Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 17.10.09 |
von Lutz Rathenow
„Nein, der macht mir Angst!“ bekräftigt die junge Dame entschlossen und tritt
weg von Willy Brandt, mit dem sie sich nicht fotografieren lassen will: „Wer
ist denn das eigentlich?“ legt sie nach. Die Mutter bittet höflich noch einmal
um ein Erinnerungsfoto. Da ist die Tochter schon zur nächsten Figur getreten
und bringt sich neben Erich Honecker in Pose. Den kennt sie zwar auch nicht,
aber Erich Honecker wirkt offenbar vertrauenserweckender. Die Mutter nickt und
knipst. Wir sind im Raum mit den Politikern. Die Qualität ihrer Anzüge ist bei
allen identisch, ob Atatürk, Walter Ulbricht, Altkanzler Schröder oder Obama.
Über Sarkozy wäre ich fast gestolpert, so klein ist er. Und steht mitten im
Raum – wie ein kurz innehaltender Besucher.
Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn man verwendet den selben Wachs
zweimal, um Personen nachzubilden. Die ohnehin nur reglos nebeneinander stehen.
Oder zu einer Szene gruppiert werden. So oder so verkörpern sie Geschichte auf
die denkbar harmloseste, geist- und konfliktfreieste Art: als pure Nachbildung
von Menschen, die gesellschaftliche Ereignisse herbeigeführt haben oder immer
noch verursachen. So denkt sich das der Skeptiker, der das neue immer
überfüllte Wachsfigurenkabinett in Berlin, Unter den Linden noch nicht besucht
hat. Das war einmal. Heute darf man und Frau viele und vieles berühren,
irgendein Star bewegt dann den Po oder seinen Arm. Er flüstert oder kreischt
einen Satz. Der Besucher darf sich Kopfhörer aufsetzen und die sechs größten
Hits von Elvis Presley vernehmen oder mit dem Fuß auf die ZDF-Torwand schießen.
Natürlich nur virtuell, bei den herumstehenden Figuren könnten reale Bälle
verheerende Wirkungen auslösen. Wer sich mehr im Kopf bewegt, kann sich auch an
Jauchs Millionenquiz versuchen. Oder er lässt sich die eigene Hand in Wachs
gießen: eine oder beide. Ein Animationskabinett, das mehr Action verspricht als
es eigentlich bereithält. Im Mittelpunkt steht weiter der Wachsianer. Es wird
präsentiert, wen man kennt oder kennen will – in einer temporären Inszenierung,
die zeitlos wirken möchte, aber alle paar Jahre so unauffällig wie möglich
Personal austauscht, erneuert oder nachbessert. Vor einem Jahr eröffnete Madame
Tussauds „Unter den Linden“ medienwirksam mit dem Spruch: “Das prominenteste
Erlebnis Berlins“ Es entstand eine Berühmtheitszone, die sich im Internet
anpries: “Tauchen sie auf unserer inter-aktiven Promi-Party in die glitzernde
Welt der Stars ein.... Lassen Sie sich gemeinsam mit Berühmtheiten
...ablichten.“ Interessanterweise am Beginn noch mit dem warnenden Nachsatz:
“Änderungen der Figuren und interaktiven Erlebnisthemen vorbehalten.“ Wer mit
dem Zeitgeist nicht mithält, könnte auf der Suche durch erkaltete und
erloschene Prominenz also enttäuscht werden.
“Ich habe Angela Merkel schon sehen dürfen“, verriet mir vor einem Jahr der
Verkäufer vor der Eröffnung im Berlin-Shop, durch den künftig ein Gang des
Kabinetts führt - voller Vorfreude auf die verkaufsfördernde Symbiose meinte er
weiter:„ Sie sieht toll aus, ganz wie in der Wirklichkeit.“ Lief sie öfter am
Fenster vorbei? Oder wurde von ihm nebenan im Café gesichtet, dem Promitreff
„Einstein“ - da taucht jeder Politiker einmal auf. Falls man ihn dann erkennt.
Das weitere Gespräch mit dem Verkäufer klärte mich auf: der Mann meinte die
Fernsehwirklichkeit. Wirklich wirklich scheinen nur noch unsere Inszenierungen
von der Realität zu sein.
Macht besaß immer Materialien, in denen und mit denen sie sich verkörpert sehen
wollte: Marmor, Granit, dauerhaft wirkender Stein. Später gern hoch zu Roß -
eiserne Zeiten begannen, mit Kochtöpfen, Feuerwaffen und möglichst rostfreien
Denkmalen. Doch die Zeiten der Abbildung bedeutender Menschen scheinen in der
Kunst vorbei. Wir grübeln lieber über die Symbolik nach – kaum noch ein
Mahnmal, das ohne Erläuterungen aus sich heraus wirkte. Da vergessen wir leicht
den realen Menschen hinter oder vor den politischen Gestaltungsabsichten. Auch
darüber haben die Besucher nun mit der Eintrittskarte abgestimmt. Wer an einem
heiß-schwülen Julitag 60 Menschen hintereinander auf dem Bürgersteig vor dem
Etablissement warten sieht, weiß wie die Abstimmung ausging – für diese langweiligste
aller musealen Darstellungsformen. Der Erfolg war vorprogrammiert und überrascht
doch: die Banalisierung von Geschichte durch Reduktion auf Akteure. Das simple
Prinzip funktioniert weltweit. Wachs als globales Medium, knetbar, flexibel –
übrigens bis heute ein wenig erforschtes Bienenprodukt, ein Gemisch von
chemischen Verbindungen der Fettreihe. Es enthält Stoffe, die laut
lexikalischer Auskunft noch nicht analysiert sind – wollen wir hoffen, dass das
Prominentenwachs ökologisch korrekt gewonnen wurde und von glücklichen Bienen
stammt.
