Erschienen in Ausgabe: No. 34 (4/2008) | Letzte Änderung: 23.12.08 |
Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer internationalen Weltordnung
von Jürgen Habermas
Der
Privatisierungswahn ist an sein Ende gekommen. Nicht der Markt,
sondern die Politik ist für das Gemeinwohl zuständig: Ein Gespräch
mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer
internationalen Weltordnung
DIE
ZEIT: Herr Habermas, das internationale Finanzsystem ist
kollabiert, es droht eine Weltwirtschaftskrise. Was beunruhigt Sie am
meisten?
Jürgen
Habermas: Was mich am meisten beunruhigt, ist die
himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass die
sozialisierten Kosten des Systemversagens die verletzbarsten sozialen
Gruppen am härtesten treffen. Nun wird die Masse derer, die ohnehin
nicht zu den Globalisierungsgewinnern gehören, für die
realwirtschaftlichen Folgen einer vorhersehbaren Funktionsstörung
des Finanzsystems noch einmal zur Kasse gebeten. Und dies nicht wie
die Aktienbesitzer in Geldwerten, sondern in der harten Währung
ihrer alltäglichen Existenz. Auch im globalen Maßstab vollzieht
sich dieses strafende Schicksal an den ökonomisch schwächsten
Ländern. Das ist der politische Skandal. Jetzt mit dem Finger auf
Sündenböcke zu zeigen, halte ich allerdings für Heuchelei. Auch
die Spekulanten haben sich im Rahmen der Gesetze konsequent nach der
gesellschaftlich anerkannten Logik der Gewinnmaximierung verhalten.
Die Politik macht sich lächerlich, wenn sie moralisiert, statt sich
auf das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers zu stützen. Sie
und nicht der Kapitalismus ist für die Gemeinwohlorientierung
zuständig.
ZEIT:
Sie haben gerade Vorlesungen an der Universität Yale gehalten. Was
waren für Sie die eindrücklichsten Bilder dieser Krise?
Habermas:
Über die Bildschirme flimmerte die hoppersche Melancholie
der Endlosschleife langer Reihen verlassener Häuschen in Florida und
anderswo – mit dem Schild »Foreclosure« im Vorgarten.
Anschließend die Busse mit den neugierigen Kaufinteressenten aus
Europa und den Reichen aus Lateinamerika, und dann der Makler, der
ihnen im Schlafzimmer die aus Wut und Verzweiflung zerstörten
Wandschränke zeigt. Nach meiner Rückkehr hat mich überrascht, wie
sehr sich die aufgeregte Stimmung in den USA vom gleichmütigen
business as usual hierzulande unterscheidet. Dort verbanden sich die
höchst realen wirtschaftlichen Ängste mit der heißen Endphase
eines der folgenreichsten Wahlkämpfe. Die Krise hat auch den breiten
Wählerschichten ihre persönliche Interessenlage schärfer zu
Bewusstsein gebracht. Sie nötigte die Leute nicht notwendig zu
vernünftigeren, aber zu rationaleren Entscheidungen – jedenfalls
im Vergleich zur letzten, durch Nine-Eleven ideologisch
aufgeputschten Präsidentschaftswahl. Diesem zufälligen
Zusammentreffen wird Amerika, wie ich unmittelbar vor der Wahl
anzunehmen wage, den ersten schwarzen Präsidenten verdanken – und
damit einen tiefen historischen Einschnitt in der Geschichte seiner
politischen Kultur. Darüber hinaus könnte aber die Krise auch in
Europa einen Wechsel der politischen Großwetterlage ankündigen.
ZEIT:
Was meinen Sie damit?
Habermas:
Solche Gezeitenwechsel verändern die Parameter der öffentlichen
Diskussion; damit verschiebt sich das Spektrum der für möglich
gehaltenen politischen Alternativen. Mit dem Koreakrieg ging die
Periode des New Deal zu Ende, mit Reagan und Thatcher und dem
Abflauen des Kalten Krieges die Zeit der sozialstaatlichen Programme.
