Erschienen in Ausgabe: No 47 (1/2010) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Helmut Schmidt
In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, davon sind 40 Millionen
erwerbstätig. Sie arbeiten Voll- oder Teilzeit, einige sind selbständig.
Weitaus die meisten sind Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsverhältnis. Die übrigen 42 Millionen Einwohner leben von dem
Sozialprodukt, welches die kleinere Hälfte der Einwohner hervorbringt (und von
unentgeltlichen Leistungen innerhalb der eigenen Familie oder Nachbarschaft). Die
Erwerbsquote liegt also deutlich unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Rund
21 Millionen Einwohner erhalten eine Rente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung; das sind etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1957 hatte
der Anteil nur rund 10 Prozent betragen, er wird aber weiterhin steigen. Etwa 6
Millionen Einwohner erhalten Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe (ihre Zahl
stagniert, bei einigen Schwankungen, seit Mitte der neunziger Jahre). Insgesamt
leben in Deutschland rund 27 Millionen Empfänger staatlicher Sozialleistungen,
von denen die allermeisten keine Einkommensteuern und keine
Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen haben.
Wer sich diese Zahlen und die weiter ansteigende Alterung unserer Gesellschaft
vor Augen führt, wird auf einen Blick zwei für die Zukunft grundlegende
Erkenntnisse gewinnen: Zum einen muß die Mehrzahl der Arbeitslosen in Lohn und
Brot gebracht werden, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates und
damit seine Sozial- und Rentenpolitik langfristig gesichert bleiben sollen. Zum
anderen muß ein weiteres dynamisches Anwachsen der Sozialleistungen gebremst
werden. Eine hohe Arbeitslosenrate und ein hoher Rentneranteil an der
Gesellschaft entsprechen einer niedrigen Erwerbsquote. Sollte es dabei bleiben,
könnte der Sozialstaat in ernste Gefahr geraten. Gegen Ende der achtziger Jahre
wurde das Problem bei uns erstmals erkannt. Aber seit der deutschen Vereinigung
1990 hat man vor dieser Gefahr lange Zeit die Augen verschlossen. Wir haben
zwar 1990 mit innerer Überzeugung den Artikel 20 des Grundgesetzes auf ganz
Deutschland ausgeweitet: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer
und sozialer Bundesstaat.« Tatsächlich aber haben wir den Sozialstaat seither
zunehmend in Gefahr gebracht.
Es liegt kein Trost darin, daß Deutschland in Westeuropa und in der
Europäischen Union nicht das einzige Land ist, das weder eine ausreichende
Erwerbsquote erreicht noch den Wohlfahrtsstaat auf eine für die Zukunft
ausreichende, finanziell gesunde Grundlage gestellt hat. Immerhin haben uns
einige der kleineren Nachbarstaaten gute Beispiele gegeben – besonders
Dänemark, Holland und Österreich. Daß die Staaten im Osten Mitteleuropas beim
Vergleich deutlich schlechter abschneiden als wir, ist ebenfalls wenig
tröstlich; Polen, Tschechien, Ungarn und andere werden noch Jahrzehnte unter
den strukturellen Folgen planwirtschaftlicher kommunistischer Zwangswirtschaft
leiden.
Tatsächlich ist der in Europa entworfene und weitgehend verwirklichte
Wohlfahrtsstaat die größte kulturelle Leistung, welche die Europäer während des
ansonsten schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben. In den
meisten europäischen Staaten ist der Anspruch auf öffentliche Sozialleistungen
gesetzlich verankert. In Deutschland umfaßt die soziale Absicherung eine Vielzahl
von Leistungen: Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld, Sozialhilfe, Bafög,
Leistungen während Elternzeit und Mutterschutz, Arbeitslosengeld und
Grundsicherung für Arbeitsuchende, Krankenversicherung, Kriegsopferversorgung,
Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Förderung der zusätzlichen
Altersvorsorge, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung usw.
Vor hundert Jahren gab es die Bismarcksche Alters- und Invaliditätsversicherung
– und sonst fast gar nichts. Seither haben wir schrittweise den heutigen
Wohlfahrtsstaat aufgebaut. Nur sehr zögernd sind einige außereuropäische
Staaten dem Beispiel der Europäer gefolgt. Die europäischen Bürger aber
erwarten von ihren Regierungen eine reibungslose Fortsetzung aller bisherigen
Sozialpolitik. Trotz aller strukturellen Veränderungen und trotz der
Überalterung ihrer Gesellschaften halten die allermeisten Menschen den
bisherigen Wohlfahrtsstaat für selbstverständlich. Sogenannte Neoliberale,
welche den Wohlfahrtsstaat prinzipiell zurückfahren wollen, gelten als
Außenseiter der Gesellschaft und werden es wohl auch bleiben.
