Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 14.04.10 |
von Richard von Weizsäcker
I.
Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg
in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine
eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und
Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse,
gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist ein Datum von
entscheidender historischer Bedeutung in Europa.
Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist
notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle
durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir
haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne
Beschönigung und ohne Einseitigkeit.
Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an
das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über
den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind
wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die
Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit
ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere
wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft.
Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und
sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die
vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche
vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen
Anfang.
Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit
erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser
Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen,
zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten
lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache
des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen:
Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den
unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung,
Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man
noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt
Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der
Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für
uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat
uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche
schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach
folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht,
Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im
Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933
trennen.
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an
Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das
Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung
auf eine bessere Zukunft barg.
II.
Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines
Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen
Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der
Gewaltherrschaft.
Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in
deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor
allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben
verloren haben.
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute,
die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und
bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten
Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer
religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns
besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen
Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des
Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der
Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten,
aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.
Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein
Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch
Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man
gearbeitet hatte.
Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und
gedenken seiner in Trauer.
Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen
aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen.
Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die
Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches
Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne,
Männer, Brüder und Freunde.
Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität
vor dem Erlöschen bewahrt.
Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht
auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den
anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall.
Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten Frauen oft
wieder zurückstehen. Viele Frauen blieben aufgrund des Krieges allein und
verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.
Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen,
den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen, wenn sie
nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es
zuerst unseren Frauen.
III.
Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers
gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der
Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses
gemacht. Noch am Tag vor seinem Ende am 30. April 1945 hatte er sein
sogenanntes Testament mit den Worten abgeschlossen: "Vor allem verpflichte
ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der
Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller
Völker, das internationale Judentum."
Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte
immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der
Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.
Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor
den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte
miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit
über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.
Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen,
den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der
unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?
Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren
wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie
der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber
in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in
meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der
Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.
Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht
zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die
ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von
uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.
Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht.
Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.
Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von
Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet
haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute
im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.
Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war
zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie
können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen
haben.
Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu
tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere
Erbschaft hinterlassen.
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen
die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für
sie in Haftung genommen.
Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen
zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann
man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen
machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für
die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird
wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer
erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.
Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne
Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein
Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein
solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum
jüdischen Glauben.
"Das Vergessenwollen verlängert das Exil,
und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."
Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß
der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist.
Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der
Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung
schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten,
an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.
Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist,
anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir
würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden
den Ansatz zur Versöhnung zerstören.
Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in
unserem eigenen Inneren an.
IV.
Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur
in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte.
Der europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die
alte europäische Welt zu Bruch gegangen. "Europa hatte sich
ausgekämpft" (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer und
sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol für das vorläufige
Ende einer europäischen Ära.
Gewiß, das alles hatte seine alten geschichtlichen Wurzeln.
Großen, ja bestimmenden Einfluß hatten die Europäer in der Welt, aber ihr
Zusammenleben auf dem eigenen Kontinent zu ordnen, das vermochten sie immer
schlechter. Über hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall
nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des Ersten Weltkrieges war
es zu Friedensverträgen gekommen. Aber ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden
zu stiften. Erneut waren nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten
sich mit sozialen Notlagen verknüpft.
Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er
erzeugte und er nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war unfähig, ihm
Einhalt zu gebieten. Und auch die europäischen Westmächte, nach Churchills
Urteil "arglos, nicht schuldlos", trugen durch Schwäche zur
verhängnisvollen Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg
wieder zurückgezogen und war in den dreißiger Jahren ohne Einfluß auf Europa.
Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch
Krieg. Den Anlaß dafür suchte und fand er in Polen.
Am 23. Mai 1939 - wenige Monate vor Kriegsausbruch -
erklärte er vor der deutschen Generalität: "Weitere Erfolge können ohne
Blutvergießen nicht mehr errungen werden ... Danzig ist nicht das Objekt, um
das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im
Osten und Sicherstellung der Ernährung ... Es entfällt also die Frage, Polen zu
schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen
anzugreifen ... Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine
Rolle."
Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische
Nichtangriffspakt geschlossen. Das geheime Zusatzprotokoll regelte die bevorstehende
Aufteilung Polens.
Der Vertrag wurde geschlossen, um Hitler den Einmarsch in
Polen zu ermöglichen. Das war der damaligen Führung der Sowjetunion voll
bewußt. Allen politisch denkenden Menschen jener Zeit war klar, daß der
deutsch-sowjetische Pakt Hitlers Einmarsch in Polen und damit den Zweiten
Weltkrieg bedeutete.
Dadurch wird die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges nicht verringert. Die Sowjetunion nahm den Krieg anderer Völker in
Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen. Die Initiative zum Krieg aber ging von
Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion.
Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.
Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime
viele Völker gequält und geschändet.
Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält,
geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer
wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei,
in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen. Die anderen Völker
wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir
selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.
Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung
Deutschlands in verschiedene Zonen. Inzwischen war die Sowjetunion in alle
Staaten Ost- und Südosteuropas, die während des Krieges von Deutschland besetzt
worden waren, einmarschiert. Mit Ausnahme Griechenlands wurden alle diese
Staaten sozialistische Staaten.
Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme
nahm ihren Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie befestigte.
Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen. Daran denken
die betroffenen Völker zuerst, wenn sie sich des von der deutschen Führung
ausgelösten Krieges erinnern.
Im Blick auf die Teilung unseres eigenen Landes und auf den
Verlust großer Teile des deutschen Staatsgebietes denken auch wir daran. In
seiner Predigt zum 8. Mai sagte Kardinal
Meißner in Ostberlin: "Das trostlose Ergebnis der Sünde
ist immer die Trennung."
V.
Die Willkür der Zerstörung wirkte in der willkürlichen
Verteilung der Lasten nach. Es gab Unschuldige, die verfolgt wurden, und
Schuldige, die entkamen. Die einen hatten das Glück, zu Hause in vertrauter
Umgebung ein neues Leben aufbauen zu können. Andere wurden aus der angestammten
Heimat vertrieben.
Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die
kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute
versagt.
Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale
ertragen zu lernen, war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich neben der
Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus stellte. An ihr mußte sich die
menschliche Kraft erproben, die Lasten anderer zu erkennen, an ihnen dauerhaft
mitzutragen, sie nicht zu vergessen. In ihr mußte die Fähigkeit zum Frieden und
die Bereitschaft zur Versöhnung nach innen und außen wachsen, die nicht nur
andere von uns forderten, sondern nach denen es uns selbst am allermeisten
verlangte.
Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns
bewußtzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den
ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich in die Lage von
Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice
versetzen?
Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdam oder
London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die
Bomben stammten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren! Dazu
mußte allmählich eine Gewißheit wachsen, daß Deutsche nicht noch einmal
versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt zu korrigieren.
Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen
abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres
Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen,
fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.
Aber es gab alsbald auch große Zeichen der
Hilfsbereitschaft. Viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wurden
aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln schlagen. Ihre Kinder
und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und der Liebe zur Heimat ihrer
Vorfahren verbunden. Das ist gut so, denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem
Leben.
Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie
mit den gleichaltrigen Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre
Mundart sprechen und ihre Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist ein Beweis
für die Fähigkeit zum inneren Frieden. Ihre Großeltern oder Eltern wurden einst
vertrieben, sie jedoch sind jetzt zu Hause.
Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum
Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche Erklärung im anfänglichen
Stadium der Machtlosigkeit, sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit
behält. Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen, daß
auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland daran gebunden bleibt.
Die eigene Heimat ist mittlerweile anderen zur Heimat geworden.
Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als
deutsche Gräber.
Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach
Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es sind
alles Menschen, die nicht gefragt wurden, Menschen, die Unrecht erlitten haben,
Menschen, die wehrlose Objekte der politischen Ereignisse wurden und denen
keine Aufrechnung von Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen
wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist.
Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das
Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten
leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu
geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot
überzuordnen.
Darin liegt der eigentliche, der menschliche Beitrag zu
einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann.
Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der
Freiheit und Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt es,
die Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte
zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als
Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung
des nächsten Krieges bedeutete.
Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es
nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes vertrauen, das imstande
wäre, seine Heimat zu vergessen?
Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, daß man seine
Heimat nicht vergißt und eben deshalb entschlossen ist, alles zu tun, um immer
in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein
Revanchismus.
VI.
Stärker als früher hat der letzte Krieg die Friedenssehnsucht
im Herzen der Menschen
geweckt. Die Versöhnungsarbeit von Kirchen fand eine tiefe
Resonanz. Für die Verständigungsarbeit von jungen Menschen gibt es viele
Beispiele. Ich denke an die "Aktion Sühnezeichen" mit ihrer Tätigkeit
in Auschwitz und Israel. Eine Gemeinde der niederrheinischen Stadt Kleve
erhielt neulich Brote aus polnischen Gemeinden als Zeichen der Aussöhnung und
Gemeinschaft. Eines dieser Brote hat sie an einen Lehrer nach England
geschickt. Denn dieser Lehrer aus England war aus der Anonymität herausgetreten
und hatte geschrieben, er habe damals im Krieg als Bombenflieger Kirchen und
Wohnhäuser in Kleve zerstört und wünsche sich ein Zeichen der Aussöhnung.
Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen
zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen, wie dieser Mann es getan
hat.
VII.
In seiner Folge hat der Krieg alte Gegner menschlich und
auch politisch einander nähergebracht. Schon 1946 rief der amerikanische
Außenminister Byrnes in seiner denkwürdigen Stuttgarter Rede zur Verständigung
in Europa und dazu auf, dem deutschen Volk auf seinem Weg in eine freie und
friedliebende Zukunft zu helfen.
Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren
privaten Mitteln uns Deutsche, die Besiegten, unterstützt, um die Wunden des
Krieges zu heilen.
Dank der Weitsicht von Franzosen wie Jean Monnet und Robert
Schuman und von Deutschen wie Konrad Adenauer endete eine alte Feindschaft
zwischen Franzosen und Deutschen für immer.
