Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 15.02.10 |
Angst vor Profil: Wie lange will Angela Merkel die einst treuesten Stammwähler der Union noch ignorieren – und auf die Kraft des C verzichten?
von Martin Lohmann
Weckruf? Warnschuss? Könnte das schlechte Abschneiden der
CDU bei den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen ein Grund für Angela
Merkel sein, im Bundestagswahlkampf nun mehr Profil und – wie manche sagen –
Kante zu zeigen? Haben selbst innerparteiliche Kritiker Recht, die jetzt
weniger Unverbindlichkeit und mehr Verbindlichkeit von der CDU-Chefin verlangen?
Es wäre zu einfach, mit einer
einfachen Erklärung zu kommen. Doch die Zeit ist nun da, um einen Monat vor dem
entscheidenden Urnengang zu fragen: wer ist eigentlich diese Angela Merkel?
Wofür steht sie? Hat das C unter und mit ihr eine Chance? Wie christlich ist
die Union noch? Wie christlich könnte und dürfte sie denn sein? Immerhin: Bei
der Europawahl hatte die CDU die größten Verluste bei den katholischen Wählern:
minus 8 Prozent. Und jetzt, bei der Landtagswahl im Saarland etwa, war das
ähnlich: Überdurchschnittlich viele Stimmen büßte sie bei den Katholiken ein,
nämlich minus 15 Prozent. Also: Weitermachen wie bisher? Ohne Rücksicht auf
katholische Stammwähler?
Um keine Missverständnisse zu schaffen: Die Ohrfeige für die
Union an der Saar und im Freistaat Thüringen hat viele Gründe. Einer davon,
über dessen Gewicht man trefflich streiten kann, könnte aber eben auch sein,
dass manche Wähler woanders ihr Wahlglück suchen, weil, ja weil die Union unter
ihrer amtierenden Chefin das C hat verkümmern lassen. Worin liegt denn der
Mehrwert dieser Partei noch? Worin unterscheidet sie sich?
Man sagt, Angela Merkel sei
der beste Grund, CDU zu wählen. Mag sein. Tatsächlich sind für viele heute
Merkel und Union Synonyma. Austauschbegriffe. Viele wählen die Union, weil es
Merkel gibt. Was aber passiert mit dieser Partei, wenn es eines Tages Merkel
nicht mehr geben wird? Wenn heute das „System Merkel“ die Union ist, was ist
die Union denn an jenem Tag, da es das System Merkel nicht mehr geben wird?
Warum sollte man sie dann wählen, wenn heute Merkel der Grund ist, CDU zu
wählen? Frisst das Karrieremodell Merkel das Profil einer Partei? Könnte
längerfristig ein Schaden für die Partei entstehen?
Es gibt also schon Gründe, dem
Phänomen Merkel nachzuspüren. Wer ist sie? Was will sie? Wer oder was prägt sie?
Es besteht kein Zweifel: Sie weiß,
was Macht ist. Und sie weiß, mit der Macht zu spielen. Sie hat gerne Macht. Es
wird sie freuen, wenn sie zur mächtigsten Frau der Welt erklärt wird. Angela
Merkel ist gerne Kanzlerin. Sie ist gerne mächtig. Aber: Wer ist eigentlich
Angela Merkel? Vor der Bundestagswahl stellen vor allem viele Christen diese
Frage, denn diese Frau ist auch noch Vorsitzende der Christlich Demokratischen
Union. Sie ist Chefin der CDU, jener Partei Deutschlands, die vom katholischen
Konrad Adenauer einmal sehr geprägt wurde. Dieser Vater der modernen deutschen
Demokratie stand für Freiheit in Verantwortung, für christliche Werte und für
eine Politik mit klaren Koordinaten. Doch wofür steht Angela Merkel? Was
verbindet sie mit dem C der CDU?
Eine Frage, die schon häufig
gestellt wurde – und nicht wirklich beantwortet werden kann. Denn wofür sie
steht, welche Beziehung sie zum C hat, was sie wirklich über Familie denkt und
was ihr beispielsweise die Soziale Marktwirtschaft bedeutet, das kann wohl
niemand endgültig sagen. Sie selbst hat sich zwar schon häufiger auch zu diesen
Fragen geäußert, doch richtig prägnante und belastbare Aussagen lassen sich
nicht finden. Es sind eher Umschreibungen, Formulierungen, denen – so bemängeln
Kritiker – das letzte Quäntchen Unverbindlichkeit nicht genommen wurde.