Wenn wir aber das Problem der Massenarbeitslosigkeit, besonders der älteren
Jahrgänge und konzentriert im Osten Deutschlands, nicht beheben, können wir den
bisherigen Sozialstaat nicht aufrechterhalten. Dann besteht durchaus die
Gefahr, daß die Wähler sich massenhaft von den demokratischen Volksparteien
abwenden. Populistische Politiker aber, die im Gegenteil zusätzliche
Sozialleistungen versprechen, gefährden die Existenz des Wohlfahrtsstaats. Der
Abbau der hohen Massenarbeitslosigkeit muß jedenfalls an erster Stelle stehen,
bevor andere Korrekturen in die Wege geleitet werden können. Es ergibt keinen
Sinn, mehr Teilzeitarbeit oder ein späteres Renteneintrittsalter zu
propagieren, solange noch arbeitswillige Arbeitslose keine Arbeit finden, weil
zusätzliche Arbeitsplätze nicht angeboten werden.
Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze war Bundeskanzler Schröders sogenannte
»Agenda 2010« im Jahre 2003 ein erster, wenn auch sehr später Schritt in die
richtige Richtung. Die Verwirklichung en détail war jedoch unzureichend, einige
Korrekturen sind inzwischen erfolgt. Aber noch immer gelten mit Gesetzeskraft
allgemeinverbindliche flächendeckende Lohntarife; immer noch dürfen
Betriebsräte keine individuellen Lohn- und Arbeitszeit-Tarife mit der
Geschäftsleitung abschließen; immer noch gilt der Innungszwang; immer noch
bleiben Arbeitsplätze als Folge von Zumutbarkeitsregeln unbesetzt; immer noch
können sehr viele Menschen vom Arbeitslosengeld oder von Sozialhilfe (heute
meist mit dem Stichwort »Hartz IV« bezeichnet) und etwas Schwarzarbeit
ausreichend gut leben. Immer noch entspricht die Schwarzarbeit wahrscheinlich
rund 15 Prozent zusätzlich zum statistisch erfaßten Volkseinkommen.
Unser Arbeitsmarkt ist übermäßig hoheitlich und zugleich übermäßig durch die
Tarifparteien, das heißt durch private Mächte, mit vielerlei Regeln eingeengt.
Wir sprechen zwar von einem Markt; tatsächlich aber werden entscheidend
wichtige Teile dieses Marktes von einander feindlich gesinnten Monopolen
regiert. Mächtige monopolistische Arbeitgeberverbände und mächtige
monopolistische Gewerkschaften entscheiden über Manteltarife und Lohntarife,
und zwar ohne viel Rücksicht auf die Folgen für Gesellschaft und Staat. Wohl
aber macht der Staat durch die von ihm verordnete »Allgemeinverbindlichkeit«
beide Pole de facto zu Zwangskartellen (die durch Gesetz erzwungene
Mitgliedschaft in handwerklichen Innungen, welche zugleich Tarifpartner sind –
aus dem deutschen Mittelalter überkommen – ist die reinste Form eines
Zwangskartells). Tarifautonomie – das heißt: Nichteinmischung des Staates in
die Lohnfindung –, ist eine gute Sache. In Deutschland handelt es sich jedoch
um die Autonomie von staatlich privilegierten privaten Bürokratien der Arbeitgeberverbände
und der Gewerkschaften.
Nur eine weitreichende Deregulierung des Arbeitsmarktes kann Abhilfe schaffen.
Weitere und unvermeidlich schmerzhafte Veränderungen bleiben notwendig.
Geschäftsleitungen und Betriebsräte müssen das Recht zur Vereinbarung von
Arbeitszeiten und Löhnen erhalten. Die gesetzliche Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifen, die zwischen privaten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkartellen
geschlossen werden, muß beseitigt werden. Die Kündigungsschutzgesetzgebung ist
weiter einzuschränken. Ein gesunder Arbeitsloser, der einen ihm nachgewiesenen
Arbeitsplatz nicht annimmt, sollte einen Teil seines Arbeitslosengeldes
verlieren. Das Arbeitslosengeld II darf über mehrere Jahre nicht weiter
angehoben werden, bis ein gehöriger Abstand zu den geringsten Löhnen erreicht
wird, so daß ein Anreiz zur Annahme eines Arbeitsplatzes entsteht.
Keiner dieser Schritte wird populär sein. Sie waren bereits in den neunziger
Jahren unpopulär, als ich sie zum ersten Mal erläutert habe. Manche
Gewerkschaft, aber auch die Extremisten links und rechts werden Sturm laufen.
Die Macht einiger Gewerkschaften und einiger der großen Arbeitgeberverbände
ist heute allzu groß geworden. Sie haben gemeinsam allzu viele Ältere in die
Frühverrentung geschickt, das heißt deren Unterhalt dem Staat überlassen.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben gemeinsam ihre Macht mißbraucht,
zum Teil zu Lasten der Beschäftigung und zum Teil zu Lasten der Steuerzahler.
Allerdings hat der Gesetzgeber ihnen diesen Mißbrauch ausdrücklich ermöglicht.
