Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Heike Geilen
"Der Wunsch ist ein Begehren oder Verlangen
nach einer Sache oder einer Fähigkeit, ein Streben oder zumindest die Hoffnung
auf eine Veränderung der Realität oder das Erreichen eines Zieles für sich
selbst oder für einen anderen." So nüchtern ist es in der freien
Enzyklopädie Wikipedia nachzulesen. Viele Philosophen, Psychologen und
Literaten, aber auch die Religionen haben sich mit diesem menschlichen Phänomen
auseinandergesetzt. Epikur unterschied drei Arten: natürliche und notwendige
Wünsche, natürliche und nicht notwendige Wünsche und nicht natürliche und nicht
notwendige Wünsche. Sigmund Freud meinte, dass verdeckte Wunscherfüllungen in
unseren Träumen zu Tage treten und Ludwig Wittgenstein beschreibt das Wünschen in
seinen "Philosophischen Untersuchungen" als ein charakteristisches
Erlebnis, wie Wiedererkennen, sich Erinnern. Der Wunsch antizipiere die
Zukunft, denn er scheine schon zu wissen, was ihn erfülle.
In der Literatur und ganz besonders im Märchen wird dem Wünschen
oft ein magischer Charakter zuteil. Meist hat der Protagonist drei Wünsche
frei, deren Erfüllung ihm zugesichert und gewährt wird. So beginnt auch Thomas
Glavinic' neuer Roman. Der fünfunddreißigjährige Familienvater Jonas, Texter in
einer etwas chaotischen Werbeagentur, wird in seiner Mittagspause von einem
diffusen Typen auf der Straße angesprochen, der ihn offensichtlich sehr gut zu
kennen scheint. Zumindest weiß er viele - inklusive pikante - Details aus
seinem Leben aufzuzählen, zu denen auch die intensive außereheliche Liaison mit
der Flugbegleiterin Marie zählt. Widerwillig lässt sich Jonas von dem
eigenartigen Mann mit Goldkettchen, weißem Anzug und Bierfahne überreden, auf
einer Parkbank Platz zu nehmen. Dort überrascht ihn jener mit der lächerlich
erscheinenden Aussage:
"Jonas, ich erfülle Ihnen drei Wünsche."
Jonas, der an einen Scherz seiner Kollegen glaubt oder an
einen Erpresser, der mit dem Wissen um seine private Situation einen Vorteil herausschlagen
will, tut diese ungewöhnliche Aussage als Lächerlichkeit ab. Doch sein diffuser
Gegenüber gibt nicht auf. "Ich bin
keine Fee, und das hier ist kein Märchen. Ich erfülle Ihnen drei Wünsche.
Nennen Sie sie!" Mehr in Gedanken als bewusst sinniert Jonas über die
potentielle Erfüllung seiner Träume und Begehrlichkeiten: "Ich könnte mir wünschen zu erfahren, ob das Leben einen Sinn hat.
[...] Ich hätte gern mehr über den Tod gewusst, ehe ich sterbe [...] Aktiver zu
sein, neugieriger, lebendiger. Neues auszuprobieren! [...] In Zukunft und
Vergangenheit schauen. [...] Vor allem möchte ich verstehen! Ich will die Dinge
und Verhältnisse verstehen, wenigstens ein wenig, [...] Größe könnte ich mir in
meinem Leben wünschen, Dramatik und Besonderheit [...] Ich könnte mir einen
sinnvollen Tod wünschen, damit er besser zu ertragen ist..."
