Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Norbert Röttgen
Europa und die Globalisierung: Eine historische
Wechselbeziehung
Es gibt keine andere Region auf der Erde, die mit der Entstehung von
Globalisierung so sehr verbunden und deren geschichtliche Entwicklung wiederum
selbst so von ihr geprägt ist wie (West-)Europa. Über mehrere Jahrhunderte der
Neuzeit hinweg ist Europa eine der dominanten Mächte auf der Erde gewesen, sie
hat den Globus gewissermaßen erschlossen und erstmals mit einem
weltumspannenden Netz umwoben. Moderne Wissenschaft und Forschung, die
technologische Anwendung von Erkenntnissen, modernes Staats- und
Rechtsverständnis, die industrielle Revolution, die zivilisatorische Dimension
von Kunst und Kultur, all dies ist in Europa geboren oder hat sich zumindest
von hier aus als europäische Art des Lebens, des Wirtschaftens und des
Arbeitens weltweit verbreitet. Insbesondere war es Europa selbst, das aufgrund
der technologisch-industriellen Entwicklung, seines starken Bevölkerungswachstums,
aber auch seiner starken territorialen-staatlichen Zerstückelung einerseits und
der übergreifenden kulturellen Gemeinsamkeit auf dem eigenen Kontinent andererseits
viel früher als anderswo eine dichte, grenzüberschreitende Wirklichkeit
hervorgebracht hatte. Europa war daher über Jahrhunderte Antreiber und Ort
einer Entwicklung, die wir im Nachhinein als Globalisierung bezeichnen können.
Die Entwicklung der politischen Ordnung allerdings hat all dem nicht
entsprochen, sie verlief sogar geradezu konträr zur globalen Vernetzung. Der
Geltungsanspruch des Staats, der sich vom Territorial- zum Nationalstaat
entwickelte, steigerte sich ins Absolute. Der Staat des 19. Jahrhunderts verbat
sich jede Einwirkung von außen, er wollte autark sein und unabhängig von allen
seinen Nachbarn, er duldete keinen Richter über sich und beanspruchte das
Recht, sich mit Gewalt zu nehmen, was er als sein Recht sah.
Krieg war die unvermeidliche Folge. Er zerriss mit schrecklichen Folgen die
transnationale Wirklichkeit, die sich in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts im westlichen, stärker industrialisierten Teil Europas bereits so
dicht entwickelt hatte, dass dank fester Wechselkurse und durch den
Goldstandard de facto schon so etwas wie eine Währungsunion entstanden war. Der
nationalistische Wahn, der in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts
seinen Ausdruck fand, zerstörte diese Welt, die noch lange Zeit danach als die
»gute, alte Zeit« empfunden wurde. Zerstört wurde nebenbei aber auch die globale
Dominanz Europas.
Auf dem Boden dieser historischen Erfahrung entwickelten sich in der
Nachkriegszeit drei Kräfte, welche die europäische Integration als politische
Vision und politisches Projekt zugleich formten.
Die erste Gründungskraft war geprägt von den Schrecken des Krieges und der
Entschlossenheit, die Versöhnung der Völker, insbesondere von Franzosen und
Deutschen, sowie das Miteinander der Staaten in einer politischen Ordnung zu
organisieren und damit auch den Absolutheitsanspruch der Nationalstaaten zu
relativieren. Versöhnung und Frieden als Ausdruck des Wunsches, die
Vergangenheit zu überwinden, waren das eine, die Arbeit an einer gemeinsamen
Zukunft war das andere Antriebselement zu Beginn des europäischen Einigungsprozesses.
Nichts drückt beides deutlicher aus als der erste Schritt der europäischen
Vergemeinschaftung: die Montanunion. Kohle und Stahl galten damals als die
strategischen Industrien, mit denen sich Staaten die Fähigkeit zur
Kriegsführung erarbeiten konnten. Kohle und Stahl erschienen aber zugleich als
Schlüsselindustrien für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes, also für
die Zukunft. Genau dies waren die Gründe, die nach dem Ersten Weltkrieg zur
Ruhrbesetzung geführt hatten. Nichts drückt darum die Grundsätzlichkeit des
politischen Versöhnungs- und Gestaltungswillens und seine Gegensätzlichkeit
gegenüber der Siegermachtpolitik nach dem Ersten Weltkrieg besser aus als die
Vergemeinschaftung der europäischen Kohle- und Stahlindustrie in den
50er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
In der Montanunion zeigt sich, wie bereits angedeutet, zugleich die zweite
Gestaltungskraft der europäischen Integration, nämlich die Entfaltung
wirtschaftlicher Dynamik. Auf diesem Gebiet hat Europa eine enorme Wirkung
gehabt; die Verbreitung allgemeinen Wohlstands in fast allen Regionen Europas
gehört zu den großen Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Aus den noch ganz
bescheidenen Anfängen der Montanunion ist über die Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft hinweg ein europäischer Binnenmarkt entstanden, für den
zu einem großen Teil eine Währungsunion gilt.