Und heute ist mit dem Ende der Bush-Ära und dem Zerplatzen der
letzten neoliberalen Sprechblasen auch die Programmatik von Clinton
und New Labour ausgelaufen. Was kommt jetzt? Ich hoffe, dass die
neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen, sondern zur
Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen
Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den
Prüfstand.
ZEIT:
Für Neoliberale ist der Staat nur ein Mitspieler auf dem
ökonomischen Feld. Er soll sich kleinmachen. Ist dieses Denken nun
diskreditiert?
Habermas:
Das hängt vom Verlauf der Krise ab, von der Wahrnehmungsfähigkeit
der politischen Parteien, von den öffentlichen Themen. In der
Bundesrepublik herrscht ja noch eine eigentümliche Windstille.
Blamiert hat sich die Agenda, die Anlegerinteressen eine
rücksichtslose Dominanz einräumt, die ungerührt wachsende soziale
Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats, Kinderarmut,
Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die mit ihrem
Privatisierungswahn Kernfunktionen des Staates aushöhlt, die die
deliberativen Reste der politischen Öffentlichkeit an
renditesteigernde Finanzinvestoren verscherbelt, Kultur und Bildung
von den Interessen und Launen konjunkturempfindlicher Sponsoren
abhängig macht.
ZEIT:
Und nun, in der Finanzkrise, werden die Folgen des
Privatisierungswahns sichtbar?
Habermas:
In den USA verschärft die Krise die schon jetzt sichtbaren
materiellen und moralischen, sozialen und kulturellen Schäden einer
von Bush auf die Spitze getriebenen Politik der Entstaatlichung. Die
Privatisierung der Alters- und Gesundheitsvorsorge, des öffentlichen
Verkehrs, der Energieversorgung, des Strafvollzuges, militärischer
Sicherungsaufgaben, weiter Bereiche der Schul- und
Universitätsausbildung und das Ausliefern der kulturellen
Infrastruktur von Städten und Gemeinden an das Engagement und die
Großherzigkeit privater Stifter gehören zu einem
Gesellschaftsdesign, das in seinen Risiken und Auswirkungen mit den
egalitären Grundsätzen eines sozialen und demokratischen
Rechtsstaates schlecht zusammenpasst.
ZEIT:
Staatliche Bürokratien können einfach nicht rentabel
wirtschaften.
Habermas:
Aber es gibt verletzbare Lebensbereiche, die wir den Risiken der
Börsenspekulation nicht aussetzen dürfen; dem widerspricht die
Umstellung der Altersversorgung auf Aktien. Im demokratischen
Verfassungsstaat gibt es auch öffentliche Güter wie die unverzerrte
politische Kommunikation, die nicht auf die Renditeerwartungen von
Finanzinvestoren zugeschnitten werden dürfen. Das
Informationsbedürfnis von Staatsbürgern kann nicht von der
konsumreifen Häppchenkultur eines flächendeckenden Privatfernsehens
befriedigt werden.
ZEIT:
Haben wir es, um ein kontrovers diskutiertes Buch von Ihnen zu
zitieren, mit einer »Legitimationskrise des Kapitalismus« zu tun?
Habermas:
Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des
Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der
kapitalistischen Dynamik von innen gehen. Schon während der
Nachkriegszeit war die Sowjetunion für die Masse der
westeuropäischen Linken keine Alternative. Deswegen habe ich 1973
von Legitimationsproblemen »im« Kapitalismus gesprochen. Und die
stehen wieder, je nach nationalem Kontext mehr oder weniger
dringlich, auf der Tagesordnung. Ein Symptom sind die Forderungen
nach Begrenzung der Managergehälter oder nach Abschaffung der golden
parachutes, der unsäglichen Abfindungen und Bonuszahlungen.
ZEIT:
Das ist doch Politik fürs Schaufenster. Im nächsten Jahr sind
Wahlen.
