Erschienen in Ausgabe: No 44 (10/2009) | Letzte Änderung: 03.09.09 |
Jan Roß: Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft. Berlin (Rowohlt) 2008. 221 Seiten. ISBN: 9783871345968. 17,90 Euro.
von Daniel Krause
„Hätte auch alles ganz anders
kommen können? Fünfhundert Jahre nachdem Kolumbus in Amerika gelandet und Vasco
da Gama [...] in den Indischen Ozean gesegelt ist, wirkt die Welteroberung
durch den Westen wie eine lange, ununterbrochene Erfolgsgeschichte, womöglich
wie ein gesetzmäßiger Prozess. [...] Historiker der westlichen
Erfolgsgeschichte haben seit langem gesehen, wie wenig selbstverständlich der
Weg Europas zur globalen Dominanz zumindest in den Anfängen gewesen ist. Andere
Weltgegenden waren bevölkerungsreicher, mit fruchtbareren Böden und größeren
Schätzen gesegnet, mit eindrucksvolleren Traditionen wohlorganisierter und
machtvoller Staatlichkeit, während das Abendland seit dem Untergang des Römischen
Reichs politisch zersplittert blieb. Andere waren auch schneller, sich etwas Neues
auszudenken: Kompass, Porzellan, Papier, Schießpulver, Druckerei sind
chinesische Erfindungen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts [...] entfielen
auf China etwa 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, auf Indien knapp 15;
ganz Europa trug 15 und die Vereinigten Staaten trugen 2 Prozent bei.“ (S.
88ff)
Jan Roß (DIE ZEIT) zählt zu den
wenigen Journalisten, die über einen persönlichen ‚Sound’ verfügen. Sätze aus Roß’
Feder sind als solche deutlich erkennbar, am Satzbau: unkompliziert – aber
komplex –, voll rhythmischer Frische und Lebendigkeit. Jan Roß bevorzugt
Parataxen – das garantiert ein schwungvolles Lesetempo. Auch hat sich Roß
angewöhnt, recht konsequent auch Hauptsätze mit Konjunktionen einzuleiten: Nach
Punkten stehen „aber“ und „oder“. „Und“ davon profitiert der Lesefluss erheblich:
Der Leser wird über Satzgrenzen hinweggetragen, als seien sie nichts: Roß’
Prosa bewegt sichim permanenten Andante,
unaufgeregt, unangestrengt.
Ein Weiteres: Jan Roß hat die
traditionell aufklärerisch, durchaus agnostisch, mindestens protestantisch,
profilierte ZEIT gewiss nicht krypto-katholisch umformen können (und wollen).
Vatikanische Hofberichterstattung nach Heinz-Joachim Fischers Art (Frankfurter Allgemeine) findet in der
ZEIT bis heute nicht statt. Wieviel Respekt und Sympathie gegenüber der Institution
Kirche Roß’ Beiträgen zur ZEIT innewohnt, ist dennoch bemerkenswert und dürfte
ohne Beispiel sein in der Geschichte dieses Blatts. Erstaunlich auch dies: Jan
Roß ist Katholik – und ZEIT-Experte für Fragen der Weltpolitik, des Kriegs und
der Macht. Das nüchterne realpolitische Kalkül – samt idealpolitischer
Aspirationen und Sympathien für Bushs Neocons –, die Neigung zu Amerika muss
unter katholisch-pazifistischen Auspizien überraschen. Kein Zufall, dass Roß’
Verehrung besonders Johannes Paul II. gilt, dem politisch ambitioniertesten und
machtbewusstesten Papst der jüngeren Geschichte.
Was
bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft. Dies ist ein bei Roß
durchaus ungewohnter apokalyptischer Ton. Auf 200 Seiten wird eine dichte,
gedrängte Bestandsaufnahme der weltpolitischen Lage geboten, deren Herleitung
aus der Geschichte – Spengler, Toynbee, Huntington kommen zu Wort – und eine
Vorausschau auf künftige Entwicklungen. Dass Roß’ Prosa sich trotz solcher
vermeintlich hypertrophen Bestrebungen leicht und entspannt gibt, ist eine
beachtliche, auch literarische Leistung.
Wie konnte der vielfach unterlegene
Westen zur Weltherrschaft aufsteigen? „Kein anderer Gott [...] hatte seinen
Gläubigen wie der jüdisch-christliche gesagt: ‚Macht Euch die Erde untertan.’