Das dritte Gestaltungsmotiv für die europäische Integration kam von außen auf
die westeuropäischen Staaten zu: Es lag in der sowjetisch-kommunistischen Bedrohung
zur Zeit des Kalten Krieges. Dieser Gründungsimpetus hat auf die Entstehung
und Prägung des westlichen und europäischen Zusammenhalts besonders intensiv
eingewirkt. Er hat die Europäer durch einen auf drei Ebenen ausgetragenen
Konflikt zusammengeführt. Erstens war der Kommunismus eine
ideologisch-intellektuelle Kampfansage an den Westen. Zweitens prägte die
Ost-West-Konfrontation für Jahrzehnte das politische Weltgeschehen. Und
drittens ging es bei diesem Konflikt um die Abwehr einer existenziellen
physischen Bedrohung mit militärischen Mitteln im Rahmen des westlichen
Verteidigungsbündnisses.
Versöhnung, Selbstbehauptung und wirtschaftlicher Aufstieg: Die
Gründungsgeschichte der Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg ist
zugleich eine Erfolgsgeschichte. Sie bildet eine wahrscheinlich historisch
einzigartige Verbindung von zwei genuin europäischen Erfindungen, von
Realpolitik und politischem Idealismus.
2. Die Herausforderung Europas durch die Globalisierung
Steht Europa heute am Ende seiner Erfolgsgeschichte? Haben sich die
ursprünglichen Beweggründe und Antriebskräfte der europäischen Einigung durch
Verwirklichung verbraucht? Tatsächlich müssen wir konstatieren: Die
Sowjetunion ist untergegangen und mit ihr die unmittelbare und stete physische
Bedrohung wie die ideologische Herausforderung des Westens. Ost- und Westeuropa
sind in der Europäischen Union vereinigt. Zwar ist Russland keine Demokratie
nach westlichen Kategorien, und die jüngste militärische Aggression und die
ungeschminkte Verletzung der territorialen Souveränität eines Nachbarlandes
und damit des Völkerrechts zeigen, dass wir alles andere als in einer
gefahrlosen und geordneten Welt leben. Aber die Bedrohungslage des Kalten
Krieges mit ihrem alternativlosen Zwang zu westlicher und europäischer
Verteidigung existiert nicht mehr.
Und Frankreich? Aus dem ehemaligen »Erbfeind« ist das Land geworden, dem sich
nach beständigen Umfragen die Deutschen am nächsten fühlen; mit keinem anderen
Land unterhalten unsere Städte und Gemeinden so viele und lebendige
Partnerschaften, mit keinem anderen Land ist die Verzahnung so eng und so umfassend
zugleich. Politisch sind Frankreich und Deutschland die Motoren der
europäischen Integration bis zur Wirtschafts- und Währungsunion gewesen und bis
heute immer noch die wichtigsten Partner in der Europäischen Union.
Der wirtschaftliche Aufstieg schließlich hat die (West-)Europäer auf ein hohes
Niveau geführt, das zum erklärten Besitzstand zählt. Wenn es heute um die Entwicklung
von wirtschaftlicher Dynamik geht, dann geht es meist um Besitzstandswahrung
bei den westlichen und südlichen Mitgliedsländern und um Nachholeffekte bei den
neuen osteuropäischen Mitgliedern.
Die historischen Ziele der Gründerväter Europas sind also entweder erreicht
oder werden im Kern für selbstverständlich gehalten. Europa wird deshalb nicht
irrelevant für die Gewährleistung von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Aber
die alten Antriebskräfte reichen nicht mehr, um die Legitimation, den
Zusammenhalt und eine Perspektive Europas als politische Vision und Projekt zu
begründen.
Indes: Während die alten Legitimationsquellen versiegen, treten neue
Herausforderungen an Europa heran. Erzeugt werden sie durch die Globalisierung.
Die Herausforderungen der Globalisierung beginnen damit, dass Europa von innen
heraus unbestreitbar in eine defensive Lage geraten ist, politisch wie
psychologisch. Dies ergibt sich daraus, dass Europa von seinen Bürgern
zutreffend als ein wichtiger Teil, ja als Verkörperung von Globalisierung
identifiziert wird, dem dann natürlich auch die negativen Seiten der
Entwicklung anhaften. Psychologisch handelt es sich um einen tief gehenden
Wandel im Verhältnis der Bürger zum europäischen Gedanken. In den Anfängen der
europäischen Integration und unter dem noch frischen Eindruck der mörderischen
Folgen des nationalistischen Wahns wurden das Transnationale und die
Grenzüberschreitung von den Menschen als Befreiung gefeiert, als Zusammenrücken
der Völker, als Horizonterweiterung für den Einzelnen. Unter den Bedingungen
der fortgeschrittenen Globalisierung hat derselbe Aspekt eine ganz andere
Bedeutung erhalten. Von vielen Menschen wird das Fehlen von Grenzen heute als
Bedrohung angesehen; die Erweiterung der Europäischen Union oder die Vertiefung
der europäischen Integration sind ihnen unheimlich. Sie würden eher neue
Grenzen einziehen wollen, als noch weitere aufzugeben.
