Erschienen in Ausgabe: No. 34 (4/2008) | Letzte Änderung: 23.12.08 |
Zu A. F. Kochs „Versuch über Wahrheit und Zeit“ (Paderborn: Mentis 2006/ ISBN: 3897855615)
von Ralf Beuthan
Einmal angenommen, die technische
Entwicklung wäre schon soweit gediehen, wie es sich die
Science-Fiction-Serie „Startrek“ ausmalt, und ferner angenommen,
Philosophen wären bereit, sich der jeweiligen technischen
Möglichkeiten zu bedienen, dann besuchten sie vielleicht nicht
nur Bibliotheken und Tagungen, sondern gelegentlich auch ein
„Holodeck“ – jenen virtuellen Ort, an dem man mit historischen
oder imaginären Personen interagieren, Strategien und
Argumentationen durchspielen, mögliche Welten inszenieren kann. Und
während Physiker sich z.B. (wie der Androide „Data“) in eine
mögliche Welt versetzen ließen, in der sie gemeinsam mit Newton,
Einstein und Hawkins Grundfragen der Physik diskutieren könnten,
ließen Philosophen zur Inspiration klassische Denker der
Philosophiegeschichte gegeneinander antreten und auf die jeweils
aktuellen Fragen antworten. Dank der wunderbaren technischen
Möglichkeiten wären natürlich auch manche Sprachprobleme – wie
die Verschiedenheit der Sprachen und die historischen
Differenzen – gebannt. Der Philosoph müsste nur vorher die
bevorzugte Sprache und Diskurstradition eingeben, in der er sich
bewegen möchte, nennen wir sie z.B. die „analytische Sprache“ –
und schon kann er in eine Welt eintreten, in der durch eine Art
‚Techno-Pfingsten’ alle aufgerufenen Geister miteinander ins
Gespräch kämen und sich gemeinsam anstrengten, ihre einstigen
begrifflichen Entdeckungen oder Erfindungen „analytisch“ zu
reformulieren und ihre Wahrheit offenzulegen. Auf dem virtuellen
Schauplatz käme das alte Sportlerethos ‚hic rhodus, hic salta’
zu neuen Ehren. – Doch so leicht haben es heutige Philosophen
freilich nicht. Haben sie sich auf eine Sprache, ein Sprachspiel,
eingestellt, verlieren sie nicht selten Denker aus anderen
Traditionen aus dem Blick. Manche dem jeweiligen Sprachspiel fern
liegenden Autoren und Denkweisen sträuben sich überdies
geradezu dagegen, dem Metrum der jeweils präferierten
Sprache zu folgen, und treten in der Folge nur noch als stammelnde
Schreckgespenster am Rande auf. Sie machen sich zwar nicht
verständlich, aber nähren sicherlich das Vorurteil, dass
philosophische Einsicht nur in einer anderen, nämlich der eigenen
Sprache möglich ist. Der Versuch, die Frage von Wahrheit oder
Unwahrheit dieser der eigenen Sprachgemeinschaft fernliegenden
und befremdlichen Gedanken zur Entscheidung zu bringen, endet oft in
einer bloßen Parodie des Unverstandenem. Dem Unverständnis
auf der einen Seite korrespondiert die Beteuerung großer
philosophischer Sprünge auf der anderen.
Liest man Anton Friedrich Kochs
großangelegten „Versuch über Wahrheit und Zeit“, so fühlt man
sich demgegenüber in jene Zukunft versetzt, in der die
Möglichkeiten des Holodecks bereits zur Verfügung stehen. Mit
souveräner Geste führt er Gedanken klassischer Autoren aus der
älteren europäischen Tradition (Parmenides, Platon, Aristoteles,
Kant, Hegel u.a.) und solche unterschiedlicher moderner
Traditionen des 20. Jahrhunderts (Heidegger und Derrida; Quine,
Sellars u.a.) zusammen. Alle hier versammelten Autoren scheinen eine
Sprache zu sprechen (nennen wir sie der Einfachheit halber weiter die
„analytische Sprache“), sogar jene, die viele Vertreter dieser
Sprachgemeinschaft oft nur als stammelnde Gespenster (Heidegger und
Derrida) wahrzunehmen vermögen. Freilich zeigt auch Kochs „Versuch“,
dass mit der Wahl der Sprache ein bestimmter Kanon an Autoren (und
d.h.: ein bestimmtes Set von Fragestellungen, Prämissen und
Argumentationen) präferiert wird – was allerdings zu
einer Zeit, da in der westlichen Welt die „analytische Sprache“
dominiert, zumindest hier kaum noch Anstoß erregen dürfte. Während
auf der einen (‚analytischen’) Seite eine ganze Phalanx an
namhaften Autoren auftritt (neben Quine und Sellars: Brandom, Carnap,
Davidson, Evans, Lewis, Strawson, Tarski, Wittgenstein u.a.), muss
die andere (‚phänomenologische’) Seite letztlich mit
Heidegger und Derrida auskommen. Dass letztere mit diesen Autoren
auskommen kann, spricht nicht zuletzt für deren besondere Bedeutung.