Habermas:
Stimmt, das ist natürlich symbolische Politik und eignet sich zum
Ablenken vom Versagen der Politiker und ihrer
wirtschaftswissenschaftlichen Berater. Die wussten seit Langem über
den Regelungsbedarf der Finanzmärkte Bescheid. Ich habe mir gerade
Helmut Schmidts glasklaren Artikel Beaufsichtigt die neuen
Großspekulanten! vom Februar 2007 noch einmal durchgelesen
(ZEIT Nr. 6/07). Alle wussten es. Aber in Amerika und
Großbritannien haben die politischen Eliten die ungezügelte
Spekulation, solange es eben gut ging, für nützlich gehalten. Und
auf dem europäischen Kontinent hat man sich dem Washington-Konsens
gebeugt. Auch hier gab es eine breite Koalition der Willigen, für
die Herr Rumsfeld nicht zu werben brauchte.
ZEIT:
Der Washington-Konsens war das berühmt-berüchtigte
Wirtschaftskonzept von IWF und Weltbank aus dem Jahr 1990, mit dem
zuerst Lateinamerika und dann die halbe Welt reformiert werden
sollte. Seine zentrale Botschaft lautete: Trickle down.
Lasst die Reichen reicher werden, dann sickert der Wohlstand schon zu
den Armen.
Habermas:
Seit vielen Jahren häufen sich die empirischen Belege dafür, dass
diese Prognose falsch ist. Die Effekte der Wohlstandssteigerung sind
national und weltweit so asymmetrisch verteilt, dass sich die
Armutszonen vor unser aller Augen ausgebreitet haben.
ZEIT:
Um etwas Vergangenheitsbewältigung zu betreiben: Warum ist der
Wohlstand so ungleich verteilt? Hat das Ende der kommunistischen
Bedrohung den westlichen Kapitalismus enthemmt?
Habermas:
Mit dem nationalstaatlich beherrschten, durch keynesianische
Wirtschaftspolitiken eingehegten Kapitalismus, der ja den
OECD-Ländern einen aus historischer Sicht unvergleichlichen
Wohlstand beschert hat, war es schon früher am Ende – nach der
Preisgabe des Systems der festen Wechselkurse und dem Ölschock. Die
ökonomische Lehre der Chicago-Schule ist bereits unter Reagan und
Thatcher zur praktischen Gewalt geworden. Das hat sich unter Clinton
und New Labour – auch während der Ministerzeit unseres jüngsten
Helden Gordon Brown – nur fortgesetzt. Allerdings hat der
Zusammenbruch der Sowjetunion im Westen einen fatalen Triumphalismus
ausgelöst. Das Gefühl, weltgeschichtlich recht bekommen zu haben,
übt eine verführerische Wirkung aus. In diesem Fall hat es eine
wirtschaftspolitische Lehre zu einer Weltanschauung aufgebläht, die
alle Lebensbereiche penetriert.
ZEIT:
Der Neoliberalismus ist eine Lebensform. Alle Bürger sollen zu
Unternehmern und zu Kunden werden…
Habermas:
…und zu Konkurrenten. Der Stärkere, der sich in der freien
Wildbahn der Konkurrenzgesellschaft durchsetzt, darf sich diesen
Erfolg als persönliches Verdienst anrechnen lassen. Es ist von
abgründiger Komik, wie Wirtschaftsmanager – und nicht nur die –
dem Elitegeschwätz unserer Talkrunden auf den Leim gehen, sich allen
Ernstes als Vorbilder feiern lassen und mental den Rest der
Gesellschaft unter sich lassen. Als könnten sie nicht mehr
unterscheiden zwischen funktionalen und
ehrpusselig-ständegesellschaftlichen Eliten. Was, bitte, soll am
Charakter von Leuten in Führungspositionen, die ihre Arbeit halbwegs
ordentlich tun, exemplarisch sein? Ein weiteres Alarmzeichen war die
Bush-Doktrin vom Herbst 2002, die die Irakinvasion vorbereitet hat.