Es wird besonders der Sozialdemokratie, aber auch den Sozialausschüssen der
Unionsparteien sehr schwer fallen, den deutschen Arbeitsmarkt aufzulockern und
ihn von schädlichen staatlichen Vorschriften zu befreien. Wer jedoch an allen
vermeintlichen Errungenschaften unserer Arbeitsgesetzgebung festhält, hält im
Ergebnis an einer zu hohen Arbeitslosigkeit fest. Wer zusätzlich einen zu hohen
gesetzlichen Mindestlohn einführt, der drängt Arbeitgeber zur Einsparung von
Arbeitsplätzen. Denn industrielle Arbeitgeber können zusätzlich Teilfertigungen
in einen anderen Staat verlagern, in dem ein niedrigeres Lohnniveau herrscht.
Und Arbeitgeber, deren Arbeitnehmer nicht in der Produktion, sondern mit
Dienstleistungen beschäftigt sind, die nicht ins Ausland verlagert werden
können, werden dazu verleitet, Arbeitnehmer in steuer- und beitragsfreie
Schwarzarbeit abzudrängen; dies gilt vor allem für häusliche und
landwirtschaftliche Arbeitnehmer und insgesamt für Niedriglohngruppen. Deshalb
darf ein staatlich vorgeschriebener Mindestlohn einerseits nicht so hoch sein,
daß er zusätzliche Arbeitsverlagerung ins Ausland und zusätzliche Schwarzarbeit
verursacht und somit die Zahl der im Inland verfügbaren regulären Arbeitsplätze
mindert. Andererseits müßte der Mindestlohn aber deutlich über den Leistungen
der Sozialfürsorge liegen, damit kein Arbeitnehmer verführt wird, auf einen
regulären Arbeitsplatz zu verzichten, weil er dank der Fürsorge, verbunden mit
ein wenig Schwarzarbeit, genausogut leben kann. Das Prinzip des Mindestlohns,
das auf den ersten Blick einfach und verführerisch aussieht, ist bei näherer
Betrachtung also nicht ohne Probleme. Es funktioniert relativ wirksam in
Staaten, in denen der Arbeitsmarkt ansonsten weitgehend unreguliert ist.
Ein Sonderfall der Arbeitslosigkeit liegt in den sechs östlichen Bundesländern
vor. Dort sind die Arbeitslosigkeitsraten seit Mitte der neunziger Jahre
unverändert doppelt so hoch wie im Westen Deutschlands. Der enorme Transfer
öffentlicher Gelder von West nach Ost beläuft sich jedes Jahr auf rund 80
Milliarden Euro, das entspricht etwa 4 Prozent des deutschen Sozialprodukts.
Dieser Transfer hat einerseits eine durchgreifende Modernisierung der
Infrastruktur im Osten bewirkt, andererseits fließt er weitgehend in den staatlichen
und vor allem in den privaten Verbrauch. Weder die Regierungen Kohl und
Schröder noch die Regierung Merket haben den ernsthaften Versuch unternommen,
die Wirtschaftstätigkeit in den östlichen Teilen Deutschlands bevorzugt zu
fördern. Falls es bei dieser Tatenlosigkeit bleiben sollte, könnten jene
Schätzungen sich als zutreffend erweisen, die mit vierzig weiteren Jahren
Aufholprozeß im Osten rechnen. Das bisherige Tempo dieses Prozesses ist an zwei
Zahlen abzulesen: Im Jahr 1995 betrug das Sozialprodukt pro Kopf in den sechs
ostdeutschen Ländern im Durchschnitt nur 60 Prozent des in den westdeutschen
Ländern erzielten Sozialprodukts; im Jahr 2005, zehn Jahre später, waren es
auch nur 67 Prozent.
Rezepte zur Beschleunigung des Aufholprozesses liegen seit Jahren vor, auch ich
habe mich mit einigen Vorschlägen zu Wort gemeldet (einige erschienen 2005 in
dem Aufsatzband »Auf dem Weg zur deutschen Einheit«). Bisher sind alle
Anregungen am Egoismus der westdeutschen Mehrheit gescheitert – besonders am Egoismus
der westdeutschen Landesregierungen, die eine einseitige Förderung des Ostens
nicht zulassen wollen. Deshalb ist es bisher bei den (entscheidend vom Bund
aufgebrachten) finanziellen Hilfen geblieben. Wenn es auch in Zukunft dabei
bleiben sollte, kann der permanente finanzielle Aderlaß von jährlich 4 Prozent
des Sozialprodukts ein dauerhaftes Zurückbleiben der wirtschaftlichen
Wachstumsraten in Deutschland hinter denen anderer Staaten Westeuropas
bewirken, denn es handelt sich um einen gewaltigen Batzen (zum Vergleich: Der
riesige US-Verteidigungshaushalt entspricht auch »nur« 4 Prozent des
amerikanischen Sozialprodukts).
Noch wichtiger als die Konsequenzen des großen Finanztransfers sind aber die
psychologischen und die politischen Folgen, die der anhaltende Stillstand des
ostdeutschen Aufholprozesses auslösen kann. Die anhaltende Abwanderung junger
Leute und der in den östlichen Bundesländern sich wiederholende Wahlerfolg der
postkommunistischen und der rechtsradikalen Parteien sind beunruhigend.
