Erschienen in Ausgabe: No 48 (2/2010) | Letzte Änderung: 21.01.10 |
von Michael Lausberg
Rousseaus pädagogische
Gedanken haben in der europäischen Geisteswelt außerordentlich gewirkt, am
tiefsten aber wohl in Deutschland.[1] Sie
förderten vor allem jene schulreformatorischen Bestrebungen der deutschen Aufklärung,
die sich um 1770 in dem Kreise der so genannten Philanthropen
(„Menschenfreunde“) verdichteten. Zu ihnen gehörten Personen wie Johann
Bernhard Basedow, Christian Gotthilf Salzmann, Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp
oder Friedrich Eberhard von Rochow.[2] Basedows
Schule Philanthropin in Dessau, die im Jahre 1774 eröffnet wurde, war ein
Kristallisationspunkt dieser Tendenzen.
Philanthropine
oder „Werkstätten der Menschenfreundschaft“[3]
standen am Beginn moderner Schulreform. Sie waren Ausdruck eines pädagogischen
Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts in Deutschland. Ihre programmatische Aufgabe bestand darin,
neue und alternative schulpädagogische Impulse zur Reorganisation von Bildung
und Erziehung zu entwickeln. Theoriegeschichtlich waren für die Genese des
pädagogischen Programms des Philanthropismus die Schriften von John Locke
(1632-1704)[4], Christian Fürchtegott
Gellert (1715-1769)[5] und Johann Andreas Cramer
(1723-1788)[6] verantwortlich.
Die
Philanthropen wollten also eine „vernünftig-natürliche“ Erziehung. An der
Bildung des Intellekts ist ihnen ebenso gelegen wie an Naturnähe und
Einfachheit aller Lebensverhältnisse. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung und
Landleben spielten eine große Rolle; auf die Philanthropen geht der
Turnunterricht zurück.[7]
Ganz im
Gegensatz zu Rousseau wollten sie den Erwerbssinn wecken und die
Berufsfähigkeit direkt steigern. Ihr Bestreben war es, dass der Mensch
möglichst schnell zum tüchtigen, praktischen und aufgeklärten Bürger wurde.
Die Erziehung
war an Interesse und Vermitteln von Lust geprägt, Strafen waren verpönt. Ein
ganzes System von Belohnungen, von Tugendnägeln und –biletts bis hin zu
besonderen Tugendorden wurde ausgebildet. Dem Bemühen der Philanthropen um
Lebensnähe und kindgerechte Lerninhalte verdankte eine neue Literaturgattung
ihre Existenz: das Jugendschrifttum.
Die
Philanthropine haben trotz ihrer nur kurzen Existenz – mit Ausnahme von
Schnepfenthal – für die Geschichte des pädagogischen Denkens und für die
Geschichte der Schule eine nachhaltige Wirkung und Bedeutung gehabt. Dafür sind
vor allem die folgenden Aspekte maßgebend:
1.In der Pädagogik der Philanthropine wurde ein
pädagogischer Paradigmenwechsel nicht nur gedacht, sondern auch in die Tat
umgesetzt. Nicht der Unterrichtsinhalt oder der Fächerkanon standen im
Mittelpunkt, sondern der neugierige und dadurch lernende sowie sich bildende
junge Mensch. Lernen können und sich dadurch selber verändern und ausbilden zu
können, war die große Entdeckung der Anthropologie der Aufklärung.
2.Philanthropine waren keine Standesschulen für
Standeserziehung (wie z.B. die Adelsschulen), sondern standen jungen Leuten
aller Stände und jeden Herkommens offen.
3.Leistung wird nur erbracht, wenn es dafür Motive gibt.
Die philanthropischen Pädagogen waren in erster Linie Psychologen, und sie
wussten aus Erfahrung, dass Lernen und Leistung sozialpsychologische Grundlagen
benötigt: die Weckung von Neugier und Ermutigung von eigenen Erkundungen und
Erprobungen, eine Sicherheit bietende pädagogisch förderliche Atmosphäre und
bestätigende Erfolgserlebnisse, Vorbilder und Regeln.
4.Die Philanthropine haben ein Bild des Lehrers geprägt,
das nicht dasjenige des Hauslehrers, des Schulmeisters oder des nüchternen
Gelehrten war, sondern des Freundes, Begleiters und Beraters der ihm
anvertrauten Menschen.