Die galoppierende Beschleunigung wirtschaftlicher, politischer und kultureller
Veränderungsprozesse, die immer dichter, unmittelbarer, unausweichlicher erfahrbare
Intensität der Globalisierung sind es, die gerade in Europa wieder Bedürfnisse
nach Grenzen wecken. Keiner will die alten Grenzen, es geht vielmehr um das
alte Bedürfnis nach Grenzen: Grenzen können Sicherheit geben, während
Entgrenzung verunsichern kann. Grenzen können zur Solidarität zwingen,
Entgrenzung entsolidarisiert. Grenzen ermöglichen mehr soziale Gleichheit,
Entgrenzung hingegen hat zu mehr Ungleichheit geführt. Grenzen sind nicht nur
für die wirtschaftlich-sozialen Lebensverhältnisse eines Volkes von Belang,
sondern ebenso für sein Bewusstsein von sich selbst, sein Selbstverständnis,
seine Identität. Dieses hat für die meisten Menschen immer auch einen Bezug zu
einem fest umrissenen Territorium, in dem das »Wir« lebt und außerhalb dessen
»die anderen« sind. Darum ist der Staat als Nationalstaat nicht nur eine
Organisationsform von Politik, sondern auch eine Lebensform, in der sich ausdrückt,
wie eine Gruppe von Menschen sich kulturell, politisch, wirtschaftlich, sozial
auch in Unterscheidung zu anderen einrichtet und sich so seiner selbst bewusst
wird. Das nationale Selbstverständnis verlangt nach Grenzen. Dieses
anzuerkennen beinhaltet nichts Antieuropäisches. Ein europäisches Bewusstsein,
ein Wir-Gefühl der Europäer, ohne das Europa nicht zur politischen Einheit
reifen kann, speist sich aus dem Gemeinsamen und nicht aus der Negation. Darin
erweist es sich als europäisch. Es wird deshalb für die nächsten Jahre entscheidend
darauf ankommen, die gemeinsame kulturelle Basis Europas zum Amalgam einer
europäischen Identität zu formen.
Europa ist weiterhin in institutionell-politischer Hinsicht mit dem bereits
dargelegten Demokratieproblem konfrontiert. Die Nationalstaaten haben im Lauf
der europäischen Entwicklung einen beachtlichen Anteil ihrer Souveränität auf
die europäische Ebene übertragen. Diese Machtübertragung ist aber nicht in
vergleichbare demokratische Legitimationsstrukturen eingebettet worden, wie
sie für die Wahrnehmung der Souveränität im Rahmen der Nationalstaaten galten und
gelten. Abgesehen vom Europäischen Parlament, über dessen Zusammensetzung die
Bürger der Europäischen Union in direkter Wahl bestimmen, stützen sich die
politischen Institutionen Europas auf eine mittelbare, nämlich von den
Mitgliedstaaten abgeleitete Legitimation. Dieser nationalstaatliche Rückbehalt
an Legitimation hat seine Gründe. Er lebt von der Vorstellung und dem Willen,
die Herrschaft über die demokratischen Quellen der Souveränität nicht an die
Europäische Union abgeben zu wollen, also der EU zwar Kompetenzen, aber keine
Existenz aus eigenem Recht zu verleihen. In dieser Diskrepanz liegt die
Ursache des oft beklagten »Demokratiedefizits« der Europäischen Union, das
sich für die Bürger darin zeigt, dass die Willensbildung in dieser Institution
schwer durchschaubar ist.
Am stärksten aber wird Europa dadurch herausgefordert, dass die Globalisierung
die innere und äußere Handlungsschwäche Europas offenlegt. Die Globalisierung
erfasst praktisch alle Lebensbereiche von den Märkten für Güter,
Dienstleistungen, Informationen und Arbeit über die Kultur, die Natur bis hin
zu Fragen von Sicherheit und Frieden. Dagegen weist die Integration Europas
einen eindeutigen Schwerpunkt auf: die Errichtung eines grenzfreien
Binnenmarktes mit gemeinsamer Währung als Ausdruck der verwirklichten
europäischen Grundfreiheiten. Hierauf sind die europäische Gesetzgebung und
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fokussiert. Wenn aber die
europäische Integration als die Antwort der Europäer auf die Globalisierung zu
verstehen sein soll, dann zeigen sich hierin die Einseitigkeit und
Unzulänglichkeit der europäischen Integration. Dies gilt insbesondere für das
Ungleichgewicht zwischen europäischer Wirtschaftsordnung und europäischer
Sozialordnung. Erstere hat inzwischen eine in Teilen problematische Detailreife
erreicht, während grundlegende soziale Fragen und Folgen der Marktintegration
den Mitgliedstaaten überlassen bleiben.
Die Globalisierung verlangt neben der Gestaltung nach innen die europäische Mitwirkung
an der Lösung globaler Probleme. Der Handlungsbedarf hat geradezu erdrückende
Ausmaße angenommen: Energie, Klima, Ernährung, Migration, Menschenrechte,
Terrorismus, Sicherheit. Letztendlich ist nichts weniger zu leisten, als eine
neue Weltordnung zu etablieren, innerhalb derer sich die nur global, nur
gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben angehen lassen. Bislang allerdings macht
Europa nicht den Eindruck, auf diese Aufgabe vorbereitet zu sein, geschweige
denn sich dieser Aufgabe zu stellen.
