Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Michael Lausberg
Im Jahre
1835 quittierte Bakunin seinen Dienst als Leutnant in der russischen Armee und
wechselte an die Universität Moskau.[1] Hier
lernte er den jungen Dichter Nikolay W. Stankjewitsch kennen, von dem er seinen
ersten wichtigen intellektuellen Einfluss erfuhr.[2] Bis
in seine letzten Jahre hinein hat Bakunin Stankjewitsch seinen geistigen Vater
genannt.
Stankjewitsch
war der erste erwähnenswerte russische Romantiker; sein Verdienst bestand
darin, dass er das russische Denken mit deutscher Philosophie vertraut machte.
Die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts bargen vielfältige kulturelle Reize in
Russland. Die junge Generation beschäftigte sich vor allem mit der deutschen
idealistischen Philosophie, die Neugier für die völlig neue Art des Denkens
breitete sich im ganzen Land aus.[3]
Ebenfalls
unter diesem Einfluss stehend begann Bakunin, sich mit E.T.A Hoffmann, Jean
Paul, Bettina von Arnim und Goethe zu beschäftigen.[4]
Fichte
Durch die
Beschäftigung mit der deutschen idealistischen Philosophie wurde Bakunin auch
mit dem Werken Fichtes vertraut. Besonders Fichtes „Anweisungen zum seligen
Leben“, wo eine quasi objektlose Religion gepredigt wurde, nahm er mit großem
Enthusiasmus auf.[5] Indem der Nächste nicht
ein einziges Mal überhaupt benannt ist, sind alle Grenzen des spekulierenden
Ich verschwunden, kann es als „Gesetz der höheren Sittlichkeit“ gelten, „die
Menschheit in der Wirklichkeit zu dem zu machen, was sie ihrer Bestimmung nach
ist, zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren
göttlichen Wesens.“[6]
Die
spekulative Mystik war für Russland fast folgenreicher als der reine
Säkularismus, denn sie verzehrte das wenige christliche Erbe unter den
gebildeten Schichten. Es erschien nahe liegend, dass Fichtes Botschaft mit der
Offenbarung Christi verwechselt wurde.[7]
Mensch konnte bereits Fichte fast beliebig, d.h. schon kaum mehr sachgerecht
interpretieren, in Russland verlor sich alles in letztlich ästhetischen
Emotionen.
Fichte hat
dem Romantismus die philosophische Legetimierung gegeben; seine Motive wurden
tradiert und sogleich in Hegel hineingetragen. Fichtes Pathos ist Bakunin
geblieben – er hat seinen Stil geprägt. Um ihn bekannt zu machen, übersetzte er
im Jahre 1835 „Die Bestimmung des Gelehrten“. Für Bakunin war Gott nun entdeckt
und beliebig erfüllbar als der „Sinn des Lebens, der Gegenstand echter Liebe,
nicht der, den man durch Erniedrigung des eigenen Ich zu gewinnen habe, nicht
der, der außerhalb der Welt richtet, sondern der, der in der Menschheit lebt,
der sich in dem erhöhtem Menschen selbst erhöht, der durch Jesus lebendige
Worte des Evangeliums sprach, der in den Dichtern redet.“[8]
Das „neue
Leben“ angesichts einer dunklen Zukunft mit sehr unklaren Zielen und
Perspektiven, unterschied er nun von den bisherigen „poetischen, harmonischen,
aber leeren“ Daseinsvorstellungen – er war bereit, auf alles „öffentliche
Leben“ zu verzichten und sich als Mathematiklehrer durchzubringen, nicht aber
„sich der Gesellschaft zu opfern, in der alle Ideale unwahr“ seien.[9]
Mit der
Fichteschen Predigt von der Kraft der Liebe, seinem neuem Evangelium, dem
Auftrag, den „Gott und den Himmel, den er in sich trägt, auf die Erde zu
bringen“[10], konnte Bakunin den
Übergang zum Boheme vor der Familie rechtfertigen.
Im Jahre
1838 übersetzte Bakunin Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben“. Dieses Werk
war ein Versuch, um ein idealistisches System von Ethik zu schaffen.