Die protestantische Pastorentochter
ist zwar die Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Partei Deutschlands und
prägt wie keine andere das neue Gesicht der ehemaligen Adenauer-Partei, doch
selbst in der Union könnte man sie sich auch als Vorsitzende einer anderen Partei
vorstellen. Ein unverwechselbares Identitätsmerkmal wie das C – so wie einst
bei Konrad Adenauer, Rainer Barzel oder Helmut Kohl – will ihr niemand so ohne
Weiteres aufdrücken. Als erste Beschreibung für sie wird einem wohl nicht das
Christliche einfallen. Eher schon: Sie ist pragmatisch, machtbewusst, clever,
zielstrebig, cool und selbstbewusst. Das C stört an ihr zwar nicht, aber es
macht sie auch nicht aus. Richtig zum Glänzen und Strahlen hat sie es bislang
nicht gebracht. Als eine aus christlichem Geist geformte Sozialpolitikerin
würde sie einem wohl auch nicht in den Sinn kommen.Ist sie eine Bekennerin?
Oder eher eine geschmeidige Wendekanzlerin? Eine gnadenlose Ich-AG?
Merkel hat zweifellos, was jeder
gute Machtmensch haben muss: einen „unbedingten Willen zur Macht“. Auch Helmut
Kohl und Gerhard Schröder hatten den. Und wer Merkel aus der Nähe kennt, weiß
nur zu gut, wie diese zunächst scheue und unscheinbare junge Ostfrau von Helmut
Kohl gelernt hat. Ihr Gespür für Macht, wozu das Nutzen des richtigen
Augenblicks gehört, bewies sie 1999, als sie sich ebenso berechnend wie
kaltschnäuzig von der Generalsekretärin der CDU unter dem Parteivorsitzenden
Schäuble zu dessen Nachfolgerin während der Parteispendenaffäre katapultierte.
Die Tatsache, dass ihr Förderer und
Alt-Kanzler Helmut Kohl angeschlagen war, nutzte sie zielgenau für sich aus.
Mit einem Namensartikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hatte sie
einerseits die CDU von Helmut Kohl abgerückt, und indem sie einen Konflikt
zwischen Kohl und Schäuble inszenierte, gelang ihr als lachender Dritter der
Gewinn der Macht. Sie wusste, dass man sie immer wieder unterschätzt, und sie
nutzte dieses Wissen, in dem sie genau den nächsten Schritt plante und dann
konsequent gegangen ist. Wenn es sein muss, entscheidet sie hart und
konsequent. Und dabei hat sie als machtbewusste Frau stets sich selbst im Blick.
Angela Merkel strebte früh nach
Macht, und sie gibt das auch gerne zu. Aber ihren Biografen fällt auf, dass sie
die Frage, wozu denn eigentlich Macht, niemals wirklich beantwortet hat. Auch
für ihre Weigerung, sich wirklich dauerhaft festzulegen, klar und deutlich
Position zu beziehen, gibt es Erklärungen in ihrer Lebensgeschichte. Sie habe
als Teil der Gefahrenabwehr in der DDR-Diktatur gelernt, nie zu zeigen, was sie
wirklich denkt, heißt es. Tatsächlich musste sie ja mehr als drei Jahrzehnte in
einem Unrechtssystem zurechtkommen. Und sie kam sehr gut zurecht, schaffte es
sogar bis in die Bildungselite der DDR. Dabei half ihr sicherlich die angelernte
Fähigkeit, niemals zu zeigen, was man wirklich denkt, wofür man wirklich steht,
welche Überzeugungen einen im Innersten prägen und bewegen. Wie jeder andere
Mensch ist sie durch ihre Biografie geformt. Und diese Biografie fand in
entscheidenden Jahren in der DDR statt. Abgeordnete in Berlin und andere, die
Angela Merkel kennen, führen darauf noch heute ihr erkennbares und geradezu
notorisches Misstrauen gegenüber fast jedermann zurück.
Angela Merkel gilt nicht als
Ideologin. Sie kann, wie man in der Wirtschafts- und Finanzkrise beobachten
konnte, selbst grundsätzliche Positionen um 180 Grad drehen. Begriffe wie
„Soziale Marktwirtschaft“ und notfalls auch „Verstaatlichung“ gehen ihr
gleichermaßen locker über die Lippen. Es ist daher schwer zu klären, inwieweit
sie christdemokratisch oder/und konservativ ist. Dies sei, so analysiert ein
Politikwissenschaftler, eine generelle Frage: Was ist eigentlich heute in einer
Zeit der Säkularisierung noch typisch christdemokratisch oder typisch
sozialdemokratisch? Merkel entspreche in ihren politischen Grundüberzeugungen
eigentlich sogar sehr viel stärker dem normalen Typus des Wechselwählers, der
auch in vielen Punkten gar nicht so sehr festgelegt sei. Sie kann sehr schnell,
wenn es sein muss, inhaltlich die Positionen wechseln. Sie ist unideologisch
und sie ist pragmatisch.