Dabei ist die in Europa entstandene Verbindung von Realpolitik und politischem
Idealismus nirgends stärker gefragt als gegenüber den globalen
Herausforderungen unserer Zeit und hierin auch inhaltlich alternativlos. In dem
Maße, in dem die Welt sich von der europäischen Lebensform und vom europäischen
Einfluss ablöst, wird nicht nur Europa verlieren. In dem Maße, in dem wir als
Europäer die Globalisierung mit unserer europäischen Erfahrung von Fortschritt
und Ausgleich prägen, in dem wir vor allem den europäischen Wertvorstellungen
von Personalität und Solidarität Geltung verschaffen, können alle gewinnen.
Wahrscheinlich müssen gerade wir Deutschen ein solches Selbstbewusstsein erst
lernen. Ich meine, wir dürfen es, und wir sollten dieses Selbstbewusstsein
haben.
3. Europa als Antwort der Europäer auf die Globalisierung
Die beschriebenen Herausforderungen, welche die Globalisierung an Europa
adressiert, münden also in der Erkenntnis dessen, was Europas grundlegende
Aufgabe in der Globalisierung ist: Europa weiterzuentwickeln und zu formen als
die Antwort der Europäer auf die Globalisierung. Diese Aufgabe beschreibt die
Bewährungsprobe des in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Europas am
Beginn des 21. Jahrhunderts. Wenn Europa an dieser Aufgabe scheitert, wird zwar
die EU nicht untergehen. Aber die Aufgabe zu meistern ist unerlässlich, um die
innere Legitimation und die Akzeptanz der Bürger für Europa neu zu begründen.
Das kulturelle Europa
Um die gewaltigen Handlungsaufgaben erfüllen zu können, die vor uns und vor
Europa liegen, bedarf es nach meiner festen Überzeugung eines inneren Zusammenhalts
der Europäer, der sich auch in der Ausbildung eines erkennbaren europäischen
Selbstbewusstseins niederschlägt. Es gibt viele, die behaupten, dass es einer
solchen idealistischen Begründung Europas heute nicht mehr bedarf, weil der
gemeinsame Markt an sich oder die in ihm ausgelösten Marktkräfte eine
ausreichende Kohäsion bereitstellen. Ich halte das für eine gefährliche Illusion.
Europa wird ohne einen inneren, immateriellen Konsens nicht handlungsfähig
bleiben können, weil es nicht zu einer politischen Einheit heranreifen kann:
Ohne Einigkeit aber bleibt Europa schwach und weit hinter seinen Möglichkeiten
zurück.
Man mag die Befürchtung haben, für die Entwicklung eines solchen inneren
Zusammenhalts und Selbstbewusstseins sei es zu spät. Und dies gerade deshalb,
weil die alten Quellen des europäischen Zusammenhalts -Versöhnung,
Selbstbehauptung und wirtschaftlicher Aufstieg – schwächer werden oder gar versiegen.
Doch es gibt noch – ältere, aber vitale – Quellen europäischer Identität und
europäischen Zusammenhalts. Sie liegen in unserer gemeinsamen europäischen
Kultur.
Genau aus diesem Grund hat der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi im
Jahr 2002 eine Reflexionsgruppe mit der Aufgabenstellung eingesetzt, die spirituelle
und kulturelle Dimension Europas auszuloten. In dem von der zwölfköpfigen
Gruppe, der neben anderen Kurt Biedenkopf, Bronislaw Geremek und Simone Veil
angehörten, nach über zweijährigen Beratungen und Diskussionen verfassten
Abschlussdokument wird unter anderem unterstrichen, dass das, was uns als Europäer
ausmacht, nicht einfach in einem Katalog der europäischen Werte
zusammengeschrieben werden kann, selbst wenn die im damaligen
Verfassungsentwurf enthaltene Charta der Grundrechte in eine solche Richtung
verwies. »Europäische Kultur, ja Europa selbst, ist kein
Akzeptiert man, dass die gemeinsame europäische Kultur und Geschichte prägend
sein soll für die politische Kultur Europas, hat dies unmittelbare Folgen für
die europäischen politischen Institutionen. Das klingt abstrakt, lässt sich
aber schnell an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Wenn das
institutionelle Europa sich auf seine kulturellen Grundlagen verpflichtet,
folgt aus seiner kulturellen Vielfalt, dass das politische Europa dezentral
organisiert sein muss. Europäische Kultur besteht in ihrer Vielfalt und nicht
in ihrer Uniformität. Die Ausübung politischer Macht in Europa muss es also
ebenso sein. Vielfalt im politischen Prozess aber heißt öffentliche
Meinungsbildung und verlangt politische Führung, die auf Überzeugungsbildung
und Transparenz der Verfahren beruht und sich nicht auf technokratische
Überlegenheit zurückzieht.