Es wurde
Bakunins ständiger Begleiter dieser Zeit; Zitate und Umschreibungen aus dem
Werk füllten die meisten Briefe Bakunins.[11] In
dieser Zeit der größten Nähe zu Fichte identifizierte sich das
Sendungsbewusstsein Bakunins mit dem künftigen Gottmenschen als dem Ziel und
der Möglichkeit des Menschseins, dem neuen Christus.[12]
In dieser
Folge der Identifikation hatte auch das Nationale seinen Ort: „Die Menschheit
galt als der von der Vorsehung geführte sündlose, als der idielle Mensch –
jedes Volk als notwendiger Baustein der Menschheit unter Gottes Führung – das
Nationale als je in Zeit und Raum begrenzte göttliche Stimme, als nationales
Genie im Bewusstsein der Menschen – alles überhöht von dem höchsten Genie, dem
Gottmenschen Christus als der Inkarnation des Bewusstseins der ganzen
Menschheit.“[13]
Mit dem
Verblassen der höchsten Sphäre gewann das nationale Bewusstsein überragende
Bedeutung, es wurde zum messianischen in dem Augenblick, in dem die
unmittelbare Geschichte den jungen Völkern Recht zu geben schien. [14] Das
Pathos Fichtes schwingt im Stile Bakunins noch in den Alterschriften nach, den
Einfluss seiner Freiheitsidee hat sich im Werke Bakunins nie mehr ganz
verloren.[15]
Hegel
Bakunin
erhielt Anfang 1837 von Stankjewitsch den Anstoß, sich mit der Hegelschen
Philosophie auseinanderzusetzen.[16] Die
Aneignung Hegels vollzog sich gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung, der
auch das Persönlichste im Leben – geschwisterliche oder freundschaftliche
Bindungen – zur Deutung unterworfen wurden.[17] Bei
Hegel entdeckte Bakunin den Begriff der „Wirklichkeit“ und damit die Versöhnung
mit dem Konkreten: „ noch habe er in sich Leeres, Scheinhaftes, doch ich ließ
mich um meines Glückes willen von Hegel verschlingen.“[18]
Seine
Identifizierung mit dem, was er mit dem Wirklichkeitsbegriff Hegels erkannte,
hatte einen enthusiastischen Charakter, in Sehnsucht nach weltanschaulicher
Sicherung, dem Streben nach der Einigung mit dem einen abstrakten Gott.[19]
Aufzeichnungen aus seinem Sommeraufenthalt in Prjamuchino von 1837, die Zeit
Bakunins intensivsten Beschäftigung mit Hegel, zeigten seine Schwärmereien für
den deutschen Philosophen: „ Das Leben erschien als Seligkeit, ohne Böses, das
nur jeweils Begrenzung sei – alles Seiende sollte nun Leben des Geistes, d.h.
des absoluten Wissens, der absoluten Freiheit sein – hier sei der Mensch ein
endliches Moment des absoluten Lebens, zwar als solches noch nicht ganz frei,
aber im Bewußtsein der Möglichkeit seines Freiwerdens. Je mehr der Mensch von
Selbstbewußtsein des Geistes, der heiligen Notwendigkeit durchdrungen werde,
desto näher stehe er der Wirklichkeit. In seiner Natürlichkeit sei der Mensch
von Gott getrennt, mit ihm aber versöhnt in der Poesie, der Religion und
endlich in der Philosophie. Das Moralisch aber bestimme genau den Ort der
Trennung – für den religiösen Menschen sei nichts Böses er wisse von den
Quellen aller Gaben in Gott.“[20]
Bakunin
versuchte, den Begriff der Wirklichkeit genauer zu interpretieren; er wollte
weg von der „Scheinwirklichkeit im Felde des Verstandes“, was indessen „nicht
durch Raisonnement, nur mit Offenbarung“ möglich schien. Dies sollte zur
„wahren Wirklichkeit der Vernunft erheben, von der endlichen Form freimachen.“[21]
Bakunin
veröffentlichte im Jahre 1838 in der Zeitschrift „Moskauer Beobachter“ seine
Übersetzung von Hegels Gymnasialreden, den ersten authentischen Hegeltext in
russischer Sprache. In der Vorrede dazu hieß es: „ Sich gegen das, was ist, zu
empören oder allen Lebensquell in sich zu töten, ist ein und dasselbe: sich mit
der Wirklichkeit auszusöhnen, ist unter jeden Gesichtspunkt die große Pflicht
unserer Epoche.“[22]
Alexander
Herzen, ein lebenslanger Freund Bakunins und Sozialist, kritisierte die
politischen Schlussfolgerungen, die Bakunin aus der Lehre Hegels gezogen hatte.
