Erschienen in Ausgabe: No 48 (2/2010) | Letzte Änderung: 22.01.10 |
Michael Köhlmeier, Die Musterschüler, DTV, München (Oktober 2009), 608 Seiten, Taschenbuch, ISBN-10: 3423138009, ISBN-13: 978- 3423138000, Preis: 11,90 EURO
von Heike Geilen
Täglich liefern die Medien neue Bilder der Gewalt: Brutale
Schlägereien, Amokläufe an Schulen oder von Eifersucht getriebene Ehedramen. Wenn das Stichwort "Gewalt" fällt, fühlen wir uns alle
hilflos. Was treibt Menschen dazu, Gewalt anzuwenden? Dies hat auch den
österreichischen Autor Michael Köhlmeier in seinem 1989 geschriebenen stark
autobiografischen Roman "Die Musterschüler" bewegt. "Das war meine Hauptfrage.",
erklärt er in einem Interview. "Es
ist sicher eine Frage, die mich auch in meinen anderen Büchern zentral
beschäftigt. In diesem Fall war es aber die zentrale Frage: Wie entsteht
Gewalt?"
Es geht um die kollektive Misshandlung eines Mitschülers am
30. November 1963. Gebhard Malin, so heißt der Prügelknabe, wird dabei so
schwer verletzt, dass man nicht weiß, ob er jemals wieder gesund wird. 25 Jahre
später will keiner die Verantwortung übernehmen. Ort des Geschehens ist ein
katholisches Jungeninternat - genannt "das Heim" - mit strengen
Regeln. Die Schüler der unteren drei Klassen schlafen in einem Schlafsaal,
beaufsichtigt von einem Schlafsaalcapo aus den höheren Klassen, der monatlich
wechselt und seine Willkür an den Jüngeren unterschiedlich auslässt.
Auch die Heimleitung bzw. -aufsicht, besonders gefürchtet
der Präfekt, "herrscht" mit gewisser Selbstjustiz. Psychischer und
seelischer Terror sind an der Tagesordnung. Um in den Ferien nach Hause fahren
zu können, müssen die Buben zuerst die Hürde einer Lateinprüfung über sich
ergehen lassen, deren Ergebnis der Präfekt kollektiv auswertet. Aber einer hat
versagt - Malin. Die 14- bis 15-jährigen Gymnasiasten können sich ihre
Heimreise nur mit einem vom Präfekten angeordneten "Züchtigt ihn!"
verdingen.
Es geht um Gewalt von oben, aber auch um Gewalt unter den Schülern.
Nur wo ist der Punkt, an dem man hätte sagen sollen: Schluss - ab hier nicht
mehr weiter? Von außen betrachtet, aus der Distanz heraus, fällt die
Beantwortung dieser Frage recht leicht. Für die Figuren, die in der Situation
stecken, ist es unglaublich schwieriger. Ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes
psychologisches Experiment - genannt das Milgram-Experiment - zeigt dabei genau
die im Buch geschilderte Situation: die Bereitschaft von Menschen, autoritären
Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu
ihrem Gewissen stehen. Auch in Köhlmeiers Roman sind die Jungen, obwohl die
tödliche Gewalt explizit da ist, immer noch der Meinung, dass sie gar keine
ausüben würden. Doch warum? "Als
dann die Sache ihren Lauf genommen hat, das war ein Selbstlauf, das war wie
eine Kugel, die man den Berg hinaufschiebt. Hinaufgeschoben haben wir die Kugel
alle miteinander, und jeder wird seine Gründe gehabt haben, warum er das tat,
ich weiß nicht, welche, und dann ist die Kugel oben. Herunter rollt sie von
allein, und wir sind hinterhergerannt.", versucht der Erzähler zu
erklären.
Mit historischem Abstand jedoch ergibt sich ein ganz anderes
Bild. Dieses Bild versucht der namenslose Protagonist - das Alter Ego Michael
Köhlmeiers - in einem Frage-Antwort-"Spiel", einer ausschließlich in
Dialogform gehaltenen Erzählung, mit seinem ebenfalls nicht benannten Gegenüber
gnadenlos zu analysieren. Zuvor hatte er all die damals beteiligten
"Täter" besucht. Deren Erinnerungen fließen sukzessive in seine
Analyse ein. Doch jeder redet sich seine eigene Schuld klein, kann sich
eigentlich auch kaum noch an die ein Vierteljahrhundert zurückliegende
Begebenheit erinnern. War ich wirklich dabei? Hatte ich mich nicht für eine
ganz andere Art der Züchtigung entschieden? Begonnen habe ich ganz bestimmt
nicht...
"Immer nimmt man
einen Anlaß für eine Ursache. Weil man nichts anderes bekommt. Man sagt, das
war der Anlaß, und sucht nach der Ursache und findet doch wieder nur einen
Anlaß. Und schließlich hat man sich bis zu einem Ende durchgefragt, und das
Warum ist beantwortet, aber nichts ist geschehen ... Ein Katalog von Anlässen
(...) Diese Was-wäre-wenn-Spiele, sind das nicht letztlich Rechtfertigungen?
Daß die Schuld abgeschoben wird - auf jemand anderen oder auf irgendwelche
Umstände?" Köhlmeiers Alter Ego sucht die "Kerbe im
Gesicht", seine eigene und die der anderen. Er sucht nach einer Zeit des
Versagens in der eigenen Vergangenheit, "weil
wir einerseits des Erfolges überdrüssig sind, andererseits aber vor einem
zukünftigen Versagen Angst haben. Das ist das Kreuz, das wir Musterschüler zu
tragen haben." Sein Roman offenbart wie alle seine Bücher einmal mehr
großartige Charakterstudien.
Fazit:
"Die Musterschüler" ist ein Buch über menschliche
und kollektive Schuld sowie teilweise fehlendes Schuldbewusstsein. Es zeigt die
Zerrissenheit, die aus der Verdrängung von selbiger resultiert, wie schmerzlich
Selbsterkenntnis ist und dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld
keine Konsequenzen erspart. Gleichzeitig ist es aber auch eine Aufarbeitung
erlittener Kränkungen durch die Religion und persönlicher Beschädigungen während
Michael Köhlmeiers eigener Internatszeit.
Nicht zuletzt gibt der Roman ein wunderbares Zeitzeugnis der
beginnenden 60er Jahre.
Ein frühes Werk des österreichischen Autors - ein
großartiges Buch.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.