Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 08.11.09 |
Hans Peter Balmer, Philosophische Ästhetik, Eine Einladung, Narr Francke Verlag, Tübingen 2009, 165 Seiten, kartoniert, ISBN: 978-3-7720-8315-0, Preis 19,90 Euro
von Stefan Groß
Wie bereits in seinem Montaigne-Buch, wo sich Hans Peter
Balmer dezidiert mit dem Thema des Gesunden Menschenverstandes
auseinandersetzte, steht auch im neuesten Werk Philosophische Ästhetik. Eine Einladung wiederum eine Philosophie
des Gesunden Menschenverstandes, diesmal aber eine Phänomenologie des sinnlichen
Erlebens und einer damit einhergehenden Ästhetik im Mittelpunkt.
Gegen jedwede starre Rationalität, die das Leben in das
Zwangskorsett reiner Vernünftigkeit pressen will, wird eine Ästhetik als
Gegenpol ins Spiel gebracht, die allen metaphysisch-ästhetischen Deduktionen den
Kampf ansagt. Anstelle des Logozentrismus, der die abendländische Philosophie-
und Geistesgeschichte von Platon über Leibniz bis hin in den deutschen
Idealismus prägte, plädiert Balmer für ein sensualistisches Wirkungsparadigma,
das sich aus den Quellen des Erlebens speist. Ästhetik wird für den Autor so,
ganz klassisch, zur Aisthesis, zur Quelle sinnlichen Daseins, das seine
Weltinterpretationsweisen gerade aus der Vielheit der sinnlichen Bezüge
ableitet. Das wirkungsästhetische Paradigma in der Nachfolge von Baumgarten,
Sulzer, Winckelmann u.a. wird dabei gegen eine Gehalts- und Regelästhetik
ausgespielt, die das sinnliche Erleben auf bloße Rationalität verkürzt und dann
zu einem unteren Empfindungsvermögen abwertet.
Gerade jedoch im emotional geprägten Umgang mit der
Wirklichkeit zeigt sich die unermeßliche Reichhaltigkeit des Lebens, die Vielschichtigkeit
des sinnlichen Erlebens, die erst einen adäquaten Zugang zum je individuellen
Sein ermöglicht und zu dessen existentieller Lebensqualität maßgeblich beisteuert
und beitragen kann.
Der sich auf sich selbst reduzierende Rationalismus, so wird
bereits auf den ersten Seiten deutlich, pervertiert sich gründlich, denn: Das
rein gehaltsästhetische Paradigma spekuliert an der Erfahrung vorbei, hebt die
sinnlich-ästhetische Wahrnehmung in die Reflexion auf und vernicht sie dort,
anstelle in das freie Spiel der ästhetischen Einbildungskraft einzutreten, um von
dieser dann die Virtuosität abzulauschen. Ein Rekurs auf eine normative
Philosophie des Schönen à la Platon, die sich auf eine rein idealistische
Ästhetik reduziert, bleibt im postmodernistischen Zeitalter unmöglich, denn „[…]
die positivistische Reduktion verfehlt den ästhetischen Bereich mit seiner
Interpretationsbedürftigkeit und seinem universalen Verweisungs- und
Symbolcharakter“ (S. 11). Und: „Es kommt darauf an, die Eigenständigkeit des
Ästhetischen zu achten und von dessen Lebendigkeit und unabsehbarer
Unterschiedenheit her an Metaphysik und Ontologie Veränderungen anzubringen
[…]. Ästhetisches Philosophien […] tendiert auf ‚Umwertung’, auf Post-Moderne“
(S. 11).
Mit dem Ästheten Baumgarten, der das Paradigma einer
Wirkungsästhetik aufgerichtet hatte, die mit dem deduktiven Geschäft
metaphysischer Ableitungen brach und sich gegen den Platonismus des Schönen
wendete, unterstreicht Balmer die Polyperspektivität der ästhetischen Wahrnehmung.
An die Stelle der ästhetischen Reflexion, die sich die sinnliche Wahrnehmung deutend
vereinnahmt und damit negativ aneignet, tritt das ästhetisch reflektierende
Subjekt, das sich als leib-geistige Einheit in Freiheit seiner Welt bemächtigt
und den festangestammten Platz der Rationalität okkupiert, um ihren Vormachtsanspruch
deutlich zu relativieren. Statt ästhetische Reduktion - also Weltaneignung durch
ästhetische Wahrnehmung. Die Welt entschlüsselt sich damit nicht mehr mittels
vorgegebener, objektiv-generalisierter ästhetischer Kategorien, einem
Interpretationsschema des A priori, sondern ganz deleuzianisch gesehen, in der
Eroberung der jeweiligen rhizomatischen Seins- und Sinnbezüge, was aber nicht
ausschließen soll, daß sich die neue Emotionalität von der Rationalität ganz abwendet,
denn wo dies geschieht, für Balmer in der Ästhetik des Faschismus, ist ein
blinder Irrationalismus nicht weit.
Worum es Balmer also letztendlich geht, ist eine Synthesis
zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, was er auch dann hervorhebt, wenn er
schreibt: „Indem das Individuum im Logischen wie auch im sensitiv-emotionalen
Bereich getreulich repräsentiert, was ist, stimmen Mikro- und Makrokosmos
zusammen“ (S. 24).
Balmer ist damit gar nicht so weit von Goethes
Kunstauffassung entfernt, die von den Sinnen ausgeht, von den unterschiedlichsten
Phänomen in ihrem immanenten Verweisungs- und Symbolcharakter, um von dort aus nach
dem Allgemeinen, der Ur-Idee, zu fragen, wobei dann das Besondere im
Allgemeinen enthalten ist und das Allgemeine als Besonders aufscheint.[1]
Die Ästhetik ist für Balmer „kein Reservat elitärer Subjektivität,
keine Sonderdomäne exaltierten Kunstschaffens, sie ist nicht Schein und auch
nichts Unverbindliches. Ganz im Gegenteil, als Zentraldimension bereits des
Alltagslebens ist das Ästhetische grundlegend für die Erfahrung und Gestaltung
von Wirklichkeit überhaupt“ (S. 26).
Kurzum: Balmers Philosophische
Ästhetik ist tatsächlich eine Einladung, sich mit der Geschichte der
Philosophie des Schönen in den letzten zweihundert Jahren vertraut zu machen.
Sprachlich eindrucksvoll und verständlich geschrieben, gibt das kleine Werk
einen hervorragenden Einblick in ein Stück Philosophiegeschichte, das darüber
hinaus – in Einzelanalysen –, die zentralen und entscheidenden ästhetischen
Philosopheme von Baumgarten, Kant, Schiller, der Romantik, dem Deutschen
Idealismus, Kierkegaard, Nietzsche und Dewey abhandelt. Für alle ästhetisch
Interessierten ist Balmers Buch daher mit gutem Gewissen zu empfehlen.
[1] Der Gedanke einer synthetischen Ästhetik ist bereits grundlegend im
Werk des Thüringer Philosophen Karl Christian Friedrich Krause angelegt, der in
seiner Philosophie des Schönen Wirkungs- und Gehaltsästhetik miteinander
harmonisch verbindet.
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