Sich mit der Wirklichkeit auszusöhnen, bedeutete auch für Herzen die Aussöhnung
mit dem russischen Despotismus unter Zar Nikolaus II..[23]
Im Jahre
1839 verdichtete sich Bakunins Hegelbild allmählich. Vor allem vertieften sich
die historischen Dimensionen nach der Lektüre historischer und theologischer
Bücher aus der Hegelschule.[24]
Die
Vertiefung in das Gedankengebäude Hegels erreichte schließlich einen Grad, dass
Bakunin sich nach dem Weggang Stankjewitschs ins Ausland als besten Hegelkenner
in Moskau und damit im Russland der damaligen Zeit präsentieren konnte.
Bakunin
fasste seine philosophische Programmatik in dem Aufsatz „Über die Philosophie“
zusammen. In erneuter Abgrenzung zum Empirismus liegt das neue Gewicht auf der
umfassenden Spekulation, deren „grundlegende Einheit, die Einheit der
Notwendigkeit, nicht durch scharfsinnige Kombinationen je einzelner, zufälliger
Einsichten ersetzt werden könne.“[25] Den
philosophischen Kategorien sei unter dem Eindruck der Empirie bzw. der ihr
komplementären Erkenntniskritik immer etwas Heuristisches, Relatives eigen
geblieben; so seien sie auch bei Kant immer irgendwie abstrakt, ohne Wirklichkeit
und in der Schwebe. Erst die Logik Hegels habe die allgemeinen Gesetze aus der
Idee heraus kontinuierlich entwickelt und ihnen endlich objektiven Wert
gegeben.
Bakunin
hatte mit diesem Aufsatz einen großen Erfolg; Belinskij und Krajewskij, die
beiden Redakteure der Vaterländischen Annalen, in denen der Aufsatz erschienen
war, lobten ihn in den höchsten Tönen. Doch blieb der interessantere zweite
Teil, der für das nächste Heft bestimmt war, ungedruckt.
Innere und
äußere Konflikte, das Wissen, dass in seinem Leben und in seiner Philosophie
vorläufig alle Möglichkeiten durchgespielt wären, trieben Bakunin nach Berlin,
wo er die Quelle des Geisteslebens vermutete und wohin er sich seit Jahren
sehnte.[26] Er
verabschiedete sich von seinen Eltern und Freunden und traf im Sommer 1840 in
Berlin ein. Das geistige Berlin befand sich inmitten der Ära, die einerseits
die Spaltung der Hegelschule in einen konservativen und einen revolutionären
Flügel hervorbrachte und andererseits die Reihen der Antihegelianer stärkte.
Schelling trat sein Berliner Lehramt unter entschiedenen antihegelianischen
Akzenten an.[27]
Vorerst
blieb Bakunin noch im Bereich der konservativen Hegelschule; wie Turgenjew und
andere russischen Denker vor ihm arbeitete er bei Werder, der Hegels Begrifflichkeiten
ins Künstlerische-Verständliche umzudeuten wusste und insofern Bakunins
bisherigen Versuchen entsprach. Sein Programm des ersten Berliner Semesters war
umfangreich, mit Werder, Hotho und Vatke durchaus im Sinne der langsam
abblühenden konservativen Hegel-Observanz.
Im Herbst
1841 machte Bakunin die Bekanntschaft mit dem revolutionären Linkshegelianer
Arnold Ruge. Sie eröffnete dem Russen neue philosophische Horizonte, er wurde
hineingeworfen in die Krisenproblematik des einst allmächtigen Hegelschen
Systems und mit der völlig veränderten Situation und ihren gewandelten
Fragestellungen konfrontiert.
Arnold Ruge
veröffentlichte im Oktober 1842 in seinen Deutschen Jahrbüchern die erste
größere Arbeit Bakunins unter dem Pseudonym Jules Elysard mit dem Titel „Die
Reaktion in Deutschland. Fragment von einem Franzosen“. Die Schrift fing mit
dem Leitmotiv seines Lebens an: „Freiheit, Realisierung der Freiheit – wer kann
es leugnen, dass dies Wort obenansteht auf der Tagesordnung der Geschichte.“ [28]
Wieder bekannte
er sich darin zu Hegel: „Der Gegensatz und dessen immanente Entwicklung macht
einen der Hauptknotenpunkte des Hegelschen Systems aus und diese Kategorie, die
Hauptkategorie, die das herrschende Wesens unserer Zeit ist, so ist auch Hegel
unbedingt der größte Philosoph der Gegenwart, die höchste Spitze unserer
modernen, einseitig theoretischen Bildung. Gerade dadurch ist er auch der
Anfang einer notwendigen Selbstauflösung der modernen Bildung.“[29] In
der Schrift wendete er sich gegen jeden Versuch, die Gegensätze zu versöhnen,
weil lediglich aus ihrem Zusammenprall die völlige Wahrheit hervorgehen konnte.
