Erschienen in Ausgabe: No 48 (2/2010) | Letzte Änderung: 22.01.10 |
von Margot Käßmann
„Euer Herz erschrecke nicht – glaubt an Gott und glaubt an mich“ – so
lautet die Losung, die uns für das neue Jahr 2010 mit auf den Weg gegeben ist.
Das ist eine wunderbare Zusage an einem ersten Januar. Denn wir stehen ja am
Beginn eines neuen Jahres meist in einer Spannung zwischen der Hoffnung, dass
alles gut wird, und den Ängsten, dass Schweres auf uns zukommen könnte.
Die Jahreslosung für 2010 ist zuallererst eine Ermutigung: nicht erschrecken!
Habt keine Angst! Mit Gottvertrauen sollen wir in das neue Jahr gehen: Glaubt
an Gott und glaubt an mich.
Hört sich das nicht etwas naiv an, diese Antwort auf das Erschrecken: glaubt an
Gott? Das klingt so einfach. Mich erinnert das an einen Satz, den ich auf
vielen Karten gelesen habe, die ich letzte Weihnachten erhielt: „Alles wird
gut!“ Das ist offenbar eine ganze Serie - herausgegeben von einer
Fernsehmoderatorin. „Alles wird gut!“ Ist das die christliche Botschaft, die
uns die Jahreslosung mitgibt, habe ich mich gefragt. Eine Hoffnung ist das
schon. Alles soll gut werden! Ein neues Jahr beginnt. Da wünschen sich viele
Menschen, dass die Sorgen unserer Welt irgendwie aufgehoben sein könnten.
Und diese Hoffnung packt zum Jahreswechsel auf wundersame Weise unsere ganze
Gesellschaft, so verschieden wir auch sonst sind. Der Briefträger ruft mir zu:
„Frohe Neues!“ Die junge Frau an der Kasse sagt: „Guten Rutsch auch!“ Die
Mitarbeiterin verabschiedet sich fröhlich: „Auf eine Neues nächstes Jahr“. Neu.
Vorfreude. Neugier auch. Der Neubeginn als Chance. Wir dürfen gespannt sein,
was kommt. Voller Hoffnung und Erwartung. Alles ist gut. Oder wie Xavier Naidoo
in seinem neuen Lied singt: „Alles kann besser werden!“ Das ist ein schönes
Gefühl. Und das dürfen wir auch zulassen.
Aber – ja, auf dieses Aber haben Sie sicher schon gewartet. Denn leider ist
eben nicht alles gut. Wir haben allen Grund, zu erschrecken. Damit ist nicht
ein lustiger Spaß nach dem Motto: huch, da habe ich mich erschrocken gemeint!
Kein Halloweenunfug oder Horrorfilm oder Scherz. Nein, es geht hier um echtes
Erschrecken, tiefe Erschütterung, Lebensangst in einer existentiellen
Dimension.
Wenn unser Herz so erschrickt, dann ist unser Leben zutiefst berührt. Unser
Herz, das ist in der Bibel der Ort, an dem der Mensch nichts verbergen kann. Da
kommen Fühlen und Denken zusammen, unsere ganze Existenz ist im Spiel, wenn es
um das Herz geht. Da geht es um die elementaren Fragen unseres: Wer bin ich
überhaupt? Macht mein Leben Sinn? Wo will ich hin? Wie will ich diese Situation
bewältigen? Mein Gott, ich weiß nicht weiter!
Erschrecken - weil ich erkenne, dass es keine Perspektive gibt für mein Leben.
Ich werde nicht mithalten können beruflich, in der Schule, im Leistungssport.
Erschrecken - meine Ehe wankt, ich befinde mich in einem Hamsterrad, So geht es
nicht weiter. Erschrecken - ich habe Schuld auf mich geladen. Das kann ich
nicht wieder gut machen, da gibt es keinen Weg zurück. Erschrecken - ich bin
krank, ich werde sterben. Das muss ich begreifen: mein Leben ist endlich.