Als einige Freunde und ich im Jahre 1993 in Weimar unter der Schirmherrschaft
des Bundespräsidenten die Deutsche Nationalstiftung gegründet haben, war uns
bewußt, daß das Zusammenwachsen von Ost und West ein schwieriger Prozeß werden
würde. Schon auf der ersten Jahrestagung der Stiftung 1994 haben wir uns mit
der Lage der Nation beschäftigt; im Laufe der Jahre haben wir dann viele Male
die Probleme des deutschen Ostens thematisiert. Zur Jahrestagung 2003 haben wir
eine Publikation vorgelegt, die sich mit der Rolle Berlins als deutscher
Hauptstadt beschäftigt: »Berlin – Was ist uns die Hauptstadt wert?« Inzwischen
hat der Hauptstadtvertrag des Jahres 2007, der dritte seit 1992, geregelt, daß
der Bund dem Land Berlin bis zum Jahre 2017 statt bisher jährlich 38 Millionen
Euro künftig etwa 60 Millionen Euro für sogenannte hauptstadtbedingte
Sicherheitsausgaben zur Verfügung stellt. Es ist jedoch nicht gelungen,
Klarheit in der Hauptstadtfinanzierung zu erzielen. Denn neben dem
Hauptstadtvertrag finanziert der Bund im Rahmen eines Hauptstadtkulturvertrages
jährlich rund 430 Millionen Euro für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und
für andere kulturelle Einrichtungen in Berlin. Außerdem zahlt der Bund einmalig
200 Millionen Euro für die Sanierung der Staatsoper Unter den Linden, er
finanziert die im Bau befindliche sogenannte Kanzler-U-Bahn vom Hauptbahnhof
durchs Regierungsviertel zum Alexanderplatz, den Straßenbau im
Regierungsviertel sowie die Sanierung der Museumsinsel und des Schlosses
Charlottenburg. Und neben seiner Beteiligung am Flughafen Tempelhof wird der
Bund auch für den Bau des Berliner Stadtschlosses rund 552 Millionen Euro aus
dem Bundeshaushalt beisteuern. Aber über diese vielen finanziellen
Einzelregelungen zugunsten der Hauptstadt weit hinaus ist die Stadt Berlin das
herausragende Empfängerland von Finanzzuweisungen im Rahmen der zahlreichen
bundesgesetzlichen Finanzausgleichssysteme. Weil die Millionenstadt
vorhersehbar noch über lange Jahre in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung hinter
den westdeutschen Großstädten zurückbleiben wird, gehört die Finanzierung
Berlins auch weiterhin zu den ungelösten Aufgaben des deutschen
Finanzföderalismus.
In meinen Augen bleibt es für lange Zeit eine der herausragenden Aufgaben jeder
Bundesregierung und der sie tragenden Bundestagsmehrheit, den ökonomischen
Aufholprozeß des deutschen Ostens wieder in Gang zu setzen und sodann in Gang
zu halten. Zu den Mindestvoraussetzungen gehört, daß der Bund seine eigenen
oder die von ihm bezahlten Dienstleistungen, wo immer dies möglich ist, an
ostdeutsche Standorte verlegt. Das gilt für die noch in Bonn verbliebenen
Ministerien und für andere Bürokratien des Bundes, es gilt vor allem für neue
Forschungsinstitute und Forschungsvorhaben und für den noch bis 2013 vom Bund
finanzierten Universitätsausbau. Wenn der Bund schon bei seinen eigenen
Verwaltungen die gesamtdeutschen Notwendigkeiten mißachtet, muß man sich über
die Stagnation des ostdeutschen Aufholprozesses nicht wundern. Wie gut oder wie
schlecht wir es auch machen und wieviel Zeit auch immer benötigt werden wird –
letzten Endes wird der schmerzhafte Prozeß wahrscheinlich gelingen; die
Vitalität unseres Volkes erscheint mir als durchaus ausreichend.
Wenn wir unseren Sozialstaat und damit den inneren Frieden in unserer Gesellschaft
erhalten wollen, werden uns die stetig zunehmenden Veränderungen im
Altersaufbau der Gesellschaft für lange Zeit vor immer neue Aufgaben stellen.
Als 1891, am Ende der Bismarck-Ära, die Invalidenversicherung für Arbeiter eingeführt
wurde (heute Rentenversicherung genannt), begann die Rentenzahlung mit dem 70.
Geburtstag. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines fünfjährigen Jungen lag
aber nur bei 58 Jahren. Nur eine kleine Minderheit hat deshalb jemals eine
Rente erhalten. 1957, mehr als ein halbes Jahrhundert später, lag der
Rentenbeginn regelmäßig beim 65. Geburtstag, während das durchschnittliche
Sterbealter erwachsener Männer sich auf rund 66 Jahre erhöht hatte. Im Jahre
2005 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter nur noch knapp über dem 60.
Lebensjahr, das durchschnittliche Sterbealter hatte sich aber auf fast 72 Jahre
erhöht. Die Rentenbezugsdauer hat sich nicht nur für Männer gewaltig
verlängert. Noch vor drei Jahrzehnten, zu meiner Regierungszeit, hatten wir
eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von knapp zwölf Jahren, heute
erreichen wir im Schnitt 17 Jahre –bei weiterhin steigender Tendenz. Die
Ursachen für diese gewaltige Verschiebung liegen einerseits in den
Fortschritten der Medizin, der Hygiene, der Pflege und der humaneren
Arbeitsgestaltung, die ein längeres Leben ermöglichen; andererseits liegen sie
in der mehrfachen gesetzlichen Absenkung des tatsächlichen Alters beim
erstmaligen Bezug der Rente (Stichwort »Früh-Verrentung«).