Er weissagte
den Ausbruch der bevorstehenden Revolutionen: „ Alle Völker und alle Menschen
sind von einer gewissen Ahnung erfüllt und jeder, dessen Lebensorgane nun nicht
gelähmt sind, sieht mit einer schauerlichen Erwartung der nahenden Zukunft
entgegen, welche das erlösende Wort aussprechen wird. – In Russland, selbst in
diesem endlosen und schneebedeckten Reiche, das wir so wenig kennen und dem
vielleicht eine große Zukunft bevorsteht, - in Russland selbst sammeln sich
dunkle Gewitter verkündender Wolken! – Oh, die Luft ist schwül, sie ist
schwanger von Stürmen!“[30]
Bakunin
schloss mit den Sätzen: „Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur
deshalb zerstört und verrichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende
Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende
Lust.“[31]
Bakunin
analysierte die gesellschaftspolitische Konstellation seiner Zeit mit
Hegelschen Begriffsschemata. In der These, dass die moderne Bildung, d.h was
Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einen Selbstauflösungsprozess
unterliege, formulierte Bakunin das Selbstverständnis der Nachhegelianer klarer
und unverzerrter als es bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses
wäre, wie Bakunin meinte, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue
praktische Welt – in die wirkliche Gegenwart der Freiheit.“[32]
Bakunins
Pamphlet „Die Reaktion in Deutschland“ wurde zu einer Programmschrift der „Philosophie
der Tat“, die den Übergang von der Theorie zur Praxis und zur
politisch-gesellschaftlichen Tat erzwingen wollte.[33]
Das Pamphlet
war nach übereinstimmender Auffassung die bedeutendste Darlegung des
geistesgeschichtlichen Selbstverständnisses der Junghegelianer.[34]
[1] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 13
[2] Carr, Michael Bakunin, a.a.O., S. 20
[3] Dyziur, The doctrine of anarchism of Michael
A. Bakunin, a.a.O., S. 22
[4] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 15
[5] Scheibert, P.: Von Bakunin
zu Lenin, Leiden 1956, S. 139
[6] Medicus, F. (Hrsg.): J. G.
Fichte. Werke, Bd. 5, S. 79
[7] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 139
[8] Rholfs/Nettlau, Bakunin,
Gesammelte Werke, Bd.1, a.a.O., S. 465
[9] A.a.O., S. 467
[10] A.a.O., S. 222
[11] Carr, Michael Bakunin,
a.a.O., S. 31
[12] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 142
[13] Rholfs/Nettlau, Bakunin,
1. Bd., S. 257
[14] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 142
[15] Schneider.L./Bachem, P.
(Hrsg.): Michael Bakunin. Philosophie der Tat, Köln 1968, S. 14
[16] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 143
[17] Schneider/Bachem,
Bakunin, a.a.O., S. 14
[18] Brief an die Schwestern,
Anfang Mai 1837, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 144
[19] Saltman, R.G.: The social and political
thought of Michael Bakunin, Westport
1989, S. 65
[20] Aufzeichnungen
September/Oktober 1837, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O.,
S. 144
[21] Brief an die Schwestern,
März 1838, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S. 145
[22] Zitiert aus: Brupbacher,
F.: Michael Bakunin. Der Satan der Revolte, Zürich 1929, S. 54
[23] Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 16
[24] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 147
[25] Zitiert aus a.a.O., S.
149
[26] Schneider/Bachem,
Bakunin, a.a.O., S. 14f
[27] Henrich, D.: Der
ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960, S. 219ff
[28] Beer, Philosophie der
Tat, a.a.O., S. 19
[29] A.a.O., S. 24
[30] A.a.O., S. 301
[31] A.a.O., S. 37
[32] A.a.O., S. 25
[33] Schneider/Bachem,
Bakunin, a.a.O., S. 22
[34] Walter, N.: Conversations
about anarchism, in: Anarchy 85, März 1968, S. 68
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