die echten
Kraftaktionen, die der Politik noch bevorstehen, wenn sie die weltökologische
Situation weiterhin wie zuvor die marktökonomische außer Kontrolle geraten
lässt. Zumal die Dialektik von Nicht-Kontrolle und Total-Kontrolle für das
Ökosystem der Welt natürlich ebenso zutrifft wie für das System der
Marktökonomie. Nur mit dem exorbitanten Unterschied, dass ein Markt allemal
ersetzlich, die eine Welt dagegen unersetzlich ist.
Der Einsatz höchster Geldsummen zur
Rettung des Marktes lässt schon Böses erahnen. Denn die eine, einmal zugunsten
ökonomischer Zwecke vergebene Summe ist zugleich die eine, ein für allemal
zulasten ökologischer Zwecke verbrauchte Summe. Es erscheint so absurd wie
fa-tal: die Politik setzt das System, nachdem es sich selbst abgesetzt hat, im
Kern wieder ein und verhilft dem Markt so im Moment seiner schwersten
Niederlage zu seinem größten, weil leichtesten Sieg - koste es, was es wolle,
und sei es die Welt. Nun vollendet die Politik, was das System von sich aus
niemals vollbrachte: die Unkultur des Ökonomismus derart absolut zu setzen,
dass alles andere zu seiner dienstbaren Restgröße verkommt: der Mensch, alle
Kultur und Natur, die Welt überhaupt. Und natürlich sie selbst, die Politik
gerade mit!
Der aktionistische
Interventionismus der Politik im Zuge der Marktrettung beweist darum
keinesfalls ihre souveräne Machtentfaltung, sondern nur ihre selbstbesiegelte
Unterwerfung unter die Hoheit der Ökonomie. Als mutwillige Heldin betritt sie
die Bühne des Staatstheaters, das totale Chaos zu moderieren, um sodann das
Schauspiel als willfährige Kapitalmagd zu verlas-sen. Dieser Rollenzuschnitt
provoziert nur zu Recht das Urteil, dass die Politik für alles und nichts zu
haben ist. Zugegeben - ihr Interventionismus zeigt an, dass sie sich, falls die
Situation es erfordert, in Superlativen zu bewegen vermag: in kürzest möglicher
Zeit äußerst dringliche Beschlüsse zu fassen, um höchst unheimliche Geldsummen
bestmöglich einzusetzen. Aber was nutzt diese primär quantitative Leistung ohne
ein langfristiges politisches Qualitätskonzept? Nichts! Der Politik bleibt
darum keine Wahl: im Zeitalter der Dauerkrisen muss sie sich trotz und gerade
wegen aller Rollenkonglomeration auf ihre Hauptrolle konzentrieren: ihre
sozial-ökologische Schutzverantwortung für die Lebenswelt. Andernfalls bliebe
nur mehr ein markiger Superlativ der Absurdität: der Markt ist gerettet, die
Welt verloren.
Ausblick: Krise - Wahlkampf -
Sensationen. Ein Gerichtsspiel in zwei Akten
Die Forderung nach Konzentration
klingt freilich zur Zeit naiv. Zu aufgeladen ist die Atmosphäre, als dass eine
reflektierte, nachhaltige Politik realistisch erscheint. Faktisch bilden das
Krisenchaos und der Wahlkampf zur Bundestagswahl im Herbst je für sich genommen
bereits Ausnahmezustände; miteinander multipliziert, ergeben sie einen famosen
Zustand politischer Abnormität. Durch die großkoalitionäre Restdisziplin noch
gemildert, derzeit in Umrissen wahrzunehmen, wird dieser Zustand in der heißen
Phase des Wahlkampfs voll hervortreten. Dann endlich ist Zeit zur Abrechnung,
Gerichtszeit im Staatstheater.
Der erste Akt zeigt klar verteilte
Rollen: hier das gute, das politische Lager, dort das böse, das ökonomische
Lager. Ein neuer, unbekannter Lagerwahlkampf. Schon vor Prozessbeginn steht ein
Abkommen fest, ein blindes Einvernehmen darüber, dass die Markt- und Gierkritik
auf offener Bühne zwar wichtig, hinter den Kulissen aber null und nichtig ist.
Beim wilden Spiel im grellen Licht bleibt die Kernfrage ausgeblendet: warum
können und dürfen die Topversager Billionen verzocken, ohne strafrechtliche
Konsequenzen befürchten zu müssen? Doch nicht etwa, weil sie nur die Rolle
gespielt haben, die ihnen die Politik eingeräumt und zugedacht hat? Getuschel
im Publikum. Ruhe! Ruhe im Saal - sonst droht die Räumung.