Der Altersaufbau unseres Volkes gleicht schon lange nicht mehr einer Pyramide,
viel eher neigt er zur Gestalt eines Kugelbaums. Die Zahl der Rentner nimmt
stetig zu. Im Jahre 2005 waren 19 Prozent aller Einwohner 65 Jahre alt oder
älter, im Jahr 2030 wird dieser Anteil wahrscheinlich auf 27 Prozent ansteigen.
Gleichzeitig nimmt aber der Anteil der jüngeren Jahrgänge ab. Seit den
sechziger Jahren erleben wir einen dramatischen Abfall der Geburtenrate. Damals
ergab sich pro Frau eine Durchschnittsrate von 2,36 Geburten, im Jahr 2005
standen wir bei einer Geburtenrate von nur noch 1,36. Trotz der großen
Zuwanderungen seit den sechziger Jahren haben wir es im Ergebnis mit einer
zunehmenden Überalterung und zugleich mit einer zahlenmäßigen Schrumpfung der
Bevölkerung zu tun. Auf Dauer können aber immer weniger junge Erwerbstätige
nicht immer mehr Rentner finanzieren. In den letzten Jahrzehnten hat man die
Abgaben- und Steuerlast der Jungen erheblich erhöht und zugleich die
Rentenansprüche ein wenig eingeschränkt. Jedoch ist klar erkennbar, daß eine uneingeschränkte
Fortsetzung der bisherigen Praxis nicht möglich sein wird.
Auf die beiden Auswege, die bisweilen in der öffentlichen Debatte angeboten
werden, will ich hier nicht näher eingehen. Denn eine mit Hilfe steuerlicher
und sozialpolitischer Anreize zu erzielende Anhebung der Geburtenrate auf das
bestandserhaltende Maß von 2,1 erscheint mir utopisch, sie würde sich selbst im
Falle eines Erfolges frühestens in der Mitte des 21. Jahrhunderts ausreichend
auswirken. Der andere Ausweg, unser Geburtendefizit durch Einwanderung aus
Afrika und Asien aufzufüllen, erscheint mir noch weniger realistisch. Denn
schon bisher, beim Stand von rund sieben Millionen ausländischen Einwohnern –
davon fast die Hälfte Muslime –, haben wir eine kulturelle Einbürgerung nur
sehr unzureichend zustande gebracht. Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland
erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in
Kauf. Für einen realistisch Urteilenden bleibt nur die Erkenntnis, daß wir die
Alterung unserer Nation als unvermeidlich akzeptieren und die deshalb
notwendigen Anpassungen unserer Gesellschaft tatkräftig einleiten müssen. Sie
reichen von den Deregulierungen des Arbeitsmarktes und der Anhebung der
Erwerbsquote über die Verkürzung der Schul- und Ausbildungs- und Studiendauer
bis hin zum Kinder- und zum Elterngeld.
Damit die Veränderungen unseres gesetzlichen Rentensystems für die Bürger
einleuchtend und für die Wähler akzeptabel werden, sollten die regierenden
Politiker die Fakten und Zahlen ohne Beschönigung immer wieder öffentlich
darlegen. Auch die verantwortungsbewußten Medien haben hier eine Aufgabe.
Dieser Prozeß wird für viele Politiker schmerzhaft werden. Manche werden sich
den Konsequenzen verweigern, andere werden sich opportunistisch zu unwahrhaftigen
Versprechungen versteigen. Besonders die ehemaligen Kommunisten und andere
Klassenkampf-Ideologen, die sich in Deutschland neuerdings in »Die Linke«
umbenannt haben, werden große propagandistische Anstrengungen unternehmen, um
naiven Wählern ihre vermeintlichen Patentlösungen vorzugaukeln. Tatsächlich
würden aber ihre Vorstellungen in ähnlicher Weise zum sozialökonomischen
Bankrott führen wie vor Zeiten in der damaligen DDR; nur mit Hilfe
westdeutscher Kapitalzufuhr konnte die DDR-Regierung ihren ökonomischen
Zusammenbruch fast über ein ganzes Jahrzehnt hinauszögern. Das fünfmal so große
heutige Deutschland aber könnte nicht auf von vornherein verlorene
Kapitalzuflüsse von außen hoffen.
Jedenfalls wird die Reformdebatte nicht auf eine oder zwei Legislaturperioden
des Bundestages beschränkt bleiben. Manche Einsichten werden nur langsam
reifen. Auch später werden die notwendigen Veränderungen gewiß nicht in einem
einzigen Schritt verwirklicht werden können. Und höchstwahrscheinlich werden
weiterhin linksaußen und rechtsaußen Demagogen auftreten und populistische
Illusionen verbreiten, von »Sozialraub« reden oder »die Globalisierung« für
unsere sozialökonomischen Probleme verantwortlich machen. Deshalb soll an
dieser Stelle die simple Wahrheit hervorgehoben werden: Unsere Rentenprobleme
sind so gut wie überhaupt nicht vom internationalen oder globalen Wettbewerb
verursacht. Auch wenn wir dem internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt
wären, stünden wir in gleicher Weise vor der Aufgabe, unser Rentensystem der
allgemeinen Alterung unserer Gesellschaft anzupassen.