Das ist für mich auch der eigentliche Grund, warum es in Europa neben der
Marktintegration verstärkt eine Vorstellung von europäischer Solidarität geben
muss: Die Verbindung von Marktliberalität und Solidarität, wie sie für unsere
soziale Marktwirtschaft konstitutiv ist, ist typisch für die europäische
Lebensform insgesamt. Unsere gemeinsame kulturelle Basis muss sich in unseren
politischen Institutionen spiegeln, nicht umgekehrt.
Die kulturelle Selbstfindung und Weiterentwicklung Europas ist indes kein
Vorhaben, das den Institutionen der EU und den Mitgliedstaaten überlassen
werden kann. Eine gemeinsame europäische Kultur als gemeinsamer
Schaffensprozess kann letztlich nur als Gegenstand und Ergebnis der
zivilgesellschaftlichen Entwicklung Europas gelingen. Aufgabe der Politik ist
es, einerseits die zivilgesellschaftliche Entwicklung in Europa zu fördern,
andererseits aber auch durch politische Selbstbegrenzung dafür zu sorgen, dass
es die Freiräume gibt, die für das Hervorbringen einer produktiven europäischen
Zivilgesellschaft unerlässlich sind.
Das demokratische Europa
Demokratie als Staats- und Lebensform ist eine der ältesten und wichtigsten
Leistungen europäischer Kultur. Demokratische Legitimation und die Kontrolle
von Macht, die wiederum die Öffentlichkeit der Meinungsbildung und die
Transparenz der Verfahren erfordern, sind darum auch für die politische Ordnung
der Europäischen Union konstitutiv.
Wie steht es nun um das demokratische Europa? Was besagen die inzwischen drei
gescheiterten Referenden über eine neue vertragliche Grundlage Europas für die
Akzeptanz Europas durch seine Bürger?
Zunächst: Diese drei Entscheidungen sind zu respektieren; schmerzlich sind sie
dennoch. Dies nicht nur, weil es sich bei Frankreich und den Niederlanden um
Gründungsmitglieder der ursprünglichen Europäischen Gemeinschaft und bei Irland
um ein Land handelt, das von der europäischen Integration sehr stark und vor
allem wirtschaftlich und finanziell profitiert hat. Das Schmerzliche und
zugleich Alarmierende an diesen drei Volksentscheiden ist aber vor allem der
Umstand, dass sie nur zufällig in diesen drei Ländern so ausgefallen sind. Es
hätte wohl so gut wie überall passieren können, auch in Deutschland.
Worin könnten die Gründe für einen derartig heftigen Vertrauensentzug der
Bürger gegenüber den europäischen Institutionen liegen? Was drückt sich darin
aus? Drei Gründe spielen eine Rolle.
Erstens ist es bei den bisherigen Referenden in Wirklichkeit nie um ihren
formalen Gegenstand gegangen, also die neuen vertraglichen Grundlagen der
Europäischen Union. Die Verträge, über die abgestimmt wurde und wird, sind
Dokumente mit mehreren hundert Seiten und mit zum Teil hochkomplizierten
Bestimmungen. Unabhängig davon, dass dies mitnichten ein Spezifikum
europäischer Gesetzgebungswerke ist, muss man wissen, dass solche Texte der
öffentlichen Vermittlung, Erörterung und Kommunikation schlicht nicht
zugänglich sind. Sie sind darum auch ein vollendeter Nachweis, dass Plebiszite
über solche Gegenstände nicht nur untauglich, sondern vor allem undemokratisch
sind. Demokratie ist diskursabhängig; wenn der Diskurs nicht funktioniert,
nicht funktionieren kann, dann ist auch die Demokratie gestört.
Zweitens verbirgt sich in der Ablehnung in Frankreich, den Niederlanden und in
Irland nach meiner festen Überzeugung ein negatives Urteil der Bevölkerung über
das, was ich das »Einerseits zu viel und andererseits zu wenig« der
europäischen Politik nenne und als Kern des Legitimationsproblems Europas
ansehe: In dem Bemühen, die wirtschaftlichen Grundfreiheiten mit dem Ziel
einer vollständigen Marktintegration zu verwirklichen, offenbart sich zugleich
die thematische Verengung wie die inhaltliche Übertreibung der Politik der
Europäischen Union im Allgemeinen wie der Politik der Europäischen Kommission
im Besonderen. Auf diesem Gebiet wird geregelt, verordnet und verwaltet, was
oftmals inhaltlich am besten noch nicht einmal ein Nationalstaat regeln
sollte. Aber das Bemühen um einen wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmen
bleibt regelmäßig auf der Strecke. Die Bürger erleben darum Europa sowohl und
zugleich im Über- als auch im Untermaß. Und dies erzeugt Misstrauen.