Heidegger und Derrida stellen für Koch in exemplarischer Weise eine
Denkweise dar, welche er „Tiefenphilosophie“ (302) nennt und die
für ihn ein notwendiges Pendant, ein kritischer Begleiter der
„Ersten Philosophie“ ist. Dass es auf der anderen Seite
wenigstens ein Dutzend Autoren braucht, ist vor allem der
charakteristischen, reichhaltigen, oft sehr speziellen und
variantenreichen Forschungsdiskussion geschuldet, welche
von Koch in ihren Grundzügen berücksichtigt und
dankenswerterweise in einem systematischen Zusammenhang –
bezogen auf die Leitbegriffe „Wahrheit“ und „Zeit“ –
dargestellt wird.
Kochs philosophische Grundposition
unterscheidet sich von vielen, vermutlich sogar von den meisten heute
vertretenen Auffassungen. Es geht ihm, wie bereits angedeutet, um
eine „Erste Philosophie“. Damit setzt er sich zunächst einmal
ohnehin gegen eine weithin vertretene Auffassung ab, wonach
Philosophie – ohne einen spezifischen Gegenstands- und
Wissensbereich, angewiesen auf andere Wissenschaften oder
praktische Angelegenheiten – allenfalls als „Wissenschaftsberater“
(Sloterdijk) etwas mit Wissenschaft zu tun habe oder sich gleich ganz
in sich als einer ‚Lebensform’ zurückziehe. Insofern Koch „Erste
Philosophie“ vor allem als eine „apriorische“ Disziplin
begreift, „in der die fundamentalen Begriffe unseres Selbst- und
Weltverständnisses mit den Mitteln logischer Analyse aufeinander
bezogen werden“ (12), setzt er sich explizit vor allem gegen
naturalistische Tendenzen in der Philosophie ab, in denen eine
apriorische Methode aufgrund eines Primats naturwissenschaftlicher
Beschreibung in Abrede gestellt wird. Insofern er darüber hinaus im
Sinne der sprachanalytischen Tradition den Schritt weg von der
„Bewußtseinsphilosophie“ (25) vollzieht, d.h. Wahrheit
nicht (‚psychologisch’) auf der Grundlage von
„Vorstellungen“, sondern von „Sätzen“ begreift, konzipiert
er die „Erste Philosophie“ als eine spezifisch philosophische
(d.h. nicht linguistische) „apriorische
Semantik“ (23) und setzt sich so gegen eine ontotheologische
Metaphysik ab. Kurz: Das Projekt einer „Ersten
Philosophie“ sieht sich mit zahlreichen Schwierigkeiten und
tradierten Vorbehalten konfrontiert, welchen Koch jedoch keineswegs
ausweicht. Sein „Versuch“ ist gleichermaßen Kritik und Würdigung
der Kritik „Erster Philosophie“ (vgl. „Tiefenphilosophie“)
als auch Konstruktion der Grundzüge einer „Ersten Philosophie“.