Das ist ein Vorteil, aber auch
zugleich ein Nachteil. Denn natürlich muss sie auch als Parteivorsitzende einer
christlich-demokratischen Partei dieser ein prägnantes
christlich-demokratisches Profil geben. Müsste sie, wenn sie denn wollte –
möchte man ergänzen. Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth nennt Anfang 2009
Angela Merkel in einem Zeitungsbeitrag für den „Rheinischen Merkur“ eine
„gefesselte Kanzlerin“, der es in den Bankenkrise auf beeindruckende Weise
gelungen sei, in der Bevölkerung hohes Ansehen zu genießen. Sie sei kein
Populist, doch habe sie eine „seherische Fähigkeit zum Erkennen des Populären
entwickelt“. Merkel sei „flink in der Analyse der politischen Situation, die
sie jeweils machtpolitisch prüft“.
Merkel kann man als „gelernte“
Christdemokratin bezeichnen. Dabei weiß sie zwar um die tradierten Werte dieser
Partei, doch es fehlen ihr die inneren Bezüge. Auch deshalb hat die mächtigste
Frau der Welt in ihrer Partei keine eigene Hausmacht. Sie ersetzt diesen Mangel
durch Misstrauen und knallharten Charme. Große Visionen werden ihr nicht
nachgesagt. Große Durchsetzungskraft hingegen schon. Innerhalb der Partei
herrscht bis hinunter in die Ortsverbände eine Atmosphäre des Duckens und auch
der Ängstlichkeit. Selbst gestandene Volksvertreter im Deutschen Bundestag
sagen mit fast schon trotziger Bewunderung geradezu selbstenthauptend: „Mutti
kritisiert man nicht.“ Das System Merkel ist – solange sie wie in diesen
Monaten in Umfragewerten ganz oben ist und weiter Kanzlerin bleiben kann –
stabil.
Wegen der fehlenden Hausmacht und
dem Ersatz durch charmante Härte könnte es aber irgendwann sehr schnell
zusammenbrechen. Churchill soll einmal gesagt haben, dass starke
Persönlichkeiten starke Persönlichkeiten um sich herum haben wollen – und
schwache nur schwache. Im System Merkel haben starke Querdenker und loyale
Kritiker bislang keinen Platz. Widerspruchsgeist ist nicht ihr Ding. Kritik
lässt eher das ohnehin reichlich vorhandene Misstrauen bei ihr wachsen denn das
Interesse an anderen und gegebenenfalls besseren Argumenten.
Merkel hat Köpfe mit
liberal-konservativem Profil systematisch verdrängt. Aber nicht aus
ideologischen Gründen, sondern aus reinem Machtinstinkt. Denn Profil nebenan
kann störend wirken. Sie ist keine Ideologin. Ihre Ideologielosigkeit könnte –
so ein politikwissenschaftlicher Experte – in der politischen Welt der
Gegenwart „auch als ihre Stärke interpretiert werden, weil die Zeit der
ideologischen Überhöhung der Politik vorbei und politische Beweglichkeit
gefordert“ sei. Merkel sei nicht nur eine „Virtuosin des eigenen Machterhalts“.
Mit ihrem Politikstil zeige sie zugleich, dass ihr die alten Kämpfe der
Bundesrepublik (West) fremd seien. Eine große politische Vision hat Angela
Merkel nicht. Sie arbeitet. Sie erhält ihre Macht. Sie will die Tagesaufgaben
lösen. Sie ist nüchtern. Aber nicht zuletzt deshalb wächst mit ihr und durch
sie die Gefahr, dass viele Wähler ihre Partei eines Tages als zweite
sozialdemokratische Partei ansehen und Stammwähler nicht wählen gehen.
Das mag sich wegen einer gerade in
diesen Kreisen noch vorhandenen Loyalität der Treue vielleicht nicht sofort
zeigen, aber es wird zunehmend zu einem Problem für die Union. Schon jetzt gibt
es bei den ehemaligen Stammwählern starke Einbrüche. Und weil es bei den
Konservativen häufig so ist, dass sich dieser Protest durch stille Resignation
zeigt, wird er in Berlin zu wenig wahrgenommen und das Schweigen regelrecht
überhört. Es scheint auch so, als nehme man diesen Verlust in Kauf. Jedenfalls
unter Merkel, die machtbewusst eiskalt rechnet und lieber nach neuen
Wählerschichten sucht, als treue Freunde zu halten.