Drittens drückt sich in den Referenden der Protest der Bürger dagegen aus, dass
man ihnen nicht die Möglichkeit gibt, direkt über die Richtung europäischer
Politik zu entscheiden. Die Wahlen zum Europäischen Parlament können nach der
geltenden Rechtslage und auch nach dem neuen Vertrag diese demokratische
Funktion nicht für sich beanspruchen, wenngleich der permanente und
substanzielle Zuwachs an Macht für das Europäische Parlament sehr zu würdigen
ist. Der demokratische Anspruch der Bürger, selbst und unmittelbar die
politische Richtung zu bestimmen, verwirklicht sich bislang somit im
Wesentlichen in den nationalen Parlaments- und Präsidentenwahlen. Das ist der
Grund, warum die Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag oder den
Vertrag von Lissabon plötzlich eine ganz andere Bedeutung aus der Sicht der
Bürger bekommen haben. Jürgen Habermas hat anlässlich des irischen Referendums
völlig zutreffend diagnostiziert, dass in dieser Abstimmung »sich
gewissermaßen die Politik als solche zur Wahl« gestellt habe. Die
Wahrscheinlichkeit sei groß, dass dies überall mit einem Denkzettel für »die«
Politik ende (Süddeutsche Zeitung vom 16.6.2008).
Was folgt daraus? Vor allem, dass es die Gefahr zu bannen gilt, dass Europa
politisch zu einem Regierungs- und gesellschaftlich zu einem Elitenprojekt
wird, das die Unterstützung der breiten Bevölkerung verliert. Europa hat nicht
nur die Aufgabe, eine inhaltliche Antwort auf die Herausforderungen der
Globalisierung zu geben, es muss auch eine demokratisch legitimierte und
deshalb Akzeptanz stiftende Antwort finden. Der dafür unverzichtbare Diskurs
über Inhalt und Richtung von Europa wird nur dann stattfinden, das notwendige
Bewusstsein von Europa als politischer Einheit wird nur dann entstehen, wenn
die Bürger Europas dazu aufgerufen werden, in einem einheitlichen Akt ihrem
politischen Willen Ausdruck zu verleihen. Ein solcher Akt könnte eine europaweite
Volksabstimmung über ein Dokument sein, das den Kern der Europäischen Union
beschreibt und insofern auch überschaubar, vermittelbar und diskutierbar ist.
Mit einer solchen Abstimmung müsste dann aber auch der Ernstfall verbunden
werden. Wenn eine Nation im Plebiszit ihren Willen bekundet, dass sie nicht
dazugehören will, sollte dies auch respektiert werden, das heißt den Ausstieg
aus der EU zur Folge haben. Der Ernstfall ist unvereinbar mit einem
»taktischen Nein«, das auf die Vereitelung der Fortentwicklung der Europäischen
Union und die Beibehaltung des Status quo abzielt. Ich habe vor einigen Jahren,
als es um die Frage eines europäischen Plebiszits über die Verfassung ging, in
einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung meine Ablehnung
dieses Vorschlags damit begründet, dass sich in einem solchen europäischen
verfassungsgebenden Plebiszit ein europäisches Volk und damit die Eigenständigkeit
der EU gegenüber den Mitgliedstaaten konstituiere (FAZ vom 6.5.2004).
Ich halte das Argument nach wie vor für richtig, meine Meinung aber inzwischen
für falsch. Was wir mehr denn je brauchen in Europa, ist das Bewusstsein der
Bürger, als Europäer zusammenzugehören und eine von demokratischer
Legitimation ausgehende politische Einheit zu bilden.
Eine solche »demokratische Zuspitzung« Europas müsste sich in der politischen
Praxis darin niederschlagen, dass Europawahlen mit Spitzenkandidaten für das
Amt des Kommissionspräsidenten eingeführt werden, genauso wie die
Bundestagswahl mit Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers stattfindet. In
dem Maße, in dem die Gestaltung Europas in politischen Alternativen
personalisierbar und sichtbar wird, steigt die Möglichkeit der Bürger, sich
durch Richtungsentscheidung politisch an Europa zu beteiligen.
Das politische Europa
Die dargestellte Verengung der europäischen Integration und die darin liegende
Unzulänglichkeit europäischer Handlungsfähigkeit in der Globalisierung ist wahrscheinlich
weniger Ausdruck bewusster politischer Entscheidungen als eine ungewollte
Folge eines grundlegenden Irrtums der europäischen Integration. Dieser besteht
in der ursprünglichen Annahme, dass die politische Einheit Europas sich
gleichsam als natürliche Folge der Marktintegration von selbst entwickeln
würde. Es sind insbesondere die zentrifugalen Kräfte der Globalisierung, die
diese Annahme inzwischen als illusionär erwiesen haben. Der Markt allein ist
nicht in der Lage, den politischen Zusammenhalt und die gesellschaftliche
Solidarität zu erzeugen, auf welche die Europäische Union als politische
Einheit angewiesen ist.