Ein neuer Strom von Aufbauwillen und Energie ging durch das
eigene Land. Manche alte Gräben wurden zugeschüttet, konfessionelle Gegensätze
und soziale Spannungen verloren an Schärfe. Partnerschaftlich ging man ans
Werk.
Es gab keine "Stunde Null", aber wir hatten die
Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt so gut wir konnten. An die
Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.
Vier Jahre nach Kriegsende, 1949, am 8. Mai, beschloß der
Parlamentarische Rat unser Grundgesetz. Über Parteigrenzen hinweg gaben seine
Demokraten die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer
Verfassung:
"Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der
Welt."
Auch an diese Bedeutung des 8. Mai gilt es heute zu
erinnern.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter
Staat geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten Industrieländern der Welt.
Mit ihrer wirtschaftlichen Kraft weiß sie sich mitverantwortlich dafür, Hunger
und Not in der Welt zu bekämpfen und zu einem sozialen Ausgleich unter den
Völkern beizutragen.
Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und
wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des Atlantischen
Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Beitrag
geleistet.
Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der
Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Ein dichtes soziales Netz, das den
Vergleich mit keiner anderen Gesellschaft zu scheuen braucht, sichert die
Lebensgrundlage der Menschen.
Hatten sich bei Kriegsende viele Deutsche noch darum bemüht,
ihren Paß zu verbergen oder gegen einen anderen einzutauschen, so ist heute
unsere Staatsbürgerschaft ein angesehenes Recht.
Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und
Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung dieser vierzig Jahre
dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für
unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns
warten, nutzen.
- Wenn wir uns daran erinnern, daß Geisteskranke im Dritten
Reich getötet wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als
unsere eigene Aufgabe verstehen.
- Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die
vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten
standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns
Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.
- Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen,
werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie
sich auch gegen uns selbst richten mag.
- Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal
denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten und das die Gründung
des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in
dieser Region belasten und gefährden.
- Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden
mußten, werden wir besser verstehen, daß der Ausgleich, die Entspannung und die
friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen
Außenpolitik bleiben. Es gilt, daß beide Seiten sich erinnern und beide Seiten
einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie haben letzten
Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.
Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion Michail Gorbatschow hat verlautbart, es ginge der sowjetischen
Führung beim 40. Jahrestag des Kriegsendes nicht darum, antideutsche Gefühle zu
schüren. Die Sowjetunion trete für Freundschaft zwischen den Völkern ein.
Gerade wenn wir Fragen auch an sowjetische Beiträge zur
Verständigung zwischen Ost und West und zur Achtung von Menschenrechten in
allen Teilen Europas haben, gerade dann sollten wir dieses Zeichen aus Moskau
nicht überhören. Wir wollen Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion.
VIII.
Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk
nach wie vor geteilt.
Beim Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche zu Dresden sagte
Bischof Hempel im Februar dieses Jahres: "Es lastet, es blutet, daß zwei
deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und
blutet die Fülle der Grenzen überhaupt. Es lasten die Waffen."
Vor kurzem wurde in Baltimore in den Vereinigten Staaten
eine Ausstellung "Juden in Deutschland" eröffnet. Die Botschafter
beider deutscher Staaten waren der Einladung gefolgt. Der gastgebende Präsident
der Johns-Hopkins-Universität begrüßte sie zusammen. Er verwies darauf, daß
alle Deutschen auf dem Boden derselben historischen Entwicklung stehen. Eine
gemeinsame Vergangenheit verknüpfte sie mit einem Band. Ein solches Band könne
eine Freude oder ein Problem sein - es sei immer eine Quelle der Hoffnung.
Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns
zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.
Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal
unseres Volkes erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns zusammengehörig in unserem
Willen zum Frieden. Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und
gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur
Gefahr für den Frieden werden lassen.
Die Menschen in Deutschland wollen gemeinsam einen Frieden,
der Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker einschließt, auch für das
unsrige.
Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen hinweg
versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende nimmt.
Gerade daran mahnt uns das Ende des Zweiten Weltkrieges.
Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte
Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist.
IX.
Manche junge Menschen haben sich und uns in den letzten
Monaten gefragt, warum es vierzig Jahre nach Ende des Krieges zu so lebhaften
Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen ist. Warum lebhafter als
nach fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Worin liegt die innere Notwendigkeit
dafür?
Es ist nicht leicht, solche Fragen zu beantworten. Aber wir
sollten die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren Einflüssen suchen, obwohl
es diese zweifellos auch gegeben hat.
Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben
und Völkerschicksalen eine große Rolle.
Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das
Alte Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe
Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre eine häufig wiederkehrende,
eine wesentliche Rolle.
Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der
neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann.
Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen
Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.
An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird
aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur
vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu Ende.
So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie
wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit
mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des
Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich
nachzudenken.
Bei uns ist eine neue Generation in die politische
Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das,
was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte
daraus wird.
Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von
Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen,
warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen
helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit
einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische
Überheblichkeit.
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch
fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen
anders und besser geworden.
Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit
- für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als
Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu
überwinden.
Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften
und Haß zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies
immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.
Bonn, 08.05.1985
www.bundespraesident.de
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