Erschienen in Ausgabe: No 49 (3/2010) | Letzte Änderung: 26.02.10 |
Personalentscheidungen, Aufbauhilfe und Entwicklungsstrategie, Korruption und Geheimdienste, Schutz der Zivilbevölkerung und Uranmunition - Christoph Hörstel wagt den Versuch, auf zwei Seiten die aktuelle Lage in Afghanistan zu bewerten.
von Christoph R. Hörstel
Personalentscheidungen
Der neue US-Präsident Barack Obama hat durch seine Personal- und
Verstärkungspolitik der US-Truppen in Afghanistan die Lage noch einmal
eskaliert und plant offenbar, diese Strategie fortzusetzen.
Die Spitzenposition des Kommandeurs aller OEF und ISAF-Truppen bekleidet jetzt
US-Generalleutnant Stanley McCrystal. Zuvor leitete er acht Jahre lang das
Joint Special Operations Command (JSOC), die oberste Mord- und Folter-Einheit
des US-Militärs, zuletzt mit direktem Bericht an den damaligen
US-Vizepräsidenten Dick Cheney. Nach Angaben der New York Times wurden 34 von
McCrystal’s Untergebenen im Irak wegen Ausübung der Folter bestraft, Human
Rights Watch zählt 63.
Zum Botschafter der USA in Kabul wurde ein Kabuler Amtsvorgänger McChrystals
ernannt, Ex-General Karl W. Eikenberry. Während seiner Amtszeit als Nato-Chef
am Hindukusch und mit seiner ausdrücklichen Zustimmung unterzeichneten
pakistanische Regierungsbevollmächtigte am 5. September 2006 mit den Taliban
das „Nordwaziristan-Abkommen“, benannt nach dem pakistanischen Grenzdistrikt,
in dem die afghanischen Taliban unter nicht kontrollierbaren Zusagen freies
Geleit erhielten - nach offiziellen Aussagen des pakistanischen Militärs auch
„Al-Qaeda“-Chef Osama bin Laden. Diese „Verschnaufpause“ führte mit dazu, dass
die Taliban von 2006 auf 2007 ihre Aktivitäten in Afghanistan und Pakistan fast
verdoppelten. An Eikenberrys letztem Amtstag am 31. Januar 2007 kam Abdul
Ghaffur, ein Verwandter des britischen Verhandlungspartners auf Seiten der
Taliban, durch einen amerikanischen Bombenangriff ums Leben. In der Folge
scheiterte ein britischer Separatfrieden mit den Taliban um das Städtchen Musa
Qala in der Provinz Helmand.
Die dritte hoch umstrittene Personalentscheidung Obamas am Hindukusch ist der
ehemalige Balkan-Beauftragte Richard C.A. Holbrooke. Er hatte in seinem
früheren Job „Al-Qaeda“-Spitzenfunktionäre Osama bin Laden, die jetzige „Nr. 2“
Aiman al-Zawahiri und andere eingeladen, den Balkan „aufzumischen“. Außerdem
hatte er den serbischen Präsidenten Milosevic und dessen Familie persönlich
bedroht, daher der Beiname „Bulldozer“. Wenn es jedoch eine Vorgehensweise
gibt, die bei Afghanen ganz schlecht ankommt, dann diese. Die renommierte Los Angeles
Times meldete: „Ernennung geht Südasien auf die Nerven.“
Aufbauhilfe, Entwicklungsstrategie und Korruption
Die Grundübel des ganzen Afghanistan-Einsatzes bleiben unverändert: Weiterhin
macht die Aufbauhilfe in Afghanistan nur knapp 10% der Gesamtausgaben aus.
Davon fließt allein etwa die Hälfte in Form von zum Teil exorbitanten Gehältern
bis zu 1.000 US Dollar pro Tag an die Geber zurück. Auch auf eine kohärente
Entwicklungsstrategie für das geschundene Land am Hindukusch können sich die
„Geberländer“ nach wie vor nicht einigen. Immer noch arbeiten Drogenwarlords
eng mit den Nato-Geheimdiensten zusammen. Der frühere britische Botschafter in
Uzbekistan, Craig Murray, schreibt, Großbritannien beschütze in der
afghanischen Provinz Helmand eine Opium-Rekordernte. Die NGO „Tribal Liaison
Office“ (TLO) schrieb 2005 in einem Geheimbericht für die niederländische
Botschaft in Kabul, niemand könne in Afghanistan auch nur Distriktchef der
örtlichen Polizei werden, wenn der dort ansässige Drogenwarlord nicht zustimme.
Damit erscheinen die westlichen Aufforderungen an Karzai, endlich etwas gegen
die Korruption zu unternehmen, als bloße Projektion und Propaganda, ebenso wie
das Gefasel von Polizei-Ausbildung. Der weltweit anerkannter
Afghanistan-Experte Professor Rubin Barnett von der Universität New York sieht
die gesamte Administration im Rausch der gewaltigen Drogengelder, die vor allem
in und von Dubai aus angelegt werden.