Das sozialdarwinistische Potenzial des Marktfundamentalismus hat sich
seitdem nicht mehr nur in der Gesellschaftspolitik, sondern auch in
der Außenpolitik entfaltet.
ZEIT:
Aber es war ja nicht Bush allein. Ihm stand eine erstaunliche Schar
einflussreicher Intellektueller zur Seite.
Habermas:
Und viele haben nichts hinzugelernt. Bei Vordenkern wie Robert Kagan
tritt nach dem Irakdesaster das Denken in Carl Schmittschen
Wolfs-Kategorien noch deutlicher hervor. Den regressiven Absturz der
Weltpolitik in ein atomar bewaffnetes, hochbrisantes Machtgerangel
kommentiert er heute mit den Worten: »Die Welt ist wieder normal
geworden.«
ZEIT:
Aber noch einmal zurück: Was wurde nach 1989 versäumt? Ist das
Kapital schlicht zu mächtig geworden gegenüber der Politik?
Habermas:
Mir ist im Laufe der neunziger Jahre klar geworden, dass die
politischen Handlungskapazitäten den Märkten auf supranationaler
Ebene nachwachsen müssen. Danach sah es ja auch in den frühen
neunziger Jahren zunächst aus. George Bush der Ältere sprach
programmatisch von einer Neuen Weltordnung und schien auch die lange
Zeit blockierten – und verächtlich gemachten! – Vereinten
Nationen in Anspruch nehmen zu wollen. Die vom Sicherheitsrat
beschlossenen humanitären Interventionen stiegen zunächst
sprunghaft an. Der politisch gewollten wirtschaftlichen
Globalisierung hätten eine weltweite politische Koordination und die
weitere Verrechtlichung der internationalen Beziehungen folgen
sollen. Aber die ersten ambivalenten Ansätze sind schon unter
Clinton stecken geblieben. Dieses Defizit bringt die gegenwärtige
Krise wieder zu Bewusstsein. Seit den Anfängen der Moderne müssen
Markt und Politik immer wieder so ausbalanciert werden, dass das Netz
der solidarischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer
politischen Gemeinschaft nicht reißt. Eine Spannung zwischen
Kapitalismus und Demokratie bleibt immer bestehen, weil Markt und
Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Auch nach dem
letzten Globalisierungsschub verlangt die Flut der in komplexer
gewordenen Netzwerken freigesetzten dezentralisierten
Wahlentscheidungen nach Regelungen, die es ohne eine entsprechende
Erweiterung von politischen Verfahren der Interessenverallgemeinerung
nicht geben kann.
ZEIT:
Aber was heißt das? Sie halten an Kants Kosmopolitismus fest und
nehmen die von Carl Friedrich von Weizsäcker ins Spiel gebrachte
Idee einer Weltinnenpolitik auf. Mit Verlaub, das klingt ziemlich
illusionär. Man muss sich doch nur den Zustand der Vereinten
Nationen anschauen.
Habermas:
Selbst eine gründliche Reform der Kerninstitutionen der Vereinten
Nationen wäre nicht ausreichend. Gewiss, der Sicherheitsrat, das
Sekretariat, die Gerichtshöfe, überhaupt die Kompetenzen und
Verfahren dieser Institutionen müssten dringend für eine globale
Durchsetzung des Gewaltverbots und der Menschenrechte fit gemacht
werden – für sich genommen schon eine immense Aufgabe. Aber selbst
wenn sich die UN-Charta zu einer Art Verfassung der internationalen
Gemeinschaft entwickeln ließe, fehlte in diesem Rahmen immer noch
ein Forum, auf dem sich die bewaffnete Machtpolitik der Weltmächte
in institutionalisierte Verhandlungen über die regelungsbedürftigen
Probleme der Weltwirtschaft, der Klima- und Umweltpolitik, der
Verteilung umkämpfter Energieressourcen, knapper Trinkwasserbestände
und so weiter verwandelt. Auf dieser transnationalen Ebene entstehen
Verteilungsprobleme, die nicht in derselben Art wie
Menschenrechtsverstöße oder Verletzungen der internationalen
Sicherheit – letztlich als Straftatbestände – entschieden werden
können, sondern politisch ausgehandelt werden müssen.