Liebe Gemeinde, wenn wir so von tiefstem Herzen erschrecken, dann steht unser
ganzes Leben auf dem Prüfstand. Allzu oft weichen wir davor lieber aus. Der
Jugendliche hängt vor dem Computer ab, die alte Dame schaut Fernsehen, der
Geschäftsmann betrinkt sich, die Familienmutter geht einkaufen. Klischees, ja,
ich weiß. Aber sie stehen für Fluchtmanöver, die das Erschrecken verdrängen
sollen.
Sich selbst konfrontieren mit den großen Fragen des Lebens, mit dem was mein
Leben in Frage stellt, das braucht Mut und Vertrauen. Gottvertrauen, wie Jesus
es meint mit dieser Aufforderung: Glaubt an Gott und glaubt an mich. Vertraut
euch an! Ihr könnt nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Und Gott weiß etwas vom
Leben, weil er eben nicht in fernen Himmelswelten blieb, sondern mitten unter
uns war, auch Leid, Sterben und Tod kennt. An ihn glauben heißt, die Spannungen
unseres Lebens auch im neuen Jahr nicht ausblenden, sondern mutig aus Gottes
Hand nehmen, was kommt und unser Leben verantwortlich gestalten so gut wir es
vermögen. Wenn wir beten, nehmen wir diese
Haltung an: Vertrauen wagen und Mut erbitten.
Im Altarbild von Johann Christian Feige sehen wir in dieser wunderbaren Kirche,
wie die Bewegung des betenden Christus von einem Engel aufgenommen wird. Bei
dem Engel mag der Künstler an das Lukasevangelium gedacht haben: „Es erschien
ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“, heißt es dort. Seine Geste hat
etwas Segnendes, aber auch etwas Wegweisendes. Darauf hoffen wir am Beginn
eines neuen Jahres, auf Segen und auf Wegweisung. Betend wie Christus wünschen
wir uns gehalten und getragen zu sein durch die Höhen und Tiefen, die da kommen
mögen, auch dann, wenn wir erschrecken. Im Gebet erfahren wir die Ermutigung,
uns einzubringen in diese Welt.
Unter dem Hinweis auf diesen Engel bestärkte der Dresdner Oberhofprediger
Philipp Jacob Spener seine Predigthörer mit den Worten: „Mangelts an
Menschen, und sehen wir um uns keinen Halt, so solle uns vom Himmel ein Engel
trösten, das ist, Gott wird uns so unvermutet Trost lassen zukommen, als ob er
einen Engel vom Himmel sendete: entweder von innen selber in unsern Seelen ...
oder dass er andere zu uns schicket, die unser Engel werden."
Nein, noch nicht vollkommen Gottes Reich, in dem alle Tränen abgewischt sein
werden, aber wir können einander zu Engeln werden, zu Boten Gottes. Gott lässt
sich nicht greifen, nicht auf eine Festplatte speichern, nicht einsperren, auch
nicht in Kirchen. Aber Gott lässt sich erfahren in unserem Leben wo wir Trost
finden, begleitet und getragen werden, Umkehr möglich machen, Vertrauen
erfahren. „Euer Herz erschrecke nicht“ – das aber ist sozusagen die
Visitenkarte Gottes. Wir dürfen darauf vertrauen: Gott will uns begleiten auf
allen unseren Wegen - Gottes Engel weichen nie. Es gibt einen Kontrast zwischen
Gottes Zusage und unserem unfertigen, unvollkommenen Leben. Das ist
offensichtlich. Da ist eine Verheißung spürbar, aber die Realität ist
knallhart…
Denn Erschrecken gibt es ja nicht nur im persönlichen Leben, sondern auch mit
Blick auf unsere Welt.
Nichts ist gut in Sachen Klima, wenn weiter die Gesinnung vorherrscht: Nach uns
die Sintflut! Da ist Erschrecken angesagt und Mut zum Handeln, gerade nach dem
Klimagipfel in Kopenhagen.
Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange
darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch
Zivilisten getötet werden. Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der
Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben,
gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft
gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür
einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas
zynisch, ich meinte wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden
überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen
Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz
andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als
alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den
Waffen. Vor gut zwanzig Jahren haben viele Menschen die Kerzen und Gebete auch
hier in Dresden belächelt…
Nein, es ist nicht alles gut, wenn so viele Kinder arm sind im eigenen Land.