Geheimdienste
Selbst im Kampfgeschehen regiert oft das Chaos: Ein von der Karzai-Regierung aus
den Reihen der Taliban herausgekaufter ehemaliger Regionalkommandeur berichtete
dem Autor im Frühjahr 2009 mit zahlreichen Details von einer Schlacht um die
Provinzhauptstadt Helmands, Lashkargah, im Jahr 2007. Damals hätten die
beteiligten amerikanischen, britischen und kanadischen Einheiten heimlich und
getrennt voneinander Unterhändler an die Talibankommandeure entsandt, alle drei
mit gleichlautender Botschaft: Gegen Zahlung erheblicher Geldsummen sollten die
Widerständler zusagen, ausschließlich die Teilstreitkräfte der jeweils anderen
beiden Nationalitäten anzugreifen.
Immer wieder gibt es auch eklatante Beispiele für erstaunliche
Unterstützungsleistungen von Seiten der westlichen Verbündeten an den
afghanischen Widerstand: So wurden Ende Dezember 2007 die beiden amtierenden
Spitzendiplomaten der EU und der UN-Mission UNAMA (United Nations Assistance
Mission for Afghanistan), Michael Semple und Mervyn Patterson, festgenommen und
des Landes verwiesen, weil sie mit den Taliban in der von den Briten verantworteten
Provinz Helmand verhandelt hatten. Dabei war auch Geld im Spiel: 200.000 US$,
der größte Teil davon bar.
Der prominente Afghanistan-Kenner Ahmed Rashid schreibt, Straßenbomben für die
Taliban würden in Pakistan praktisch unter Aufsicht der pakistanischen
Geheimdienste gebaut. Diese Dienste stehen ihrerseits unter schärfster
Beobachtung durch Nato-Dienste, so dass den Regierungen bekannt sein dürfte,
wer unsere Soldaten wie umbringt. Für die Zünd- und Steuer-Elektronik werden
Teile aus Großbritannien verwendet. Das deutsche „Parlamentarische
Kontrollgremium“ (PKG) für die Geheimdienste sah hier bisher keinerlei
Handlungsbedarf.
Schutz der Zivilbevölkerung
Das als große strategische Neuerung gelobte Vorgehen des US-Generals
McChrystal, das die Ballungszentren der Bevölkerung schützt und dafür weite,
dünn besiedelte Flächen dem Feind preisgibt, kennt man schon vom Endstadium der
Sowjetbesatzung ab 1985.
Im Herbst 2001 bot Afghanistan reichlich Belege dafür, dass die US-Luftwaffe
absichtlich zivile Ziele angriff. Die Beweislage erstreckt sich bis in die
US-Luftwaffendoktrin Nr. 1 von 1997. Deren Präambel ist von Luftwaffengeneral
John A. Warden III. verfasst, der in umfangreichem Schrifttum immer wieder
seine Idee propagiert hat, dass zur effizienten Erreichung politischer Ziele
die Zivilbevölkerung eines Ziellandes eher attackiert werden solle als dessen
Militär. Zahlreiche Bombardements der USA auf rein zivile Ziele, wie
Hochzeitsgesellschaften, Dorfschaften und rollenden Straßenverkehr belegen dies.
General McChrystal scheint den Fehler zu erkennen, das bleibt abzuwarten. Doch
der Ruf der Nato ist in Afghanistan ruiniert.
Uranwaffen
Bei Ihren Luftangriffen in Afghanistan und Pakistan setzen die USA
erklärtermaßen Uranwaffen ein, das wohl schockierendste Verbrechen überhaupt.
Offenbar werden dadurch genetische Defekte bei den betroffenen Menschen
erzeugt, mit der Folge hunderte wenn nicht tausender schwer geschädigter Kinder
oder eines langsamen Todes bei allen Opfern dieses Kriegsverbrechens, das der
Autor als “stillen Völkermord” bezeichnet. Sämtliche westlichen Krankenhäuser
in Kabul weigern sich entgegen dem hippokratischen Eid ihrer Ärzteschaft de
facto, entsprechende Gewebeproben von Betroffenen zu entnehmen und in technisch
entsprechend ausgerüsteten und ethisch einwandfrei arbeitenden Labors auf
Spuren von Uranwaffengebrauch untersuchen zu lassen. Darüber schweigen die
meisten Medien – und die Politiker.
Wahlen
Sämtliche Wahlen in Afghanistan waren bisher mehr oder weniger gefälscht, sagen
prominente europäische Beobachter. Alle Botschaften in Kabul wissen das.
Mord, Folter und willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitskräfte sind weit
verbreitet. Es gibt weder Sicherheit noch Gerechtigkeit. Die Afghanische
Nationalarmee (ANA) zeigt exakt die gleichen Probleme wie zur Zeit der
sowjetischen Besatzung: Sie ist grundsätzlich nicht in der Lage, mehr Männer zu
rekrutieren als täglich desertieren.
Im Winter verhungern Menschen in abgelegenen Seitentälern, während in Kabul
klimatisierte Geländewagen der NGOs und Kriegsgewinnler Verkehrsstaus
verursachen.
Christoph R. Hörstel ist Experte für die Islamische Bewegung und Terrorismus.
Er ist Regierungs- und Unternehmensberater und hat Bücher zu Afghanistan und
Pakistan veröffentlicht. Im Frühjahr 2010 erscheint „Brennpunkt Palästina”.
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Herzlichen Dank an: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
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