Aus dieser Analyse ergibt sich im Umkehrschluss eine entscheidende politische
Konsequenz. Europa als nach innen und außen politisch handlungsfähige Einheit
zu entwickeln ist die Übertragung der europäischen Gründungsvision in unsere
Zeit. Genau daraus leitet sich auch das konkrete Mandat ab, das europäische
Politik heute anzunehmen hat. Es liegt in den Gestaltungsnotwenigkeiten und
-möglichkeiten der Globalisierung, die den Handlungsrahmen der Mitgliedstaaten
überschreiten. Dabei geht es nicht einfach darum, dem aktuellen Stand
europäischer Politik und Gesetzgebung neue Felder hinzuzufügen. Die Aufgabe
besteht vielmehr darin, das Ungleichgewicht zu korrigieren, das »Einerseits zu
viel und andererseits zu wenig« auszubalancieren. Es geht um Limitierung und
Erweiterung zugleich.
Was heißt das konkret? Wo muss Europa begrenzt werden, und wo muss es
erweiterte Möglichkeiten europäischen Handelns geben?
Einen ersten Anwendungsfall für die Neubalancierung europäischer Politik
liefert das Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialordnung in der Europäischen
Union. Für die Durchsetzung der Marktfreiheiten ist die EU richtigerweise
zuständig. Indessen wird auf diesem Gebiet auch im Kleinen und bis ins Kleinste
liberalisiert, sodass jeder Schornsteinfeger aus Kreta ohne rechtliche Behinderung
auch in Königswinter zum Einsatz kommen kann. Die sozialen Folgen europaweit
durchgesetzter Marktfreiheiten werden auf die Mitgliedstaaten abgeschoben. Der
allgemeine Bedeutungswandel, den die nationalen Sozialordnungen durch die
Globalisierung erfahren, wird durch die europäische Integration nicht
abgefedert, sondern verstärkt. Wie bereits ausgeführt, bestand im Zeitalter
geschlossener Volkswirtschaften die wesentliche Funktion von Sozialordnung
darin, dem Marktgeschehen einen Rahmen zu geben und zu korrigieren. In dem
durch die Globalisierung ausgelösten Wettbewerb der Standorte ist der
Sozialstaat als Ordnungsfaktor weithin zum Wettbewerbsfaktor in der
Kostenevaluation des Staats als Investitionsstandort mutiert. Doch der
Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Freiheit und gesellschaftlicher
Solidarität gehört zur europäischen Kultur, und ich bin davon überzeugt, dass
die Europäer ihn erhalten und verteidigen wollen. Darum muss das »soziale
Europa« der europäischen Marktintegration hinzugefügt werden.
Das Postulat eines sozialen Europas muss allerdings sofort gegen
Missverständnisse geschützt werden. Erstens bedeutet manche Übertreibung auf
dem Gebiet der Marktliberalisierung nicht, dass der europäische Binnenmarkt
auf allen Gebieten bereits zufriedenstellend funktioniert. Dies kann
insbesondere nicht für die Freiheit und die Gewährleistung von Wettbewerb auf
den Energiemärkten festgestellt werden. Die Wohlstandsmehrung, die in
Globalisierungsländern wie China, Indien, Brasilien etc. stattfindet und mit
wachsendem Ressourcenverbrauch verbunden ist, steigert sowohl die Abhängigkeit
Europas von außereuropäischen Energielieferungen als auch den Kostenfaktor
Energie für Produzenten und Verbraucher in Europa. Energieversorgung und
Energiesicherheit sind darum keine nationalen Themen mehr. Es sind europäische
Themen. Vor diesem Hintergrund erscheint zum Beispiel das Beharren auf dem isolierten
nationalen Ausstieg aus der Kernenergie als ebenso ignorant wie gefährlich.
Denn einem integrierten Energiemarkt kann man sich wirtschaftlich nicht durch
nationale Alleingänge entziehen. Entziehen kann man sich auf diese Weise
lediglich der politischen Einflussnahme auf die Gestaltung des gemeinsamen Energiemarktes.
Ein Ausstieg aus der Betroffenheit ist also nicht möglich, nur ein Ausstieg aus
der Verantwortung und der Mitgestaltung.
Ein zweites Missverständnis, das mit der Forderung nach einem sozialen Europa
verbunden sein könnte, besteht darin, diese Forderung mit dem Ruf nach einem
Ende europäischer Wirtschaftspolitik zu verwechseln. Das Gegenteil ist der
Fall. Denn die erfolgte Marktintegration ist auf der Basis eines
Nebeneinanders der nationalen Wirtschaftspolitiken vonstatten gegangen. Dies ist
der Grund für die extreme Verrechtlichung, mit der die Marktintegration
europäisch durchgesetzt wurde. Sie konnte wegen der Meinungsverschiedenheiten
in der Wirtschaftspolitik nicht politisch, sondern musste rechtlich
durchgesetzt werden. Die Uneinigkeit in der Wirtschaftspolitik zählt zu den
»Gründungsdissensen« in der europäischen Integration (der andere Dissens
betrifft mit dem Verhältnis Europas zu den USA die Außenpolitik), die im Kern
ein deutsch-französischer Dissens waren und sind. Wenn Europa sich gerade auch
wirtschaftlich gegen die anderen großen Wirtschaftsregionen in Asien und
Amerika behaupten will, können wir uns den Luxus dieses Dissenses nicht mehr
leisten. Er ist auch deshalb nicht mehr zeitgemäß, weil die Wirklichkeit schon
längst über die angebliche konzeptionelle Unvereinbarkeit zwischen deutscher
Ordnungspolitik und französischer Industriepolitik hinweggegangen ist. Eine
Debatte über die wirtschaftspolitische Identität Europas wäre deshalb eine
Initiative, die zuvörderst Deutschland und Frankreich Europa schulden. Die
gegenwärtige Finanzmarktkrise verleiht dieser historischen Bringschuld der
beiden Länder höchste Dringlichkeit. Die Finanzmarktkrise hat der liberalen
Marktgläubigkeit angelsächsischer Prägung die Grundlage entzogen. Sie hat
zugleich für die Zeit nach der Krise den wirtschaftskulturellen Wettbewerb
eröffnet zwischen der kontinentaleuropäischen Idee der sozialen
Marktwirtschaft, dem angelsächsischen Kapitalismusmodell und der Politik eines
staatsautoritären Kapitalismus, wie wir sie in China oder Russland finden.