Nach außen ist die abendländische Emanzipations- und Aufklärungsgeschichte die
Geschichte einer beispiellosen Angriffslust und niederwalzenden Expansivität
gewesen.“ (S. 97) Dies mag erklären, woher der Drang zur Expansion rührt. Aber wodurch war Europa befähigt, Tatsachen zu schaffen, die Welt nach
seinem Bilde umzuformen? Roß’ vorderhand überraschende Antwort: Europas
Schwäche – die innere Spaltung, Desintegration – ist seine Stärke: „Nicht
Machtkonzentration, sondern Machtteilung und Machtbegrenzung war die
Grundformel Europas. [...] Nur im Abendland hat sich, wieder dank der Grenzen
der Fürstenmacht, die Stadt als Lebensform und sozialer Organismus [...]
entwickelt. Machtteilung auch spirituell und weltanschaulich: [...] der Stifter
des Christentums von der Staatsmacht hingerichtet worden [...]. Immer
Spaltungen, Spannungen, Dualismen: Papst und Kaiser, Kirche und Staat, Geist
und Macht [...]. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des ‚Aber’, des
‚Anders’, des ‚Nein’. Etwas muss diese Freiheitstendenz zu tun haben mit
Kräften und Institutionen, die zu den Wesensmerkmalen der modernen Welt
geworden sind: der Marktwirtschaft, dem Pluralismus der offenen Gesellschaft,
dem politischen System der Gewaltenteilung und Volkssouveränität, der
mathematischen und experimentellen Naturwissenschaft, die das Fundament einer
immerwährenden technologischen Revolution bildet. Trotz aller Entdeckungen
anderswo: Nur in Europa ist jene nimmermüde Innovations- und Anwendungsmaschine
ins Laufen gekommen [...], getrieben von einer andernorts unbekannten Dynamik
aus Rationalität, Machbarkeitsglauben und kontrollierter, systematischer
Neugier und Gier.“ (S. 95ff) Als Legitimationsgrundlage des Kolonialismus dient
das Bewusstsein zivilisatorischer Überlegenheit. Aus diesem ergibt sich der
Auftrag, die übrige Welt zwangszubeglücken: The
White Man’s Burden. Just darin liegt, so Roß, die Krux des Expansionismus:
Die westlichen Mächte geben der übrigen Welt technologische Mittel an die Hand,
die ihr erlauben, die Herrschaftsverhältnisse zu revidieren, Japan, China,
Indien sind die schlagendsten Beispiele.
Die westlichen Staaten mögen, so
Roß, dafür sorgen, dass über die Technik hinaus, ‚ihre’ Normen – z. B.
Demokratie, Rechtssicherheit – universelle Geltung erlangen. Ein entferntes
Vorbild könne der antike Hellenismus sein: Griechenland war politisch
(militärisch, ökonomisch) zur non-entity herabgesunken, Rom, Karthago und
asiatische Großreiche dominierten die Szene. Kulturell war Griechenland praeceptor mundi: Zwischen Gibraltar und
Indien gingen griechische Lebens- und Denkformen mit autochthonen
Überlieferungen unentwirrbare Mischungen ein. Ähnlich könnten sich westliche
mit asiatischen und afrikanischen Traditionen verbinden, durch Handel und Wandel,
gewiss nicht durch Krieg. Es entstünde eine anglophone Ökumene. Der Westen
hätte – mit anderen Waffen: soft skills – weltweiten Einfluss
gewonnen, ohne politisch noch zu dominieren.
Gewiss: Dies sind Mutmaßungen. Sie
bleiben unbeweisbar, und 200 Seiten reichen nicht hin, welthistorische
Zusammenhänge gründlich zu entwickeln. Roß dies zum Vorwurf zu machen, wäre
allerdings Bigotterie: Essais müssen
‚raffen’. Für dihäretische Exerzitien, für den Kult des Details ist kein Raum.
Stattdessen: Prägnanz, Übersicht, Weite des Blicks. In diesem Sinne hat Jan Roß
Erstaunliches geleistet.
„Noch zu Beginn des 19.
Jahrhunderts [...] entfielen auf China etwa 30 Prozent der
Weltwirtschaftsleistung, auf Indien knapp 15; ganz Europa trug 15 und die
Vereinigten Staaten trugen 2 Prozent bei. Erst neuerdings, mit dem ökonomischen
Boom und dem wachsenden politischen Selbstbewusstsein im ferneren und fernen
Osten, sind diese exotischen Daten wirklich [...] wieder dramatisch aktuell
geworden – als Ausblick auf eine mögliche Zukunft. Jetzt gibt es indische und
chinesische Kommentatoren, die den europäisch-amerikanischen Triumph als bloßes
historisches Zwischenspiel und den gegenwärtigen Aufstieg Asiens als
Wiederherstellung des globalen Normalzustands darstellen [...].“ (S. 90)
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