Entscheidend wird die Einsicht der Sozialdemokratie werden, daß die Rente
keineswegs aus den eigenen früheren Einzahlungen der Rentner finanziert wird,
sondern allein aus den gegenwärtigen Einzahlungen der Arbeitenden und der
Steuerzahler. Der sogenannte Generationenvertrag beruht auf dem Prinzip, daß
jeweils die nachfolgende Generation die Renten und Pensionen der
voraufgegangenen Generation durch ihre Versicherungsbeiträge und Steuern
finanziert. Die heutige Generation darf darauf vertrauen, daß das gleiche
Prinzip auch für sie gelten wird, wenn sie selber später das Rentenalter
erreicht hat. Nur insofern ist der oft zu hörende Satz gerechtfertigt: »Wir
haben unsere Rente redlich erarbeitet.«
Weil heute überall in Europa und besonders in Deutschland die Rentner immer
zahlreicher werden und die nachfolgende zahlende Generation immer mehr abnimmt,
wird die Finanzierung der Renten in bisheriger Höhe überall schwieriger.
Theoretisch sind drei Auswege denkbar:
1. Entweder muß die Rentenbezugsdauer dadurch verkürzt werden, daß die Rente
erst in einem späteren Lebensalter einsetzt, so daß durch die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit die insgesamt alljährlich benötigten Finanzierungssummen
stabil gehalten werden;
2. oder man muß die Renten kürzen;
3. oder man läßt die Renten wie bisher steigen — damit steigen jedoch auch die
benötigten Finanzsummen, und man belastet dementsprechend die aktiv Arbeitenden
und Verdienenden stärker als bisher mit Beiträgen, Abgaben und Steuern.
Natürlich sind alle möglichen Kombinationen zwischen diesen drei Methoden der
Anpassung denkbar. Eine wesentlich stärkere finanzielle Belastung der
arbeitenden Generation wird allerdings wohl nur bei schnell wachsendem
Wohlstand politisch durchsetzbar sein. Jedenfalls wird es zu längeren
Lebensarbeitszeiten kommen, wahrscheinlich nicht nur nach Arbeitsjahren,
sondern auch nach der Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr.
Die öffentliche Diskussion über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit wurde
schon von Kanzler Schröders »Agenda 2010« angestoßen; weitgreifend wurde sie
erst im Jahr 2006 geführt. In der öffentlichen Debatte fürchteten sich
besonders die älteren Jahrgänge, obwohl gerade sie von der Reform nicht mehr
oder kaum noch betroffen sind, denn die Anhebung des Rentenalters soll erst
2012 beginnen. Wer 1947 geboren wurde, muß dann einen Monat länger arbeiten,
die 1948 Geborenen zwei Monate länger und so weiter. Erst für den
Geburtsjahrgang 1963 wird nach dem gegenwärtig geltenden Recht die Altersgrenze
von 67 Jahren greifen. Von den jüngeren Jahrgängen, die tatsächlich deutlich
von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit betroffen werden, kam relativ wenig
Protest; von seiten der Gewerkschaften um so mehr. Die Standhaftigkeit der sozialdemokratischen
Minister Riester und Müntefering in dieser Debatte bleibt lobenswert, erste
gesetzgeberische Schritte sind erfolgt.
Angesichts sehr viel längerer und weiterhin zunehmender Lebensdauer und
angesichts deutlich verbesserter Gesundheit auch im Alter ist zusätzliche
Arbeitsbelastung absolut plausibel. Man stelle sich den theoretischen
Extremfall vor, daß alle Menschen hundert Jahre alt werden und während ihrer
letzten vierzig Jahre Rente beziehen, daß aber zugleich die Arbeitenden nur vom
20. bis zum 60. Lebensjahr, das heißt vierzig Jahre lang, arbeiten. In diesem
theoretischen Extremfall müßte jeder Arbeitende nicht nur sich selbst und seine
Familie, sondern außerdem einen Rentner und dessen Familie ernähren. Dies würde
zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung der Arbeitenden führen.
Tatsächlich sind wir aber schon auf dem Wege, uns langsam einem solchen
Ergebnis zu nähern.
Bisher haben viele Politiker, vor allem viele Sozialpolitiker, die öffentliche
Meinung mit Illusionen über künftige Rentenzahlungen gefüttert. So hat zum
Beispiel noch im Jahr 2005 die staatliche Rentenversicherungsbehörde von Amts
wegen an die versicherten Arbeitnehmer sogenannte Renteninformationen
verschickt, in denen der Eindruck erweckt wurde, daß die jeweils errechnete und
in diesen Schreiben genannte Altersrente aufgrund künftiger Rentenanpassungen
tatsächlich höher ausfallen könnte. Ich habe mich damals an den Präsidenten der
»Deutschen Rentenversicherung Bund« und an den Arbeitsminister gewandt und
darauf hingewiesen, daß mir diese Renteninformationen vor dem Hintergrund der
tatsächlichen Lage des Rentenversicherungssystems und der demographischen
Entwicklung in Deutschland irreführend und deshalb unseriös erschienen; sie
erweckten in hohem Maße Erwartungen, die nicht erfüllt werden könnten.