ZEIT:
Dafür gibt es doch schon eine bewährte Einrichtung: die
G8.
Habermas:
Das ist ein exklusiver Club, in dem einige dieser Fragen
unverbindlich besprochen werden. Zwischen den überspannten
Erwartungen, die sich an diese Inszenierungen knüpfen, und dem
dürftigen Ertrag der folgenlosen Medienspektakel besteht übrigens
ein verräterisches Missverhältnis. Der illusionäre Erwartungsdruck
zeigt, dass die Bevölkerungen die ungelösten Probleme einer
künftigen Weltinnenpolitik sehr wohl wahrnehmen – und vielleicht
stärker empfinden als ihre Regierungen.
ZEIT:
Die Rede von »Weltinnenpolitik« klingt eher nach den Träumen eines
Geistersehers.
Habermas:
Noch gestern hätten es die meisten für unrealistisch gehalten, was
heute passiert: Die europäischen und asiatischen Regierungen
überbieten sich im Hinblick auf die fehlende Institutionalisierung
der Finanzmärkte mit Regulierungsvorschlägen. Auch SPD und CDU
machen Vorschläge zu Bilanzpflicht und Eigenkapitalbildung, zur
persönlichen Haftung der Manager, zur Verbesserung der Transparenz,
der Börsenaufsicht und so weiter. Von einer Börsenumsatzsteuer, die
schon ein Stück globaler Steuerpolitik wäre, ist freilich nur
gelegentlich die Rede. Die vollmundig angestrebte neue »Architektur
des Finanzsystems« wird gegen Widerstände aus den USA ohnehin nicht
einfach durchzusetzen sein. Aber ob sie angesichts der Komplexität
dieser Märkte und der weltweiten Interdependenz der wichtigsten
Funktionssysteme überhaupt genügen würde? Völkerrechtliche
Verträge, an die die Parteien heute denken, können jederzeit
aufgekündigt werden. Daraus entsteht noch kein wetterfestes Regime.
ZEIT:
Selbst wenn dem Weltwährungsfonds neue Kompetenzen übertragen
würden, wäre das noch keine Weltinnenpolitik.
Habermas:
Ich will keine Voraussagen machen. Angesichts der Probleme können
wir bestenfalls konstruktive Überlegungen anstellen. Die
Nationalstaaten müssten sich zunehmend, und zwar im eigenen
Interesse, als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verstehen.
Das ist das dickste Brett, das in den nächsten Jahrzehnten zu bohren
wäre. Wenn wir mit dem Blick auf diese Bühne von »Politik« reden,
meinen wir oft noch das Handeln von Regierungen, die das
Selbstverständnis von souverän entscheidenden kollektiven Akteuren
geerbt haben. Doch dieses Selbstverständnis eines Leviathan, das
sich seit dem 17. Jahrhundert zusammen mit dem europäischen
Staatensystem entwickelt hat, ist schon heute nicht mehr ungebrochen.
Was wir bis gestern »Politik« nannten, ändert täglich seinen
Aggregatzustand.
ZEIT:
Aber wie passt das zum Sozialdarwinismus, der sich, wie Sie sagen,
seit Nine-Eleven in der Weltpolitik wieder breitmacht?
Habermas:
Vielleicht sollte man einen Schritt zurücktreten und auf einen
größeren Zusammenhang schauen. Seit dem späten 18. Jahrhundert
haben Recht und Gesetz die politisch verfasste Regierungsgewalt
durchdrungen und ihr im Binnenverkehr den substanziellen Charakter
einer bloßen »Gewalt« abgestreift. Nach außen hat sie sich von
dieser Substanz allerdings genug bewahrt – trotz des wuchernden
Geflechts von internationalen Organisationen und der zunehmenden
Bindungskraft des internationalen Rechts. Dennoch ist der
nationalstaatlich geprägte Begriff des »Politischen« im Fluss.