Genau das könnte einmal ein Problem
für die Partei sein. Denn wofür steht sie noch, wenn sie sich von anderen
sozialdemokratischen Parteien nicht unterscheidet? Freilich: Das Original,
nämlich die SPD, steht heute – immer noch – viel schwächer da als die CDU. Denn
diese hat eine geschickte und wendige Kanzlerin mit hohem Ansehen in der
Bevölkerung. Doch worin liegt eines Tages der Mehrwert dieser einmal
einzigartigen C-Partei, wenn dieser „Pluspunkt“ Merkel nicht mehr zieht? Wird
man dann nicht sagen müssen, Merkel habe das C entleert und das Profil „ihrer“
Partei kantenlos abgeschmirgelt? Die Sphinx im Kanzleramt, wie sie bereits
genannt wurde, die durch ihren unübertroffenen Machtinstinkt womöglich länger
regieren könnte als Helmut Kohl, darf das Enttäuschungspotential bei denen, die
ihr wegen der Überzeugung nicht besonders nahe am Herzen liegen, nicht leichtsinnig
unterschätzen.
Die deutsche Kanzlerin verfügt über
eine hohe Anpassungsintelligenz und ist eine brillante Amtsinhaberin im
Kanzleramt. Mit ihr gibt es erstmals einen neuen Typ des Kanzlers in
Deutschland. Im Kanzleramt gab es Staatsmänner – und Kanzler. Konrad Adenauer,
Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl waren Persönlichkeiten, sie waren
profilierte Staatsmänner, die Deutschland regierten. Ludwig Erhard, Kurt Georg
Kiesinger und Gerhard Schröder waren „nur“ Kanzler. Die Nachfolgerin des letzten
Kanzlers aber ist lediglich noch Amtsinhaberin. Eine clevere und sehr
machtbewusste dazu. Sie ist als Bundeskanzlerin eher eine Bundesmanagerin. Eine
machtbewusste und misstrauische dazu. Sie ist ein „Karrieremodell“ ohne klares
Profil. Und ein Modell, welches das Profil „ihrer“ Partei geradezu schluckt.
Dabei kann auch Angela Merkel klare
Worte sagen, die man allerdings suchen muss und die – leider – nicht zu jenem
Repertoire gehören, das viele mit ihr verbinden. Jetzt im Wahlkampf zum
Beispiel findet sie vor katholischem Publikum sehr katholische Worte und kann
reden wie jemand, der christliches oder gar christkatholisches Denken und
Fühlen im Blut hat. Sie hat eben – das wird auch hier deutlich – eine hohe
Begabung zur Situationserfassung und jeweiligen Anpassung an das Publikum. Doch
es fragt sich, wie belastbar solche Reden sind und ob sie ein Verfallsdatum
jenseits des Wahlabends Ende September haben. Vor allem viele katholische
Wähler sind da – aus der über Jahre gewachsenen und sicher auch weiter
wachsenden Erfahrung mit der Parteivorsitzenden – mehr als skeptisch.
Angela Merkel ist als
CDU-Vorsitzende in der Rolle der Amtsinhaberin im Kanzleramt irgendwie auch
eine Gefangene. Aber wer genau hinschaut, entdeckt in der Weise, wie sie
Kanzlerin ist, auch den Kern ihres Wesens als CDU-Vorsitzende. Denn zur
Wahrheit gehört nicht nur, dass sie keine wirkliche Kompetenz in
Wirtschaftsfragen hat, sondern auch letztlich keine große Kompetenz für
Freiheit. Sie ist eine durch ihre DDR-Biografie selbstverständlich geprägte
Machtfrau, die in einem Kontrollstaat leben musste und damit erfolgreich
zurechtkam. Sie ist, anders als etwa Adenauer und Kohl, keine Kanzlerin der
Freiheit und der Sicherheit. Sie ist lediglich eine Kanzlerin der
Sicherheit – und der Gleichheit. Unter ihrer Verantwortung kam es zum
sogenannten Antidiskriminierungsgesetz, was als Gleichbehandlungsgesetz
letztlich ein Gleichheitsgesetz ist. Auch deshalb, weil sie keine wirkliche
Kompetenz zur Freiheit verkörpert, fehlt mit und durch diese Vorsitzende der
Christlich-Demokratischen Union Deutschlands Wesentliches vom C.
Das kann man ihr nicht vorwerfen,
aber man kann es erklären. Wie Adenauer durch seine Biografie ein Kanzler der
Freiheit in Sicherheit aus christlicher Verantwortung für ein ganzes Volk
wurde, so prägt seine späte Nachfolgerin ebenfalls die eigene Biografie, in der
eine gewisse Wendigkeit als Anpassungsintelligenz zum persönlichen Erfolg
führte. Die pragmatische, anpassungsfähige wie anpassungsstarke und
visionsfreie Bundesmanagerin hat viele Fähigkeiten. Leider aber wohl nicht
wirklich eine im C verankerte Kompetenz zur Freiheit.