Johann
Bernhard Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über
Schulen und Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt, mit einem
Plan eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis“ aus dem Jahre 1768
enthielt einen kompletten Schulreformplan, in dem er die religiöse Toleranz der
Schule (gemeint waren Staatsschulen mit Religionsunterricht im Hauptbekenntnis
des Landes, die auch Andersgläubigen offen stehen sollten) eine zentrale
staatliche Oberbehörde für das Schulwesen und einen einheitlichen Aufbau des
Schulwesens.[8] Besonders trat er dabei
für Lehrerseminare, Schulbücher und den Eltern und Lehrern in die Hand zu
gebende Hilfsbücher ein. Als erster Beitrag erschienen von ihm ein
„Methodenbuch“ und Teile eines „Elementarbuches“, das 1774 als „Elementarwerk“
herauskam.
Er wurde 1771
nach Dessau berufen und eröffnete dort mit seinem Mitarbeiter Wolke das
Philanthropin als Musteranstalt.
Kant lobte das
Dessauer Philanthropin als „Pflanzschule der guten Erziehung“ in seinen
Vorlesungen und rief in der „Königsbergischen gelehrten und politischen
Zeitung“ öffentlich zu ihrer Unterstützung auf:[9] „Sie
(die Schulen M.L.) müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen
entstehen soll (…). Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle
Revolution kann dies bewirken. Und dazu gehört nichts weiter, als nur eine
Schule.“
Die Kritik an
den herrschenden Schulverhältnissen war ein hervorstechendes Merkmal:[10] „Der
Schulstaub liegt seit Jahrhunderten! Jung und Alt, was darin wandeln und athmen
muß, wird krank im Gehirn; eine zähe Rinde, durch welche Wahrheit und Gutes
kaum durchdringt, setzt sich um die Werkstatt der Vernunft. In der Brust
entsteht eine Schwindsucht der Zufriedenheit und der Liebe zu Menschen, selbst
schon in Frühlingsjahren. (…) Erbarmt euch Freunde der Frühlingsjahre!“
Die
Verheißungen der philanthropischen Pädagogik entsprachen den Hoffnungen und
Erwartungen der Befürworter der Aufklärung im 18. Jahrhundert:[11] „Natur,
Schule, Leben: ist Freundschaft unter diesen dreien, so wird der Mensch, was er
werden soll, aber nicht sofort kann: fröhlich in der Kindheit, munter und
wissbegierig in der Jugend, zufrieden und nützlich als Mann.“ Zur Verwirklichung
dieses pädagogischen Ideals sollten neue Unterrichtsmethoden im Philanthropin,
insbesondere aber zukünftige Lehrer unterrichtsnah ausgebildet werden.
Eine
Provokation für die Gegner aufgeklärter Geisteshaltung war die im Philanthropin
praktizierte Erziehung zur Menschenfreundschaft und religiösen Toleranz. Er
wandte sich scharf gegen den Einfluss der Kirche auf die Schule und forderte
darum ein staatliches Erziehungs- und Studienkolleg als Aufsichtsbehörde über
die Erziehung. Die pädagogische Praxis besaß den Anspruch, dass sie „von jedem
Gottesverehrer (er sei Christ, Jude, Mohammedaner oder Deist) gebilligt werden
konnte.“[12] Der gesamte Unterricht
und alle Lehrbücher des Philanthropins sollten „frei sein von theologisierenden
Entscheidungen für Christentum wider Juden, Mohammedaner und Deisten oder für
diese und jene Kirche wider die sogenannten Dissidenten derselben, welche an
einigen Orten Ketzer heißen (…). Denn der kosmopolitische Unterricht muß
allgemein sein und von der Geistlichkeit keiner Art widerraten werden können.“ [13]
Die
Realisierung des Programms der Erziehung zur Menschenfreundschaft und Toleranz
im Unterricht und im Internatsleben des Philanthropins hatte die bürgerliche
Intelligenz und Teile des aufgeklärten Adels im Blick. Deshalb war der
philanthropische Unterricht auch nicht als Standesbildung für zukünftige
Gelehrte geeignet. Gemeinnützige und utilitaristische Unterrichtsinhalte waren
zur Vorbereitung auf Berufe wie Kaufmann, Jurist, Arzt, Beamter, Offizier,
Architekt usw. gedacht. Die Eltern der Philanthropisten sollten auch den
wesentlichen Teil der Finanzierung des Privatinstitutes erbringen. Durch
freiwillige Beiträge, Schulgeld in beträchtlicher Höhe (250 Rthl. pro Schüler
im Jahr) und andere Einnahmen der Schule (Verkauf von Erziehungsschriften)
sollten Unabhängigkeit und Freiheit des Philanthropins gesichert werden. Trotz
hoher Spenden von Einzelpersonen, insbesondere auch durch den Dessauer Fürsten,
hatte das Philanthropin aber in jeder Phase seiner Entwicklung finanzielle Sorgen.
