Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Heike Geilen
"Ich habe
versucht, von mir zu sprechen, ohne an mich zu denken. Denn jeder, der an sich
denkt, ist bereits tot. Aber da man genauso tot ist, wenn die anderen nicht
mehr an einen denken, musste ich mich, wenn auch widerwillig, entschließen,
mich in Szene zu setzen und Ihnen meine Präsenz aufzuzwingen." So
kommentiert eine der bekanntesten Personen der Modewelt die ungewohnte
Freizügigkeit, über ihr Leben zu plaudern. Als sie das Korsett abschaffte, das
"Kleine Schwarze" und den Modeschmuck erfand und die Röcke auf eine
skandalöse Länge knapp unterhalb des Knies kürzte, behauptete sie sich damit
als eine legendäre Persönlichkeit der Emanzipation.
1946 traf die Chefin des bedeutendsten Modelabels der Welt -
Gabrielle Bonheur Chasnel,
genannt "Coco" Chanel
- im Exil in St. Moritz auf den Schriftsteller Paul Morand. Sie gewährte ihm detaillierte
und tiefe Einblicke in ihr Leben und vor allem in ihre Seele oder wie sie
selbst sagte, in ihre "verlängerte Kindheit". Dreißig Jahre später
fallen ihm bei einem Umzug die damals aufgezeichneten Notizen erneut in die
Hände. Morand entschließt sich, daraus ein Buch zu machen, das 1976, fünf Jahre
nach Chanels Tod, unter dem Titel "L'Allure de Chanel" in Frankreich
veröffentlich wird.
Eine den inneren
Werten zugewandte Frau
Er lässt die Couturistin in der für ihn einzig möglichen
grammatikalischen Form - der 1. Person - erzählen, denn "nichts war von mir, alles von einer Wiedergekehrten, die auch
jenseits des Grabes, physisch wie psychisch, in gestrecktem Galopp, ihrer
normalen Gangart, daherkam, die überall durchbrach, wie ein Hirsch, der durchs
Unterholz prescht und Blätter und geknickte Äste hinter sich lässt. Hier war
Chanel durchgebrochen, dort hatte Chanel ihre Spuren hinterlassen ... dreißig
Jahre, das ist ein großer Wald ..."
Die Unmenge von Bonmots, diese geistreichen und witzigen
Sentenzen und Aperçusy, die Chanel formulierte, geben dem geschickten Kunstgriff
des französischen Autors Recht. Die große alte Dame, die wie keine Zweite der
Mode ihres Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückte, war Zeit ihres Lebens eine
Einzelgängerin ("Ich hasse das
Alleinsein und lebe doch völlig allein."). Kinderlos und trotz vieler
Liebhaber, die sich wie das who is who der Gesellschaft lasen (u. a. der
russische Komponist Igor Strawinsky oder der Herzog von Westminster), stets der
engen Bindung an einen Mann fliehend, porträtierte sie sich selbst als eine den
inneren Werten zugewandte Frau. "Diese
Belle dame sans mercy, diese
erbarmungslose Schöne, erfand die Armut für Milliardäre (und aß von goldenem
Tafelservice), die ruinöse Einfachheit, das Besondere, das nicht ins Auge
springt. (...) Niemand richtete die Waffe des Snobismus deutlicher gegen sich
selbst."
Unter ihrer Leichtigkeit war ein tiefer Ernst verborgen, ihr
Denken und ihre Handgriffe offenbarten eine zielgerichtete Genauigkeit und ihr
Temperament hatte etwas Absolutes. Als aufmerksame Beobachterin, geprägt durch
ihre Kindheit (als die Mutter starb, gab sie ihr unehelicher Vater in ein Waisenhaus),
durchschaute sie die Ränke der Menschen gelassen.
Für die, die sie einkleidete - die Frauen - empfand sie
keine Freundschaft ("Frau = Neid +
Eitelkeit + Schwatzsucht + Wirrkopf"). Vertrauen schenkte sie
niemandem.
Rebellin der Liebe
und der Modebranche
Ein nicht abreißender Quell von Berufsgeheimnissen floss
über ihre Lippen: "Extravaganz tötet
die Persönlichkeit. Alle Superlative senken das Niveau" "Die
Beweglichkeit des Körpers steckt im Rücken." "Die Taille ist vorne
höher anzusetzen, damit man größer erscheint". "Wenn ein Kleid an der
Schulter nicht sitzt, wird es nie sitzen." "Die Frauen sollten mit
der jeweils jetzigen, nicht mit ihrer Epoche altern." Und: "Schwarz sticht alles aus." Doch: "Wenn man es nach langer Erfahrung
endlich begriffen hat, ist die Schönheit dahin!"
"Ja, der Stolz
erklärt mein störrisches Naturell, mein zigeunerhaftes Bedürfnis nach
Unabhängigkeit. Es ist aber auch das Geheimnis meiner Kraft und meines Erfolgs
- er ist der Ariadnefaden, mit dessen Hilfe ich doch immer wieder meinen Weg
finde." Paul Morand hat diesen Faden aufgenommen und ein klares Bild
von dieser Frau gezeichnet, die es zeitlebens hasste, sich zu erniedrigen, ihr
Rückgrat zu krümmen, Demut zu bekunden, ihre Gedanken zu verschleiern oder
nicht nach ihrem eigenen Gutdünken zu handeln. Er hat es famos verstanden,
diesen einzigen "noch nicht erloschenen Vulkankrater der Auvergne"
(Zitat Chanel) zu porträtieren und auch dem Leser des 21. Jahrhundert noch
etwas von dieser stolzen Frau, dieser Rebellin der Liebe und der Modebranche,
die es von einer einfachen Näherin zu einer Unternehmerin mit 3500 Angestellten
gebracht hatte, darzustellen. 22 Fotografien ergänzen dieses wunderbare neu
verlegte und von Annette Lallemand großartig aus dem Französischen übertragene
Buch, das zugleich ein wunderbares Pariser Porträt der Zwanziger und Dreißiger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts darstellt.
Coco Chanel, die immer noch als Inbegriff von frisch
entfesselter Weiblichkeit und ewigem Stilbewusstsein steht, wäre am 19.August 2009
126 Jahre alt geworden.
Paul Morand
Die Kunst, Chanel zu
sein.
Coco Chanel erzählt
ihr Leben
Titel der
Originalausgabe: L'Allure de Chanel
Aus dem Französischen von
Annette Lallemand
SchirmerGraf Verlag, München (Juli 2009)
282 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3865550681
ISBN-13: 978-
3865550682
Preis: 19,80 EURO
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