Innerhalb der Europäischen Union haben beispielsweise die
Mitgliedstaaten nach wie vor das Gewaltmonopol inne und setzen
gleichwohl das Recht, das auf supranationaler Ebene beschlossen wird,
mehr oder weniger klaglos um. Dieser Formwandel von Recht und Politik
hängt auch mit einer kapitalistischen Dynamik zusammen, die sich als
ein Wechselspiel von funktional erzwungener Öffnung und
sozialintegrativer Schließung auf jeweils höherem Niveau
beschreiben lässt.
ZEIT:
Der Markt sprengt die Gesellschaft auf, und der Sozialstaat schließt
sie wieder?
Habermas:
Der Sozialstaat ist eine späte und, wie wir erfahren, fragile
Errungenschaft. Die expandierenden Märkte und Kommunikationsnetze
hatten immer schon eine aufsprengende, für den einzelnen Bürger
zugleich individualisierende und befreiende Kraft; darauf ist aber
stets eine Reorganisation der alten Solidarverhältnisse in einem
erweiterten institutionellen Rahmen erfolgt. Dieser Prozess hat in
der frühen Moderne begonnen, als die hochmittelalterlichen
Herrschaftsstände in den neuen Territorialstaaten schrittweise
parlamentarisiert – Beispiel England – oder – Beispiel
Frankreich – durch absolutistische Könige mediatisiert worden
sind. Der Vorgang hat sich im Gefolge der Verfassungsrevolutionen des
18. und 19. Jahrhunderts und der Sozialstaatsgesetzgebungen des 20.
Jahrhunderts fortgesetzt. Diese rechtliche Zähmung des Leviathan und
des Klassenantagonismus war keine einfache Sache. Aber aus denselben
funktionalen Gründen weist die gelungene Konstitutionalisierung von
Staat und Gesellschaft heute, nach dem weiteren Schub der
wirtschaftlichen Globalisierung, in die Richtung einer
Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der zerrissenen
Weltgesellschaft.
ZEIT:
Welche Rolle spielt Europa in diesem optimistischen Szenario?
Habermas:
Eine andere als die, die es in der Krise tatsächlich gespielt hat.
Ich verstehe nicht ganz, warum das Krisenmanagement der Europäischen
Union so gelobt wird. Gordon Brown konnte mit seiner denkwürdigen
Entscheidung den amerikanischen Finanzminister Paulson zu einer
Kehrtwende in der Interpretation des mühsam beschlossenen bailout
bewegen, weil er über den französischen Präsidenten und gegen das
anfängliche Widerstreben von Merkel und Steinbrück die wichtigsten
Spieler der Euro-Zone an Bord geholt hat. Man muss sich diesen
Verhandlungsprozess und dessen Ergebnis nur genau anschauen. Es waren
doch die drei mächtigsten in der EU vereinten Nationalstaaten, die
als souverän handelnde Akteure vereinbart haben, ihre jeweils
verschiedenen, aber gleichgerichteten Maßnahmen zu koordinieren.
Trotz der Anwesenheit der Herren Juncker und Barroso hat das
Zustandekommen dieser internationalen Vereinbarung klassischen Stils
kaum etwas mit einer gemeinsamen politischen Willensbildung der
Europäischen Union zu tun. Die New York Times hat denn auch
die europäische Unfähigkeit zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik
nicht ohne eine gewisse Häme registriert.
ZEIT:
Und worauf führen Sie diese Unfähigkeit zurück?
