Erschienen in Ausgabe: No 44 (10/2009) | Letzte Änderung: 28.09.09 |
Peter Henisch, Der verirrte Messias, Deuticke, Wien (Juli 2009), 400 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3552061169, ISBN-13: 978- 3552061163, Preis: 24,90 EURO
von Heike Geilen
Peter Henischs neuer Roman "Der verirrte Messias"
spielt zum Teil vor über 2.000 Jahren. Kann man ihn als historischen Roman
lesen? Eher nicht, denn die Geschichte beginnt in der Gegenwart. "Allerdings reicht sie weit zurück in
die Vergangenheit und womöglich reicht sie auch irgendwie in die Zukunft.",
erklärt die 39-jährige Literaturkritikerin Barbara einem ehemaligen
Studienkollegen, "Eine ziemlich
verrückte Geschichte." Und außerdem "finde sie biblische Geschichten in der Gegenwartsliteratur ja
völlig jenseitig. In diesem Buch aber - also wie soll ich sagen ... Einige
Szenen, die ich letzthin gelesen habe, sind mir richtig unter die Haut
gegangen." Damit umreißt sie sehr grob den Rahmen des neuesten Werkes
des österreichischen Autors, der am 27. August 66 Jahre alt wird.
Ziemlich verrückt ist die biblische Handlung wahrhaftig. Spricht
doch ebenjene Literaturkritikerin in der Ablugzone des Flughafens Frankfurt ein
ziemlich eigenartiger Typ an. "Nein,
er sah nicht außergewöhnlich aus. Ganz bestimmt nicht wie eine dieser Ikonen.
Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder Psychopath. Allerdings hatte sein Blick
etwas Beharrliches." Er will genau wie Barbara, die einen dringend
benötigten Urlaub bei ihrer Halbschwester Esther anvisiert, nach Israel. Allerdings
mit anderem Bestreben. Mischa Myschkin, wie er sich nennt (offensichtlich entleiht
Henisch nicht ohne Grund den Namen seines Titelhelden aus Dostojewskis Roman
"Der Idiot"), ein aus Russland stammender, aber in Deutschland
lebender dreißigjähriger Mann, hat eine andere "Mission". Diese
erweist sich indessen im Grunde genommen als genauso aussichtslos, wie die
seines literarischen Namensvetters. An Naivität steht er Dostojewskis Myschkin
in nichts nach, auch wenn Henischs Protagonist eine überaus ernste
Angelegenheit verfolgt: "Es ist
überhaupt die ernsteste Angelegenheit, die du dir vorstellen kannst.",
erzählt er Barbara, "Es geht um die
ersten und die letzten Dinge! Es geht um die ganz Heil- und Unheilsgeschichte!
Es geht, ja verdammt noch einmal, um alles oder nicht!"
Tête-à-tête mit dem Messias
Was ist denn nun so eigenartig an ihrem Flugbegleiter? Dass
sein Profil etwas Schafartiges hat, gewiss nicht. Dass er während der Lektüre
der Bibel mehrfach laut auflacht und bestimmte Passagen anders deutet und
erzählt, als sei er tatsächlich vor Ort gewesen, verwundert schon mehr. Seine
beruhigenden Worte, als das Flugzeug unversehens in Turbulenzen gerät: "Sie
brauchen keine Angst zu haben, sagte er. Dieses Flugzeug stürzt nicht ab."
- "So? Und warum nicht?" - "Weil ich an Bord bin." und die Behauptung, dass er
offensichtlich Jesus von Nazareth sei, oder Jeschua wie er auf Aramäisch heißt,
lassen Barbara schließlich am Wohlbefinden seines psychischen
Gesundheitszustandes zweifeln.
Ein erstes Verwundern setzt jedoch ein, als er vom Heiligen
Geist oder besser der Energie Gottes zu reden beginnt, kurz darauf die
Flugzeugelektronik verrückt spielt und man zu einem unfreiwilligen Zwischenstopp
in Rom gezwungen wird. Mehr und mehr gerät Barbara in das Magnetfeld dieses
suggestiven, irritierenden, aber auch imponierenden Menschen, mit einer "Ambivalenz von anziehenden und
abstoßenden Kräften". Der gemeinsam verbrachte Abend in Rom tut sein Übriges.