Angela Merkel spricht gelegentlich
gerne von den drei Wurzeln der CDU: christlich-sozial, konservativ und liberal.
Doch eine CDU-Chefin, die allen Ernstes in einer Sonntagabend-Talk-Sendung über
sich verrät, dass sie „mal liberal, mal konservativ und mal christlich-sozial“
sei, offenbart leider auch, dass sie die Kern-Identität der Union nicht
verstanden hat. Denn aus den drei Wurzeln sind nicht drei verschiedene Bäume
entstanden, auf die man je nach Thema hüpfen kann. Entstanden ist ein einziger,
kräftiger und bestens verwurzelter Baum mit großer Krone, der sich aus eben
jenen drei Wurzeln speist. Man kann nicht „mal liberal, mal konservativ und mal
christlich-sozial“ sein, jedenfalls nicht als Parteiführerin dieser Union.
Aus den Wurzeln ist nicht nur ein
einziges, sondern auch ein einzigartiges starkes Gewächs geworden. Adenauer und
Kohl hätten noch gewusst, dass es nicht um ein „oder“, sondern um ein „und“
geht. Liberal und konservativ und christlich-sozial – das macht
die Einzigartigkeit der Union aus. Wer an der Spitze meint, aus dem Und ein
Oder machen zu können, verrät nicht nur etwas über die eigene
Wandlungsfähigkeit im Umgang mit Teilprofilen, sondern offenbart auch
machtvolle Defizite im
Kern-Verständnis der „eigenen“
Partei. Auch ein Vorsitz kann auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
eigene Partei möglicherweise weniger die eigene ist, als das auf den ersten
Blick zu vermuten wäre. Denn wer das Profil aufsplitten will in verschiedene,
voneinander getrennte Nebeneinander, macht die Frage nach dem C und dem
modernen Konservatismus – gewollt oder nicht – zur Gretchenfrage der Union.
Ein langjähriges Mitglied des
Parteipräsidiums, jemand, der die derzeitige CDU-Chefin lange genug erleben und
beobachten konnte, hat die Erkenntnis gewonnen, dass die Vorsitzende die Partei
und ihren Kern bis heute nicht verinnerlicht hat. Für Merkel sei „die Partei
nichts als ein Instrument“. Und dieses Instrument benutze „sie lediglich für
sich“. Ist Gretchen vielleicht doch selbst so etwas wie die Gretchenfrage?
Es bleiben auch und gerade in
diesem Wahlkampf offene Fragen: Wofür steht Angela Merkel – außer für sich
selbst? Was verbindet die
C-Chefin mit dem C? Welche
Grundsätze hat sie wirklich? Es sieht alles danach aus, dass sie wieder
Kanzlerin wird. Dann stehen diese Fragen zunächst einmal nicht mehr auf der
Tagesordnung. Doch irgendwann werden diese Fragen wieder da sein, weil es die
CDU auch nach einer Angela Merkel geben wird und geben sollte. Und bis dahin
hat sie, von der man gelegentlich den Eindruck haben kann, sie lebe konsequent
in einem Überzeugungsnirwana, selbst die Chance, der inhaltlichen Entleerung
entgegenzuwirken und den lange vorhandenen Mehrwert einer einzigartigen
politischen Partei nicht zu verspielen.
WIR haben die Kraft, so lautet der
Wahlslogan der Union. Wer ist WIR? Und welche Kraft ist gemeint? Wessen Kraft?
Es wäre fahrlässig von Angela Merkel, das WIR ohne die Kraft des C zu wollen.
Dann könnte über kurz oder lang sich diese „Kraft“ als wirkungsloses Placebo
erweisen. Daher kann man nur hoffen, dass Merkel und Co noch aufwachen im
Ruhesalon auf dem Weg zur Wahl – und sind endlich mit jenen Kraftquellen
verbünden, die nun wirklich zuverlässig sind. Nicht ein ominöses WIR hat die
Kraft. Viel Kraft hat vor allem das C. Das aber dürfte man in der Union wissen.
Eigentlich. Oder gehört das C dort nicht mehr zum WIR?
Martin Lohmann (52) ist
katholischer Publizist und Journalist. Soeben erschienen ist sein Buch „Das
Kreuz mit dem C. Wie christlich ist die Union?“(14.90 € bei Butzon &
Bercker).
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