Inzwischen werden solche optimistischen Annahmen nicht mehr verbreitet. Die
heutigen Renteninformationen machen deutlich, daß die künftige Rentenhöhe
nicht gewiß ist. Nur wenn es rechtzeitig zu den oben skizzierten Veränderungen
der Gesetze kommt, kann das heutige reale Rentenniveau gehalten werden.
Weil gegenwärtig einige Politiker einer Verlagerung eines Teils der
Altersvorsorge von staatlicher Rente auf private Altersvorsorge das Wort reden,
möchte ich an dieser Stelle eine wichtige Tatsache hervorheben: Auch jede
private kapitalgedeckte Rente wird aus dem gleichzeitig erwirtschafteten
Sozialprodukt der Nation gezahlt; auch eine private Altersvorsorge setzt also
eine prosperierende Volkswirtschaft und deshalb einen finanzwirtschaftlich
gesunden Staat voraus. Allein die von einem Rentner selbst bewohnte mietfreie
Eigentumswohnung (oder das eigene Haus oder der eigene Garten), soweit sie
nicht mit Krediten oder Hypotheken belastet ist, stellt einen Beitrag zu seiner
laufenden Lebensunterhalt dar, der nicht von anderen erarbeitet wird.
Gleichwohl erscheint der Gedanke keineswegs abwegig, für die eigene
Alterssicherung eine Kombination von staatlicher Rente mit privater Rente
anzustreben (ein Stichwort dafür ist die »Biester-Rente«). Doch kommt es dabei
immer auf die Form und die Bonität der privaten Kapitalanlage und auf die damit
verbundenen Risiken an. Der von spekulierenden Fondsmanagern herbeigeführte
Zusammenbruch einiger großer amerikanischer Pensionsfonds war ein Warnsignal.
Deshalb vertraut die große Mehrheit der deutschen Sparer immer noch lieber
ihrer örtlichen Sparkasse als einem ihnen persönlich unbekannten und
undurchsichtigen Investmentfonds.
Allerdings kann der internationale Wettbewerb – ob innerhalb des gemeinsamen
Marktes der Europäischen Union oder auf den Weltmärkten – uns künftig zu einer
anderen Form der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme drängen. Seit
über hundert Jahren finanzieren wir die Sozialversicherung im wesentlichen mit
sogenannten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen, die sich beide nach den
Bruttolöhnen bemessen. Die Arbeitnehmerbeiträge wirken wie eine zusätzliche
spezielle Lohnsteuer, die vor Auszahlung vom Lohn abgezogen wird; die
Arbeitgeberbeiträge dagegen sind als Aufschlag auf die Bruttolöhne für das
arbeitgebende Unternehmen zusätzliche Lohnnebenkosten und verteuern den Preis
für das Produkt. Auf diese Weise entstanden dem Arbeitgeber 2007 in Deutschland
auf 100 Euro vereinbarten Bruttolohn tatsächlich im Schnitt 133 Euro Gesamtlohnkosten,
von denen der Arbeitnehmer aber nur einen Nettolohn von durchschnittlich rund
63 Euro ausbezahlt bekam.
Nun sind die deutschen Löhne im weltweiten Vergleich sehr hoch – das ist ja
eine der Quellen unseres Wohlstandes –, aber unsere Lohnkosten werden durch die
Lohnnebenkosten zusätzlich erhöht. Weil sich die Lohn- und Lohnnebenkosten im
Stückpreis niederschlagen, kann sich ein Nachteil im internationalen Wettbewerb
ergeben, vor allem im Vergleich mit »Niedriglohnländern«. Deshalb kann es auf lange
Sicht zweckmäßig werden, zum Beispiel die staatliche Rentenversicherung nicht
über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, sondern aus den allgemeinen
Steuereinnahmen zu finanzieren. Im Ergebnis würden dadurch die Lohnkosten
sinken, die Steuern aber steigen. Langfristig erscheint es mir notwendig,
unseren Wohlfahrtsstaat nicht weiterhin über steigende
Sozialversicherungsbeiträge und damit auch über steigende Lohnnebenkosten zu
finanzieren, sondern ihn schrittweise steigend aus den Steuereinnahmen zu alimentieren.
Immerhin werden schon heute rund 33 Prozent aller Renten der gesetzlichen
Rentenversicherung und 100 Prozent aller staatlichen Pensionen der Beamten und
Soldaten aus Steuermitteln finanziert.
