Erschienen in Ausgabe: No 51 (5/2010) | Letzte Änderung: 28.04.10 |
von Daniel Krause
„Wie man erzählt, soll er [de Gaulle] in den Ruinen von
Stalingrad gegenüber einem Begleiter geäußert haben: „Quel peuple!“ Der
Dolmetscher erkundigte sich: „Meinen Sie die Russen?“ „Nein“, sagte de
Gaulle, „die Deutschen.“ (9)
Es sind nicht zuletzt solche Begebenheiten, en passant dargeboten, die Fritz
Sterns Erinnerungen lesenswert machen. Kein Autor der jüngeren Generationen
könnte derart überzeugend Geschichte in Geschichten erzählen. Die Kraft der
Anekdote ist die Stärke der Fünf Deutschland. Dies gilt nicht zuletzt
dort, wo Stern in eigener Person ‚Geschichte machte’ – als er, wie oft
kolportiert, Margaret Thatcher deren tief verwurzelten Widerwillen gegen die
deutsche Wiedervereinigung ausredete. NB: Recht besehen gelang ihm dies nicht.
Allein die beschränkten Wirkungsmöglichkeiten der gewesenen Weltmacht
Großbritannien machten Thatchers Obstruktionspolitik zunichte:
„Natürlich war die deutsche Vergangenheit eine schwere,
nicht abzuwerfende Bürde, aber sie war für die gegenwärtige Situation doch von
begrenzter Relevanz [...]. Wir ‚Experten’ vertraten diese Auffassung mit umso
größerem Nachdruck, je deutlicher uns wurde, wie tief bei der Premierministerin
der Argwohn und die Abneigung gegen die Deutschen waren. [...] Sie war sich
sicher, daß die Deutschen ihre neugewonnene Macht ausnutzen würden, um die
Europäische Gemeinschaft zu dominieren und die alte Mission zu verwirklichen,
die sie sich selbst in Osteuropa gesetzt hatten.“ (593f)
Und weiter, in bizarrer Überspitzung:
„In einer Teepause ergab es sich zufällig, daß ich direkt
neben Mrs. Thatcher stand, und da die anderen ein wenig weiter weg waren,
entspann sich ein kurzes Gespräch. [...] Sie zog gehörig über die Franzosen
her, mit denen nichts anzufangen sei, und flocht noch eine Bemerkung über die
Italiener ein, die leichtsinnig und unzuverlässig seien, um dann hinzuzusetzen:
„Die einzigen, denen man vertrauen kann, sind die Holländer.“
Ich sagte vorsichtig: „Frau Premierminister, das könnte nicht ganz
ausreichen.““ (594f)
Dergleichen mag lustig sein. Wenn Stern aber Vier-Augen-Gespräche mit einflussreichen
sowjetischen Funktionären schildert, und deren Eingeständnis en passant, dass
die viel beschworene, bis heute kontrovers diskutierte Stalin-Note des Jahres
1952 – sie schien die Wiedervereinigung zu ermöglichen, unter Voraussetzung
deutscher Neutralität – ein Täuschungsmanöver darstellte. Wenn Stern aus
erster Hand von Neocons der ersten Stunde berichtet (Irving Kristol, Midge
Decter, Norman Podhoretz), mithin über die Vorgeschichte des verheerenden
Unilateralismus Reagans und George W. Bushs – dann vergeht dem Leser das Lachen
recht bald.
Fritz Stern hat Geschichte nicht allein ‚mitgestaltet’ und im Gespräch mit
Mächtigen ‚vom Feldherrenhügel aus’ kommentiert, sondern – vor allem – erlitten:
als Sohn deutscher jüdischer Eltern, 1926 in Breslau geboren, der fliehen muss,
um der Verfolgung durch Landsleute zu entgehen. In den USA schlägt Stern die
wissenschaftliche Laufbahn ein und bringt es – neben Gordon A. Craig – zum
angesehensten amerikanischen Experten für deutsche Geschichte. Fachliche
Kenntnis, persönliches Erleben und erzählerisches Talent– günstiger könnten
die Voraussetzungen nicht sein für ein Erinnerungsbuch, das auf 800 Seiten
deutsche und Weltgeschichte, gespiegelt im Leben eines einzelnen Menschen, zur
Darstellung bringt. Es dehnt sich zeitlich von der Weimarer Republik über
Nationalsozialismus und deutsche Teilung samt Wiedervereinigung zur rot-grünen
Kanzlerschaft Schröders aus, von der Weltwirtschaftskrise zur unilateralen Versuchung
der amerikanischen Supermacht: Acht Jahrzehnte Weltgeschehen, souverän
gerafft.