Habermas:
Der weitere Verlauf der Krise macht ja den Makel der europäischen
Konstruktion offenbar: Jedes Land reagiert mit eigenen
wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Weil die Kompetenzen in der Union,
vereinfacht gesagt, so verteilt sind, dass Brüssel und der
Europäische Gerichtshof die Wirtschaftsfreiheiten durchsetzen,
während die dadurch entstehenden externen Kosten auf die
Mitgliedsländer abgewälzt werden, gibt es heute keine gemeinsame
wirtschaftspolitische Willensbildung. Die wichtigsten Mitgliedstaaten
sind schon über die Grundsätze, wie viel Staat und wie viel Markt
man überhaupt will, zerstritten. Und jedes Land betreibt seine
eigene Außenpolitik, allen voran die Bundesrepublik. Die Berliner
Republik vergisst bei aller sanften Diplomatie die Lehren, die die
alte Bundesrepublik aus der Geschichte gezogen hatte. Die Regierung
reckt sich mit Wohlgefallen in ihrem seit 1989/90 erweiterten
außenpolitischen Handlungsspielraum und fällt zurück ins bekannte
Muster der nationalen Machtspiele zwischen Staaten, die doch längst
auf das Format von Duodezfürstentümern geschrumpft sind.
ZEIT:
Und was sollten diese Duodezfürsten tun?
Habermas:
Sie fragen mich nach meiner Wunschliste? Da ich die abgestufte
Integration nach Lage der Dinge für den einzig möglichen Weg zu
einer handlungsfähigen Europäischen Union halte, bietet sich
Sarkozys Vorschlag zu einer Wirtschaftsregierung der Euro-Zone als
Anknüpfungspunkt an. Das bedeutet ja nicht, dass man sich damit
schon auf die etatistischen Hintergrundannahmen und
protektionistischen Absichten ihres Initiators einlassen würde.
Verfahren und politische Ergebnisse sind zweierlei. Der »engeren
Zusammenarbeit« auf wirtschaftspolitischem Gebiet würde dann eine
in der Außenpolitik folgen müssen. Und beides könnte nicht länger
über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg ausgekungelt werden.
ZEIT:
Das unterstützt ja nicht einmal die SPD.
Habermas:
Die SPD-Führung überlässt es dem Christdemokraten Jürgen
Rüttgers, dem »Arbeiterführer« an Rhein und Ruhr, in diese
Richtung zu denken. In ganz Europa stehen die sozialdemokratischen
Parteien mit dem Rücken zur Wand, weil sie bei schrumpfenden
Einsätzen Nullsummenspiele betreiben müssen. Warum ergreifen sie
nicht die Chance, aus ihren nationalstaatlichen Käfigen auszubrechen
und sich auf europäischer Ebene neue Handlungsspielräume zu
erschließen? Auch gegenüber einer regressiven Konkurrenz von links
könnten sie sich so profilieren. Was immer heute »links« und
»rechts« bedeuten mag, nur gemeinsam könnten die Euro-Länder ein
weltpolitisches Gewicht erlangen, das ihnen eine vernünftige
Einflussnahme auf die Agenda der Weltwirtschaft erlaubt. Sonst
liefern sie sich als Onkel Sams Pudel an eine ebenso gefährliche wie
chaotische Weltlage aus.
ZEIT:
Stichwort Onkel Sam – Sie müssten doch von den USA tief enttäuscht
sein. Für Sie waren die USA das Zugpferd der neuen Weltordnung.