Der zweite Akt beginnt. Nochmals
wird zu Gericht gesessen, weit länger als im ersten, um nun ein für allemal zu
klären, welche Partei die gute und welche die böse Politik repräsentiert. In
lustvoller Pedantik kommt alles auf den Tisch: wer, wann, wo, wie fern und nah
sich am Versagermanagement aufgehalten hat. Alles ordentlich in Zentimetern
ausgemessen, so wie man es sich wünscht und wie man meint, dass es das Publikum
honoriert. Endlich ein pralles Spektakel voller Sensationen. Nur zu dumm, dass
der zweite Akt selbst bis zum Wahltag kein Ende findet und nie wirklich geklärt
wird, wer von allen Trotteln der dümmste war.
Finale: Spielkritik und
Schlusswort
Die schattige Dialektik des
Gerichtsspiels erschließt sich erst bei kritischer Betrachtung: um so heller
die Bühne ausgeleuchtet ist, umso weniger ist zu sehen. Zumal die Scheinwerfer
der Politik und der vereinten Mediendemokratie nichts zur Erhellung, sondern
nur zur Verdunkelung der Sache beitragen. Gleichwohl, die Grellheit des Lichts
wird die Politik nicht stören. Keinesfalls: Hauptsache Licht! Und möglichst
viel davon auf die eigenen Versprechen. Die sind dieses Mal mehr denn je
gefragt: Wahlkampf vor der Kulisse der Systemkrise ermöglicht eine fette
Scheingerichtsprozedur mit satter Scheinprämienvergabe.
Das Ausrufen der Prämien für alles
und nichts ist überhaupt der politische Knaller. Dialektisch besehen ein
besonders scheinheiliger Rohrkrepierer. Zum einen, weil Prämien sich eben
sowenig wie normale Steuersenkungen als Geschenke erweisen. Der Staat
verschenkt nichts, niemals, zumal, wenn er sich als Unternehmen versteht: er
gibt dem Bürger nur, was ihm der Bürger gibt. Zum anderen, weil der Staat im
Fall der Abwrack-Umwelt-Prämie für Altautos eine ökonomische Maßnahme
ökologisch verbrämt. Der Siegesfeldzug des ökonomistischen Projekts, durch die
Regierungspolitik der letzten Jahre sattsam protegiert, erhält nun, nachdem es
in jüngster Zeit seine übelste Fratze gezeigt hat, eine blumig-liebliche
Ökomaske. Hauptsache die Fassade stimmt. Verschenkt wird nichts, gezahlt wird
später.
Zum Schluss noch einige
Bemerkungen. Wenn Macht, wie eingangs geschehen, als ein Können definiert wird,
als ein zielgerichtetes Vermögen zur Durchsetzung eigener Interessen, dann
dient nach grober Logik politische Macht, konkret, die durch freie Wahlen
begründete und rechtsstaatlich verfasste politische Macht, der Durchsetzung
spezifisch politischer Interessen im demokratischen Staatswesen. Die
Kardinalfrage ist nur, wessen Interessen sie dient? Und auf die Systemkrise
bezogen, steht die Frage im Raum: wessen Interessen verfolgte die Politik
jahrelang mit der gezielten Deregulierung des Marktes und wessen Interessen
verfolgt sie heute mit der scheinbar gezielten Regulierung? Um
Missverständnissen vorzubeugen: die Tatsache, dass die Politik staatliche Macht
zur Regulierung des Marktes einsetzt, ist formal zumindest jeglicher Kritik
enthoben. Das ist Recht und Pflicht der Politik! Die Kritik entzündet sich
vielmehr daran, dass die Politik sich im Kern ihrer Aufgabe verweigert, dass
sie keine eigenständigen, sondern wie selbstverständlich ökonomische Interessen
vertritt. Darum geht es: um die nachweislich verfehlte Interessensvermengung,
um die Verstrickung mit dem Markt, die Selbstverblendung der Politik und ihre
verlogene Botschaft, dass es den Interessen aller dient, wenn es den Interessen
weniger maximal dient, dass alle profitieren, wenn wenige maximal profitieren.
Damit verspielt die Politik nicht nur Finanzressourcen des Staates, was
hoffentlich trotz der Krise des globalen Ökosystems noch zu verkraften ist;
sondern auch seine Vertrauensressourcen, was ihn regelrecht entkernt und aushöhlt.
Denn: ein Staat, der kein Vertrauen erzeugt, der moralisch keine Sicherheit
gewährt, verliert letztlich allen Anspruch auf Gehorsam. Und, um das deutlich
zu sagen: dieser Verlust geschähe nicht durch Zufall oder zu Unrecht, sondern
mit Gewissheit und zu Recht.
[1] Max
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1.
Halbband, Tübingen 1956/1980, S. 28
[2] Theodor W. Adorno, Minima Moralia.
Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin/Frankfurt 1951, S. 94
[3] Vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur
Macht, Berlin/New York 1996, S. 10 - 18
[4] Vgl. Wolfgang Kersting, Cicero 04/2005,
S. 106 f
[5] Vgl. Jürgen Habermas im Interview mit
DER ZEIT vom 06.11.2008, S. 53 f.
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