Dieser Wettbewerb, machen wir uns nichts vor, ist zugleich ein Kräftemessen der
Werte und ein Kampf der Interessen. Sowohl unsere Werte als auch unsere
Interessen werden wir nur gemeinsam verwirklichen, oder wir werden gemeinsam
verlieren.
Schließlich geht es darum, die Handlungsfähigkeit Europas nach außen, bei der
Lösung der globalen Probleme und damit letztlich zur Etablierung einer
globalen Ordnung zu entwickeln. Der europäische Ansatz in der Klimapolitik hat
gezeigt, wie erfolgreich Europa sein kann, wenn, ja wenn es einig ist. Das
Scheitern der DohaVerhandlungsrunde über ein neues Welthandelsabkommen im
Jahr 2008 steht exemplarisch für die politische Uneinigkeit der globalen Welt,
die sowohl die innere Uneinigkeit des Westens und Europas als auch die Uneinigkeit
der alten mit den neuen Mächten und Regionen umfasst. Die ungeordnete
Globalisierung birgt ein gigantisches Gefahrenpotenzial, das von dem
US-amerikanischen Kolumnisten und Publizisten Fareed Zakaria so beschrieben
worden ist: »The greatest failure of Western foreign policy since the cold war
ended has been a sin of omission. We have not pursued a foreign policy toward the world's newly rising
powers that aims to create new and enduring relations with them, integrate them
into existing structures of power and lay out new rules of the road to secure
peace and prosperity. If the emerging countries grow strong outside the old
order, they will freelance and be unwilling to help build a new one. The new
world might well be the same as the old - the 19th century world,
that is, marked by economic globalization, political nationalism and war« (Newsweek
vom 11.8.2008, S. 13).
Die Fähigkeit, interne Interessenunterschiede zu überwinden, sich zu
einigen und einen politischen Willen zu definieren, ist darum von
existenzieller Bedeutung nicht nur für Europa, sondern weltweit. Nur so haben
die globalen Probleme wie Versorgung mit Lebensmitteln und Energie,
Menschenrechte, Sicherheit, Klima-, Umwelt- und Artenschutz die Chance auf eine
Lösung.
Gefordert ist mit anderen Worten eine umfassende »europäische Außenpolitik«.
Eine ihrer unverzichtbaren Voraussetzungen besteht darin, das Verhältnis zu den
USA zu klären. Dies bedeutet, den zweiten historischen Gründungsdissens der
europäischen Einigung zu überwinden. Falsch und aussichtslos wäre es, Europa
als Gegenentwurf oder gar als Gegenmacht zu den USA zu konzipieren. Das Ziel
muss vielmehr die Partnerfähigkeit Europas mit den USA sein. Diese Chance
besteht deshalb, weil einiges dafür spricht, dass die USA mit der allmählichen,
aber sicheren Auflösung ihrer hegemonialen globalen Machtstellung dies anders
als früher von den Europäern selbst einfordern.
Ein konkretes Projekt gemeinsamer europäischer Außenpolitik läge in der Bildung
einer gesamteuropäischen Armee, ein Projekt, das im Jahr 2003 von Belgien,
Deutschland, Frankreich und Luxemburg zuletzt verfolgt wurde. Vieles spricht
dafür, dass sich heute Italien und Spanien beteiligen würden. Und noch mehr,
dass die USA dieses Projekt inzwischen befürworten würden. Ein solches Projekt
hätte den Vorwurf der Militarisierung von Außenpolitik zwar zu erwarten, aber
nicht mehr zu befürchten. Außenpolitik, Abwendung humanitärer Katastrophen wie
Völkermord, Abwehr terroristischer Bedrohungen unserer Sicherheit etc. haben
ohne militärische Fähigkeiten keine Aussicht, ernst genommen zu werden,
geschweige denn, dass ein gemeinsames europäisches Handeln möglich wird.
Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch „Deutschlands beste Jahre kommen
noch, Warum wir keine Angst vor der Zukunft haben müssen“, das im Münchner
Piper Verlag 2009 erschien. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Piper Verlages.
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