Diese Kinderarmut versteckt sich oft ganz still im Hintergrund. Da erzählt mir
eine Mutter, dass die Klasse ihres 15-jährigen Sohnes eine Reise ins Ausland
geplant habe. Sie konnte das erforderliche Geld nicht aufbringen. Die Klasse
wollte ihn unbedingt dabeihaben und gemeinsam haben sie das notwendige Geld
aufgetrieben. Aber der Sohn wollte nicht mitfahren, weil er sich zu sehr
geschämt hat, dass andere für ihn bezahlen. Selbst als der Lehrer anrief, ließ
sich ihr Sohn nicht umstimmen. Er blieb als Einziger zuhause.
Nichts ist gut, Erschrecken ist angesagt, wenn es in einer Gemeinschaft so
schwer, so beschämend ist, Hilfe anzunehmen bei Jungen und Alten, bei Armen,
Kranken und Behinderten. Da braucht es einen tatkräftigen Glauben, der für die
Würde jedes Menschen eintritt.
Es ist nicht gut, nein, es ist entsetzlich traurig, wenn ein Spitzensportler
Angst hat, seine Depression offiziell behandeln zu lassen. Aber machen wir uns
nichts vor: Wenn seine Krankheit öffentlich bekannt geworden wäre, hätte er
kaum weiter Nationaltorwart bleiben können. Dass sein Tod so viele Menschen
berührt hat liegt wohl auch daran, dass Robert Enke stellvertretend für die
Ängste vieler steht. Sie wurden an die Abgründe der eigenen Angst erinnert. Der
Angst nämlich, nicht mehr mitzuhalten und nicht mehr eine Fassade von Größe,
Schönheit und Stärke aufrechtzuerhalten.
Nichts ist gut, wir erschrecken, wenn wir erkennen, wie bei uns eine solche
Atmosphäre der Gnadenlosigkeit herrscht und alle immer stark sein müssen – wie
unmenschlich! Da haben wir Zeugnis zu geben von der Nächstenliebe, die unserem
Glauben entspringt.
Nein, es ist nicht alles gut. Aber trotzdem müssen wir nicht deprimiert oder
mit gesenktem Haupt ins neue Jahr gehen. „Seht auf und erhebt eure Häupter“
heißt es in der Bibel. Aber ja doch! Wir glauben an den auferstandenen Christus
und nicht an einen Toten. Wir haben Hoffnung für diese Welt und über diese Welt
hinaus. Deshalb können wir die Spannung aushalten zwischen Erschrecken und
Gottvertrauen, zwischen Ängsten und Mut zur Weltverbesserung. Wir können
fröhlich feiern, ohne Fassaden. Denn unser Glaube blendet Leid und Kummer in
der Welt nicht aus! Das ist für mich entscheidend. Schon im Stall von Bethlehem
war wahrhaftig nicht alles gut. Jesus wurde in Armut geboren. Der Vater ahnt,
dass eine Flucht bevor steht, die junge Mutter ist allein in der Fremde. Aber
Christinnen und Christen glauben, dass in dem Kind in der Krippe Gott selbst
Mensch wurde - mit Windeln und Wickeln, mit Haut und Haaren, mit Freud und
Leid.
Gott ist kein einsamer Himmelsherrscher, sondern mitten unter uns wie ein
Freund oder eine Schwester, wie ein Mensch, der etwas weiß von den Höhen und
Tiefen des Lebens, von Liebe und Glück, aber auch von Ängsten und Sorgen.
Dieser Glaube führt gewiss nicht dazu, dass alle Mühen und Ängste, aller
Schrecken und alle Fragen unserer Welt aufgehoben sind. Als Christen sind wir
eben gerade nicht weltfremd oder weltentrückt! Aber wir glauben, dass die
Lebenszusage Gottes diese Welt mit ihren vielen Sorgen verwandeln kann. Sie
ermutigt uns, gegen das Erschrecken anzutreten in dieser Welt. Indem wir den
einsamen alten Nachbarn besuchen, dem Jungen die Scham nehmen und offen darüber
sprechen, was Armut bedeutet. Indem wir gegen Feindbilder antreten. Oder einen
nachhaltigen Lebensstil praktizieren. Viele kleine Schritte sind möglich jeden
Tag. So gewinnt nicht das Erschrecken Oberhand, sondern Gottvertrauen.