Natürlich hat die längere Lebensdauer der Deutschen Auswirkungen auch auf die
gesetzliche Krankenversicherung. Weil die Menschen immer älter werden, steigen
besonders die Aufwendungen für die Behandlung altersbedingter Krankheiten. Weil
gleichzeitig die Medizin ungeheure Fortschritte macht und teurere diagnostische
und therapeutische Instrumente, Methoden und Arzneien zur Verfügung stellt,
müssen unsere Aufwendungen für die Gesundheit zwangsläufig steigen: Die
Entwicklung ging vom Elektrokardiogramm zum Herzkatheter und zum
Herzschrittmacher, von den Sulfonamiden zu den Antibiotika, vom Aspirin zum
Plavix oder von der Röntgendiagnostik zur Computertomographie.
Die medizinische Versorgung der Gesellschaft ist in Deutschland im Vergleich
mit allen anderen großen Staaten der Welt erstklassig. Wer jemals in England,
in den USA oder Japan krank gewesen ist, kann das bezeugen. Gewiß gibt es bei
uns auch Fälle von Mißbrauch und Verschwendung. Daß aber deshalb die Große
Koalition der Regierung Merkel 2006 eine weit übertreibend so genannte
Gesundheitsreform – von der »Neuen Zürcher Zeitung« eine »Monster-Maus« genannt
– zeitweilig zum sozial-politisch wichtigsten Thema machte, bezeugt einen
erstaunlichen Mangel an ökonomischer Urteilskraft. Ganz gewiß wird in Zukunft
nicht nur unsere Gesellschaft weiterhin altern, sondern ebenso gewiß wird
deshalb der Anteil am Volkseinkommen steigen müssen, den wir für die Gesundheit
aufwenden. Daß in gleicher Weise die 1995 eingeführte Pflegeversicherung
langfristig vor Finanzproblemen stehen wird, weil sie zukünftig ebenfalls einen
höheren finanziellen Aufwand erfordert, ist ebenfalls offensichtlich. Darin
spiegelt sich, stärker noch als in der Krankenversicherung, die demographische
Entwicklung unserer alternden Gesellschaft.
Es liegt gut ein Dutzend Jahre zurück, daß ich einmal der Führung der
sozialdemokratischen Bundestagsfraktion auf deren Anforderung die Konsequenzen
dargelegt habe, die wir aus der Deformation der deutschen Alterspyramide ziehen
müssen. Ich habe damals für längere Lebensarbeitszeiten geworben und für einen
größeren Abstand fast aller Sozialleistungen zum Nettolohn der aktiven
Arbeitnehmer; auch habe ich mich gegen flächendeckende Lohntarife
ausgesprochen. Als akute Hauptaufgabe der Sozialdemokratie nannte ich die
Ermöglichung vieler zusätzlicher Arbeitsplätze. Vier Jahre später, 1998,
wechselte die SPD von der Opposition in die rot-grüne Bundesregierung. Danach
hat es noch einmal fast fünf weitere Jahre gedauert, bis Kanzler Schröder im
Jahr 2003 wenigstens programmatisch die gebotenen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen
Konsequenzen zog. Die Absichtserklärung der »Agenda 2010« war ein mutiger
erster Durchbruch der ökonomischen Vernunft – die CDU/CSU hatte ihn weder als
Regierungs- noch später als Oppositionspartei gewagt. Weil es Schröder nicht
gelang, sein Programm der großen Masse seiner Wähler und Anhänger plausibel zu
machen, kam es 2005 zur Ablösung seiner Koalition durch die Große Koalition
unter Kanzlerin Merkel. Seither kann ihre Partei die positiven Ergebnisse von
Schröders Reform, nämlich deutlich günstigere Daten des Arbeitsmarktes, mit
Erfolg für sich in Anspruch nehmen, während die Sozialdemokratie unter
gewerkschaftlichen Einflüssen darüber rätselt, ob Schröder nicht zu weit
gegangen sei. Man kann dies eine Verirrung nennen, denn in Wahrheit ist Schröder
noch nicht weit genug gegangen.
Immerhin haben Schröders Reformen ebenso wie eine günstige Weltkonjunktur zu
einem spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt. Wenn aber die
Regierenden aus Angst, ihre Wähler zu verschrecken, die weiterhin gebotenen
Reformen unterlassen, werden die Zahlen der Arbeitslosen später wieder
ansteigen, und die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates wird neuen Krisen
entgegengehen. Die in ihrer Grundhaltung eher konservative CDU/CSU könnte damit
etwas leichter leben als die im Grunde stärker sozial-fortschrittlich gesinnte
SPD. Jedenfalls würde die große linke Volkspartei SPD sich selbst beschädigen,
falls sie sich den hier skizzierten sozialökonomischen Schlußfolgerungen
verweigern sollte.
Wer sich an das Ende der Weimarer Koalition erinnert, muß vor jedem
Opportunismus warnen: Im Jahr 1930 fiel wegen einer geringfügigen Korrektur (es
ging um ein halbes Prozent Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge) die
demokratische Weimarer Regierungskoalition auseinander, und es begann jene
Notstandsdiktatur des Reichspräsidenten, die drei Jahre später zu Hitlers
»Machtergreifung« führte.
© Vermerk: Helmut Schmidt, Ausser Dienst. Eine Bilanz, Wolf Jobst Siedler
Verlag, München 2008, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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