Madame Tussauds eröffnete zuletzt Filialen in Washington DC, Shanghai sowie in
New York und Hongkong. Dort, wo sich die Welt bewegt, stehen die Promis starr
oder zu mechanisierten Bewegungen fähig im Raum. Als könne man sie in echt
endlich genauer betrachten. Hier in Berlin viel Brecht übrigens und eine Wand
voller Günter Grass. Und der Verkäufer vom Vorjahr wurde auch schon ausgewechselt.
Das Darstellungs- und Präsentationsprinzip ist weltweit identisch - nur die
aufgewachsten Akteure unterscheiden sich regional sehr stark. Den Mächtigen,
Bedeutenden und Berühmten auf Augenhöhe begegnen zu können scheint für den
medien-orientierten Bürger der wesentliche Reiz. Er will ihnen nahe sein, für
einen Augenblick im Bewusstsein eingebildeter Gleichheit leben und das noch im Foto
festgehalten sehen. Für die Werbung war der übliche Streit, der immer kommt,
wenn man Hitler ins Spiel bringt, kaum nötig. Im Londoner Kabinett steht der
ein wenig isoliert, in Hamburg mit zwei anderen Nazi-Größen in einer Pose, die
zu Nazi-Zeiten in Auftrag gegeben und nie geändert worden ist. Nur Berlin
wollte wieder alles besser machen: düstere Stimmung im Führerbunkerkurz vor dem
Ende, zu Hitler eine Infotafel und ein Fotografierverbot. Sophie Scholl und
Informationen zum Widerstand kamen gleich noch mit in den Raum. Das hätte an
Distanzierung genügen können, denn die Botschaft der Wachsfiguren ist im Grunde
für Diktatoren nicht nett: jeder ist ersetzbar in der Geschichte und ewig konzipierte
Reiche schmelzen wie Wachs. Aber das reichte dem jüngsten Hitler-Attentäter
nicht und er riß ihm den Kopf ab. Jetzt sitzt Hitler hinter Glas und wirkt noch
düsterer. Das Attentat zeigte der Welt, das die Deut-schen entschlossen sind,
keine Nazis mehr zu dulden.
Der Attentäter ermöglichte es den Betreibern wochen-lang zu spekulieren, ob der
kopflose Führer wieder aufgestellt werden würde. Und ob mit oder ohne Kopf, was
ja auch eine Möglichkeit gewesen wäre, somit die allerjüngste deutsche
Geschichte (das Wachs-Hitler-Attentat) gleich einbeziehend: denn die Darstellung
von Geschichte erzeugt schnell selbst History. Kleine Hitler zum Kopf abreißen
verkauft das Kabinett in seinem Souvenirshop noch nicht. Die Missbrauchmöglichkeiten
(in dem Fall: Hitler nicht zu verstümmeln) sind noch zu groß.
Bei der DDR hält sich das Kabinett mit Kommentierungen weitgehend zurück, man
will ja niemand als Gast verschrecken. Unzufrieden sind trotzdem viele. Neben
denen, die nicht drin sind, zum Beispiel Helmut Kohl. Er ließ gegen sein
Ebenbild klagen. Das gilt auch für die Erben von Franz-Joseph Strauss, die sich
an seinem Foto und der politische Einklassifizierung störten. Man könnte bei
lebenden Personen künftig zweimal eine Figur aufstellen: die autorisierte als
zweite daneben. Nur der regierende Bürgermeister Berlins zeigte sich wie immer
fröhlich entschlossen alles richtig zu finden und umarmte für die Presse den
Wachs-Wowi. „Den kann er sich mit seinem Dauerlächeln für die Politik ab und zu
ausleihen“, meinte ein Besucher im Vorbeigehen. „ Mehr als dem an politischen Vorschlägen
fällt dem Original auch nicht ein!“ konterte sein Begleiter.
Also es ist durchaus möglich, klüger aus dem Kabinett herauszukommen. Und dem
Skeptiker kommen ein paar zukunftsweisende Gedanken: Das demokratiestärkende
Potential des Wachs herausgekitzeln: Berühmtheiten zum Do-it-yourself-Kneten
anbieten. Und warum Menschen nicht dazu animieren, sich selbst in Wachs zu
formen? Man kann sich für Geld nicht alles kaufen – eine zuverlässige
Konjunktur oder zufriedene Menschen zum Beispiel - aber man kann für Geld
vieles herstellen. Und Wachs ist preisgünstig. Warum nicht eine Versteigerung
abhalten, bei der am Ende jemand den Zuschlag erhält, der in Wachs für ein Jahr
im Kabinett weilen darf. Falls nicht ein russischer Neu-Milliardär gleich das
gesamte Museum samt Inhalt kauft und es in St. Petersburg dreimal so groß und
prächtig errichten lässt.
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