„Fünf Deutschland“ und ein gutes Stück Weltgeschichte, in einem Band
verdichtet: Gewisse Ungenauigkeiten sind in diesem Rahmen nicht zu vermeiden.
Das betrifft beispielsweise u. a. Sterns Erörterungen zu Polen in
kommunistischer Zeit: Dass Edward Gierek, Parteichef der siebziger Jahre, eine
„Art gewaltsamer industrieller Modernisierung“ (486) des Landes erstrebte, ist
nicht falsch. Dass aber wenig Konsumgüter hergestellt oder eingeführt wurden,
der Lebensstandard sank, trifft auf die ersten Jahres Giereks nicht zu: Sie
werden bis heute von vielen als Goldenes Konsumzeitalter (nach kommunistischem
Maßstab) gepriesen. Was deutsche Zeitgeschichte betrifft, bleiben Sterns
Einlassungen zu den Hintergründen des NATO-Doppelbeschlusses, wenngleich sie in
keinem Punkt ‚falsch’ sind, recht holzschnittartig. Weshalb die Nachrüstung
durch Mittelstreckenraketen notwendig schien – nach Meinung Helmut Schmidts und
anderer –, um einer vermeintlichen oder tatsächlichen Überlegenheit der
Sowjetunion zu begegnen, wird nicht deutlich. Wohlgemerkt: Solche ‚Mängel’ sind
dem Format einer Darstellung geschuldet, die mindestens achtzig Jahre
Geschichte umfasst: In raffender Vogelschau treten Konturen deutlich hervor,
um den Preis, dass manches Einzelheit nicht ausgeleuchtet werden kann. Man
bedenke auch dies: Fünf Deutschland wurde zunächst für eine
amerikanische Leserschaft geschrieben (Five Germanys I have known, New
York 2006), muss demnach auch als Propädeutik deutscher Geschichte dienen.
An Sterns Kompetenz in der Sache lässt sich vernünftig nicht zweifeln, und
viele Kapitel sind überaus lehrreich: So die Erläuterungen zum
‚Historikerstreit’ der achtziger Jahre, der tendenziell revisionistische
Deutungen des Nationalsozialismus aufs Tapet brachte. Stern zeichnet ein auf
persönliche Kenntnis gegründetes Charakterbild des Protagonisten, Ernst Nolte,
das Deutlichkeit im Urteil nicht vermissen lässt:
„Ich hatte ihn zunächst für einen naiven Gelehrten gehalten
– er hatte das Gebaren eines typischen deutschen Philosophen –, und eine
Zeitlang nahm ich fälschlich an, daß er nicht wusste, was er tat, daß er mehr
Metaphysiker als Historiker sei. Aber jedes weitere Buch von ihm befreite mich
von dieser wohlwollenden Illusion, denn mit jedem ‚relativierte’ er die
Nazizeit mehr [...].“ (552f)
Wie den Historikerstreit bringt Stern manch andere geschichtspolitische Verwirrungen
und Initiativen der achtziger Jahre zu Bewusstsein: Kohls/Reagans Gedenken am
Bitburger Soldatenfriedhof, mithin an Gräbern von Offizieren der Waffen-SS
(1985), oder Richard von Weizsäckers epochale Rede zum vierzigsten Jahrestag
der deutschen Niederlage und Befreiung. Auch dies ist ein hohes Verdienst: Die
längst verblasste bundesrepublikanische Vorwendezeit wird eindringlich vergegenwärtigt.
Das zentrale Lebensproblem Sterns – und die wichtigste Darstellungsaufgabe,
wann immer die Rede von deutscher Geschichte geht – ist freilich ein anderes:
„Ich habe zwar nur fünf Jahre im nationalsozialistischen
Deutschland gelebt, doch diese kurze Zeit genügt, um in mir die brennende
Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung mich während meiner akademischen
Tätigkeit umtrieb: Warum und auf welche Weise ist das universelle Potential der
Menschheit zum Bösen in Deutschland Wirklichkeit gewordenKr? Jahrzehnte der
Forschung und Erfahrung haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß die
deutschen Wege ins Verderben, einschließlich des Nationalsozialismus, weder zufällig
noch unausweichlich waren. [...] Und ich bin zu der Einsicht gelangt, daß kein
Land immun ist gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiöser repressiver
Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit
ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit.“ (9f)
Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben.
Erinnerungen. Aus dem Englischen von Friedrich Giese. München (dtv)
2009.
675 Seiten. EURO (D) 12,90. ISBN: 978-3-423-34561-3.
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