Die Zwei kommen sich näher und Barbara, die für Mischa seine Maria Magdalena
des 21. Jahrhunderts zu sein scheint, erwägt sogar ein Tête-à-tête in dessen
Hotelzimmer. Als sie auf das Bett zusteuert, traut sie ihren Augen
nicht: Sie bemerkt Wundmale an Händen und Füßen des jungen Mannes, der da vor
ihr nackt unter dem Bettlaken liegt - Stigmata, die bluten. Jetzt bekommt sie
es endgültig mit der Angst zu tun und flüchtet.
Doch Mischa geht ihr nicht aus dem Kopf, zusätzlich genährt
durch einen ausführlichen Brief von ihm, den sie nach ihrem Urlaub im
Postkasten findet und dem noch viele weitere folgen sollen. Hat sie sich vor
wenigen Wochen geweigert, Mischa auf seiner Reise zu den Wirkungsstätten von
"Jeschua" zu begleiten, wird sie nun umso stärker in dessen
Geschichte gezogen. Langsam kristallisieren sich bei Barbara tiefere Gefühle zu
dem vermeintlichen Messias heraus, der ihr fortan ausführlich seinen
neuerlichen Weg bis zur Erlösung schildert. Nur diese scheint offensichtlich
gar nicht stattgefunden zu haben. "Die
Apokalypse, ja, das war zu befürchten. Obwohl es nicht so aussah, als ob man
ihn dazu noch brauchte. (...) Ich bin Jesus, sagte er. Aber das nützt auch
nichts."
Mysteriöser Jesus
Nicht nur Barbara gerät in die Aura des vermutlichen Erlösers,
sondern auch der Leser taucht unweigerlich in das von Peter Henisch großartig
bis zur letzten Seite aufrechterhaltene Spannungsfeld ein. Mit unerwarteter
Leichtigkeit, vermischt mit einem kühnen Schuss Ironie, entfaltet sich der
Roman auf gleich drei Ebenen, die durch einen großen Bogen beherzt überspannt
sind. Dem Autor gelingt ein famoser Brückenschlag zwischen den Zeiten. Da ist
zum einen die sich sukzessiv entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Mischa und
Barbara, zum anderen das hochbrisante politische Thema der nahöstlichen
Situation: des krisengeschüttelten Israels und seines Nachbarn Palästina, von
dem Mischa in seinen Briefen auf der Suche nach seinen Wurzeln berichtet und das
sich zunehmend zu einem Alptraum entwickeln. Ein drittes Augenmerk liegt ohne
Zweifel auf dem literarisch-ironischen Umgang mit den Evangelientexten.
"Die drei Ebenen
des Buches sind für mich gleichwertig." erklärt der Autor in einem
Interview. "Das ist ja auch das
Schöne an einer Komposition, dass man sozusagen drei Themen hat, die man dann
auf musikalische Weise miteinander verbindet und einander kontrapunktisch
gegenüber stellt." Peter Henisch gelingt dies bar jedweder blasphemischer
Diffamierung. Auch wenn der mysteriöse Jesus am Ende des Romans ernsthaft
überlegt, welcher Religion er wirklich angehören möchte. "Entweder vorwärts zum Islam oder zurück zum Judentum. Dem
Christentum ist allem Anschein nach der Boden unter den Füßen weggezogen."
Dazu noch einmal der Autor: "Ich
habe einerseits die Geschichte sehr ernst genommen, andererseits ihre
ironischen Aspekte durchaus nicht vergessen. Für mich ist der Umgang mit den
Evangelientexten und der Umgang mit der Geschichte, die mir dazu eingefallen
ist, ein Spiel mit Möglichkeiten. Dieses Spiel mit Möglichkeiten wäre in früheren
Zeiten wahrscheinlich als häretisch eingestuft worden - die Zeiten sind
Gott-sei-Dank vorbei. Ich will Niemandes religiöse Gefühle verletzen, aber bei
mir sehen die Dinge etwas anders aus."
Fazit:
Mit dem stark typologischen Roman "Der verirrte Messias"
ist Peter Henisch ein außerordentlich dichter, äußerst origineller Text
gelungen, der dem Leser einen "Messias" vorstellt, der kritisch und
vielleicht auch ein wenig enttäuscht versucht, die letzten 2.000 Jahre zu
verstehen. Hervorragend recherchiert und spannend bis zur letzten Seite changiert
er zwischen Ernst, Ironie und Sarkasmus, zwischen politischer und kultureller
Kritik.
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