Diese spinnerten Gedankengänge sollen sich im Laufe der
Geschichte einstellen, mehr langsam als plötzlich, mehr unbewusst als klar
erkennbar. "Etwas passiert, sagte
er. Ich kann nicht erklären, was. Etwas geht vor sich." Jonas' bis
dato eher dahinplätscherndes und bequem eingerichtetes Leben nimmt einen
radikal anderen Verlauf. Die zu Beginn beschmunzelte, ja zweifelhafte Begegnung
mit der "zauberhaften Fee" weicht einer erschreckend realistischen
Wirklichkeit. Deren märchenhafte Versprechungen scheinen ungeheuerliche
Wahrheit zu werden. "Sein Leben
schien bisweilen schneller abzulaufen, um urplötzlich zu stoppen und ihn etwas
Entscheidendes behutsam erleben zu lassen. Bald darauf lebte er wieder wie vor
einer Kamera, schnell, doch nicht schmerzlos." Schon bald schiebt sich
eine große Wolke vor das sonnige Leben des Protagonisten, deren dunkle Schatten
nicht nur Jonas, sondern auch den Leser mit hinab in den Abgrund reißen, den
die Hauptperson unbeirrt ansteuert. "Was
da aufklaffte, war ein Tor zum Grauen selbst. Man konnte das Grauen vor sich
haben, es betrachten, sich davor ekeln, sich davor fürchten, vor allem aber
konnte man es sehen und verstehen, dass es existierte und nicht nur eine
Geschichte aus Büchern und Zeitungen war."
"Eine zufällige, lange, alte Sekunde, hier und jetzt, jetzt und
einst, eine von Milliarden und Abermilliarden." (aus "Das
Leben der Wünsche")
Gleichzeitig offenbart die Handlung eine wunderschöne Liebesgeschichte,
bar jedweden Pathos und Tand. Ein märchenhaftes Happy End darf jedoch nicht
erwartet werden. Das hat der österreichische Autor schon in "Die Arbeit
der Nacht" verweigert. "Das Leben der Wünsche" ist auf nahezu
unheimliche Art und Weise mit jenem Roman verwoben und eine Lektüre des 2006
erschienenen Buches nahezu ein Muss. Schon allein deshalb, um den
imposant-brillant gespannten Bogen, der beide Werke verbindet - obwohl jedes
Buch für sich steht -, zu verinnerlichen und fasziniert zu betreten. Ein
Hinüberwechseln von A nach B ist auf jedwede Manier möglich, egal welchen Text
man zuerst liest.
Wie ein Sog zieht das Geschehen den Leser ins Buch. Alles
verschwimmt, schiebt sich ineinander, weich und kräftig, diffus und klar, imaginär
und wahrhaftig, "durchtanzt von
Farben und Geräuschen und Bewegungen". Gefühle werden ausgelöst und an
die Oberfläche gezogen. Am Ende wird man nur mühsam aus dem Text, der - ganz
Thomas Glavinic - viele Fragen offen lässt, auftauchen. Und es braucht gewiss einige
Zeit, die suggestive Gefangennahme, die faszinierende Ergriffenheit, aber auch irritierende
Verstörtheit abzuschütteln und sich aus dem Netz zu befreien, dass der
Schriftsteller unmerklich um den Leser legt. Ja, es braucht Zeit, um wieder am
realen Leben teilhaben.
Fazit:
In einer nüchternen und beschreibenden, keineswegs jedoch
unverständlich-avantgardistischen, sondern stets gut lesbaren Sprache, ist
Thomas Glavinic ein Wurf auf literarisch und stilistisch allerhöchstem Niveau
gelungen.
Die Textpassage aus Roberto Bolaños (1953-2003, chilenischer
Schriftsteller) "Der unglückliche Gaucho", die der österreichische
Autor seinem Roman vorangestellt hat, trifft den Inhalt des vorliegenden Buches
aufs Vortrefflichste: "Ich nehme an,
ich will sagen, dass Kafka begriff, dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege
sind, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um
sich zu verirren und wiederzufinden oder um etwas zu finden, was auch immer,
ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgend etwas, vielleicht
eine Methode, mit etwas Glück: das Neue,
das, was immer schon da war."
Thomas Glavinic
Das Leben der Wünsche
Carl Hanser Verlag, München (August 2009)
319 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446233903
ISBN-13: 978-3446233904
Preis: 19,90 EURO
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