Die Existenz
der philanthropischen Musterschule war eine Kampfansage an das herrschende
Verständnis von Schule und Lernen, denn Basedow empfahl, den Unterricht
möglichst angenehm zu gestalten. Bildungsinhalte waren der muttersprachliche
Unterricht, moderne Sprachen, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik und
Naturkunde, handwerklich-praktische Unterweisung, Gartenarbeit, Wandern und
Turnen. Es existierten über 40 Lernspiele, fächerübergreifender Unterricht,
alle Sprachen sollten wie die Muttersprache erlernt werden.
Außerdem wurde
im Dessauer Philanthropin großen Wert auf eine Veränderung des traditionell
hierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern gelegt.[14] Dies
sollte eine Verbesserung des Lernklimas bewirken. Vorbild für die neue Sicht
des Lehrer-Schülerverhältnisses war die idealisierte bürgerliche Familie, in
der verständnisvolle Eltern mit gehorsamen Kindern freundschaftlich
zusammenlebten. Das Internatsleben hatte Ansätze zur Selbstverwaltung der
Schüler. Belohnungen (Meritentafeln, Lobbillets) und Ehrenstrafen spielten eine
große Rolle, und man liebte feierliche Arrangements und Schaustellungen aller
Art. Wie groß die Anteilnahme bedeutender Zeitgenossen war, wird durch die
Tatsache bewiesen, dass zu einem öffentlichen Examen u.a. von Rochow und Campe
erschienen.
Laut den
Schülerlisten des Philanthropins haben insgesamt 187 Schüler die Musterschule
für eine unterschiedlich lange Zeit besucht. Die Schülerliste belegt den
europäischen Charakter des Philanthropins, denn es kamen 23 Schüler aus
Livland, 7 aus Russland, 5 aus Kurland, 16 aus Österreich, Portugal und den
Niederlanden. Weitere 50 Schüler kamen aus anderen europäischen Ländern.
Abgesehen von
den finanziellen Problemen des Philanthropins waren die oft in persönlichen
Kränkungen abgleitenden, destruktiven Streitereien unter den Pädagogen für den
späteren Niedergang der Musterschule verantwortlich.
[1] Moll, M.: Grundzüge der
Erziehung, Köln 2001, S. 57
[2] Vgl. dazu Schmitt, H.:
Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung: Die Philanthropen, in: Tenorth, H.-E.
(Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Band 1, München 2003, S. 119-143
[3] Basedow, J. B.: Das in
Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter
Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, Leipzig 1774, in:
Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der
Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92, hier S. 84
[4] Vgl dazu Wohlers, H. (Hrsg.): John
Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1990 oder Stille, O.: Die Pädagogik
John Lockes in der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
[5] Engbers, J.: Der „Moral
Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg 2001
[6] Cramer, J.A.: Allgemeines
Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in
den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
[7] Vgl. dazu Berrett, H.: Die
pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die
Philanthropen, Stuttgart 1960
[8] Moll, Grundzüge der Erziehung,
a.a.O., S. 89
[9] Kant, I.: An das gemeine
Wesen, in: Groothoff/Reimers, Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer
Begründung, a.a.O., S. 62-65, hier S. 62
[10] Basedow, Das in Dessau
errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter
Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, a.a.O., in:
Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik,
a.a.O., S. 85
[11] Ebd. S. 86
[12] Basedow, J.B.:
Philanthropisches Archiv 1776, in: Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und
Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O., S. 93-151, hier S. 116
[13] Ebd. S. 117
[14] Finzel-Niederstadt, W.:
Lernen und Lehren bei Herder und Basedow, Köln 1986, S. 32
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