Ja, wir alle würden gern ganz persönlich und für diese ganze Welt erfahren,
dass das Leben heil werden kann. Danach hört sich die Botschaft doch an:
"Euer Herz erschrecke nicht". Jesus Christus will Heiland für uns
sein. Die Realität aber ist: der Alltag. Und die Erfahrung: Vieles gelingt,
vieles scheitert. Die Welt bleibt unerlöst, es wird nicht alles heil. Gott
setzt die bessere Welt nicht mit Gewalt und Waffen durch. Wir hoffen weiterhin
auf Gottes Zukunft, so sehr wir hier und jetzt Zeichen von Gerechtigkeit und
Frieden setzen wollen. Vielleicht wenigstens besser.
Das wissen wir doch alle: Es gibt kein perfektes oder makelloses Leben. Brüche
in unserem Leben kennen wir alle. Deshalb ist es wichtig, einmal still zu
werden, zur Ruhe zu kommen. Schön, wenn eine Gesellschaft das zumindest zur
Jahreswende noch kann.
Wolfgang Dietrich schreibt:
Es ist ein Gesang in der Welt. Horcht doch!
Selbst die Sterne lauschen herab.
Der Gesang singt zum Leben.
Er nimmt sich Flügel und fliegt bis zum äußersten Ende der Erde.
Da heben die Trostlosen ihr Haupt.
Elende werden heimisch.
Waisen tragen königliche Kronen.
Und selbst aus verdorrten Bäumen weckt der Gesang unverwelkliche Blätter.
Als die Entwurzelten und wir wurzeln uns ein.
Als die Verdorrenden und wir treiben das Blatt.
Als die Saftlosen und wir bringen die Frucht.
Als die Umherirrenden und uns grüßt der Stern.“
Hören wir also! Gehen wir unseren Weg von Gottvertrauen getragen. Auch da, wo
wir trostlos oder verdorrt sind, können wir Wurzeln treiben und Frucht bringen.
Denn unser Leben steht unter der Zusage: „Euer Herz erschrecke nicht!“ Oder
auch: "Gottes Engel weichen nie" - das feiern wir, das leben wir,
davon singen wir, darauf vertrauen wir auch am Beginn eines neuen Jahres. Das
ist eine ganz eigene Melodie für unser Leben, die wir hören und unsere
Hoffnung, auf die wir bauen.
Schön, wenn wir glücklich sind. Dann können wir dankbar sein. Aber wir wissen,
wie verletzbar unser Glück ist, unsere Beziehungen sind, dafür sind wir am
Beginn eines neuen Jahres besonders sensibel. Da kann es Veränderungen geben,
Krankheit, Scheitern und Sterben. „Alles wird gut“ ist viel zu banal. Als
Christinnen und Christen sagen wir stattdessen: Erschrecken wir nicht! Alles
ist aufgehoben bei Gott. Ich kann darauf vertrauen, Gott begleitet mich in den
Höhen und Tiefen meines Lebens. Ob ich allein bin oder in Gemeinschaft,
fröhlich oder sorgenvoll, erfolgreich oder gescheitert, in ruhiger Bahn oder an
einem Wendepunkt. Ich darf mich anvertrauen! Und ich darf mich ermutigt wissen,
selbst zu handeln, meinen Teil beizutragen, damit das Erschrecken geringer wird
in dieser Welt. Wenn viele Menschen viele kleine Schritte gehen, kann sich das
Gesicht der Erde verwandeln…
Lasst uns also mit Gottvertrauen und Mut in dieses neue Jahr gehen. Unser Herz
muss nicht erschrecken, wir sind gehalten und wir können halten, wir sind
ermutigt und können andere ermutigen, wir sind durch den Glauben veränderte
Menschen und können etwas verändern, damit andere nicht länger erschrecken
müssen.
Das hören und annehmen können, bedeutet, gesegnet sein. Dankbar, froh, aber
eben auch gehalten, getragen in den Zeiten von Fragen, Auseinandersetzung und
innerer Unruhe.
So wünsche ich Ihnen allen ein gesegnetes Neues Jahr. Amen.
Mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Kirche Deutschlands (www.ekd.de)
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