Habermas:
Was bleibt uns anderes übrig, als auf dieses Zugpferd zu setzen? Die
USA werden aus der jetzigen Doppelkrise geschwächt hervorgehen. Aber
sie bleiben einstweilen die liberale Supermacht und befinden sich in
einer Lage, die es ihnen nahelegt, das neokonservative
Selbstverständnis des paternalistischen Weltbeglückers gründlich
zu revidieren. Der weltweite Export der eigenen Lebensform entsprang
dem falschen, dem zentrierten Universalismus alter Reiche. Die
Moderne zehrt demgegenüber von dem dezentrierten Universalismus der
gleichen Achtung für jeden. Es liegt im eigenen Interesse der USA,
nicht nur ihre kontraproduktive Einstellung gegenüber den Vereinten
Nationen aufzugeben, sondern sich an die Spitze der Reformbewegung zu
setzen. Historisch gesehen, bietet das Zusammentreffen von vier
Faktoren – Supermacht, älteste Demokratie auf Erden, Amtsantritt
eines, wie ich hoffe, liberalen und visionären Präsidenten sowie
eine politische Kultur, in der normative Orientierungen einen
bemerkenswerten Resonanzboden finden – eine unwahrscheinliche
Konstellation. Amerika ist heute tief verunsichert durch das
Scheitern des unilateralistischen Abenteuers, durch die
Selbstzerstörung des Neoliberalismus und den Missbrauch seines
exzeptionalistischen Bewusstseins. Warum sollte sich diese Nation
nicht, wie so oft, wieder aufrappeln und versuchen, die
konkurrierenden Großmächte von heute – die Weltmächte von morgen
– rechtzeitig in eine internationale Ordnung einzubinden, die keine
Supermacht mehr nötig hat? Warum sollte ein Präsident, der – aus
einer Schicksalswahl hervorgegangen – im Inneren nur noch einen
minimalen Handlungsspielraum vorfindet, nicht wenigstens
außenpolitisch diese vernünftige Chance, diese Chance der Vernunft
ergreifen wollen?
ZEIT:
Sogenannten Realisten würden Sie damit nur ein müdes
Lächeln entlocken.
Habermas:
Ich weiß, dass vieles dagegen spricht. Der neue amerikanische
Präsident müsste sich gegen die von der Wall Street abhängigen
Eliten in der eigenen Partei durchsetzen; er müsste wohl auch von
den naheliegenden Reflexen eines neuen Protektionismus abgehalten
werden. Und die USA würden für eine derart radikale Kehrtwende den
freundschaftlichen Antrieb eines loyalen, aber selbstbewussten
Bündnispartners brauchen. Einen im kreativen Sinne »bipolaren«
Westen kann es freilich nur geben, wenn die EU lernt, nach außen mit
einer Stimme zu sprechen und, tja, das international angesparte
Vertrauenskapital zu nutzen, um selber weitsichtig zu handeln. Das
»Ja, aber…« liegt auf der Hand. In Krisenzeiten braucht man
vielleicht eher eine etwas weiter ausgreifende Perspektive als den
Rat des Mainstreams und das Klein-Klein des bloßen
Durchwurschtelns.
Das Gespräch führte Thomas
Assheuer
Er ist der wohl einflussreichste deutsche Philosoph und findet weltweit Gehör. Wie kein Zweiter prägt der 79-Jährige die Debatten der Gegenwart. Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn unter anderem Philosophie, Geschichte, Psychologie und Ökonomie. Nach seiner Promotion über Schellings »Weltalterphilosophie« kam er als Assistent von Theodor W. Adorno in Kontakt mit der Frankfurter Schule. Erstes Aufsehen erregte Habermas mit einem 1953 in der »FAZ« publizierten Angriff auf Martin Heidegger, dem er die Rehabilitierung des Nationalsozialismus vorwarf. Ein breites Echo löste auch seine Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit«aus. 1964 folgte Habermas dem Philosophen Max Horkheimer auf den Frankfurter Lehrstuhl und wurde zu einem intellektuellen Anreger der 68er-Bewegung, mit deren radikalen Vertretern er sich aber rasch überwarf. Sein Hauptwerk, die »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981),beschreibt das Ideal einer Demokratie, deren kritischer Maßstab das verständigungsorientierte Gespräch aller Bürger ist. Die Öffentlichkeit, das diskursive Herz dieser Gesellschaft, dürfe von keinem Systemimperativ »kolonisiert« werden – auch nicht von der Wirtschaft.
Der Nachdruck des Interviews von Thomas Assheuer und Jürgen Habermas erfolgt durch freundliche Genehmigung von Professor Dr. Habermas und Thomas Brackvogel. (Quelle: DIE ZEIT, 06.11.2008 Nr. 46)
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