Ungeachtet der Schwierigkeiten,
die einem solchen „Versuch“ in „Erster Philosophie“ in
einer Zeit begegnen müssen, die seit Kant mehr Krisenerfahrungen
als Erfolgsgeschichten zu verzeichnen hat: die Methode ist ganz
ähnlich geartet, wie man es für ein „Holodeck“
erwarten könnte. Außer ein paar allgemeine philosophische
Kenntnisse, wie sie „nicht zuletzt Studierende“ (15) haben
(sollten), wird nichts vorausgesetzt, um in die gewünschte Welt –
hier: die Philosophie – eintreten zu können. Alles andere und
alles Wichtige ergibt sich im Spiel. Dies ist allerdings nicht so
mißzuverstehen (was aber nach der Sprachwahl „analytisch“ wohl
kaum möglich ist), dass der gewünschte Zusammenhang zwischen
den philosophischen Theorien und „Subdisziplinen“ (14) als eine
rhapsodische Ereignisfolge erlebbar würde. Vielmehr ist die Methode
„argumentierenden Zuschnitts“ (15). Ausgehend vom „Faktum der
Wahrheit, d.h. von der Tatsache, dass wir denkend und sprechend
Wahrheitsansprüche erheben“ (14) werden zugleich
schrittweise die Voraussetzungen dieses Faktums analysiert und
zugleich „Schritt für Schritt durch die Philosophie geführt“
(14). Eingebettet in diese entschieden systematische Geschichte
kommen dann jene zahlreichen Philosophen, genauer: ihre
grundlegenden Einsichten und Argumentationen zur
Darstellung, was dann allerdings nicht nur qualitativ, sondern auch
schon rein quantitativ zu einem beeindruckenden Pensum (686
Seiten!) führt. (Manch ein Ergänzungswunsch – z.B die
Berücksichtigung von Autoren aus einem nicht-analytischem
Traditionskontext – kann angesichts des ohnehin schon
beträchtlichen Umfangs mindestens für dieses Buch zum Verstummen
gebracht werden.)
Ausgehend vom „Faktum der
Wahrheit“ entwickelt Koch einen weitreichenden begrifflichen
Zusammenhang, auf dessen Grundlage er seine zentralen Theorien
und Thesen formulieren kann: Das ist zum einen eine „Theorie der
apriorischen Voraussetzungen“ (kurz: „TAV“), in welcher die
apriorischen Voraussetzungen unserer denkenden und sprechenden
Bezugnahme auf Einzeldinge untersucht werden. Dabei trägt Koch
nicht nur dem Kantischen Gedanken einer „vorbegrifflichen
Mannigfaltigkeit“ Rechnung, sondern diskutiert vor allem das
Problem der Unterscheidbarkeit und Identität von Gegenständen
(womit er zugleich in die Diskussion von „möglichen Welten“ bzw.
„Problemwelten“ einführt) und weist der Indexikalität eine
irreduzible und grundlegende Funktion zu. Vermittelt durch die
sog. „Subjektivitätsthese“, mit welcher nicht nur Subjektivität
überhaupt, sondern vielmehr auch verkörperte Subjektivität
als eine apriorische Voraussetzung unseres Weltbezugs, mehr noch: von
Welt überhaupt hervorgehoben wird, leitet er dann zum anderen
zu seiner „Freiheitstheorie des Zeitpfeils“ („FTZ“)
über. Diese expliziert die praktischen (vgl. den Freiheitsbegriff
bzw. das Problem eines freien Willens) und theoretischen (vgl. den
Zeitbegriff bzw. das Problem der Realität der Zeit) Konsequenzen der
„Subjektivitätsthese“.
Insgesamt zeigt Koch, wie die großen
Bereiche der Philosophie, insbesondere der Bereich der theoretischen
und praktischen Philosophie, systematisch aufeinander
bezogen sind. Dementsprechend erweisen sich hier die für die
Untersuchung leitenden Themen „Wahrheit“, „Zeit“ und
„Freiheit“ als wesentlich aufeinander bezogen (und
argumentativ verankert im „Faktum der Wahrheit“). Einmal
abgesehen von den zahlreichen, oft subtilen, allemal konzisen und
lehrreichen Detailuntersuchungen (die hier freilich nicht
berücksichtigt werden können), sind es im Resultat vor allem drei
Punkte, die die Lektüre dieses umfangreichen Buches so
lohnend machen und Kochs „Versuch“ nicht nur als eine hilfreiche
einführende Gesamtdarstellung in das, was Philosophie sein kann,
sondern auch als einen entscheidenden Beitrag zur gegenwärtigen
philosophischen Diskussion erkennen lassen:
1. Das Wahrheitskonzept. – Schon
seit längerer Zeit ist deutlich geworden, dass der Graben zwischen
sog. kontinentaler und analytischer Philosophie überbrückbar ist.
Der Austausch zwischen beiden erwies sich als fruchtbar, wogegen
sich eine rein schulinterne Diskussion steril ausnimmt. Kochs
„Versuch“ selbst ist Zeugnis der gelingenden Zusammenführung der
beiden Traditionen. Prüfstein des Gelingens ist jedoch nicht allein
das Lösen von Problemen, sondern dem zuvor auch das Finden und
Präzisieren der Probleme. Koch arbeitet in überzeugender Weise
heraus, wo in wahrheitstheoretischer Hinsicht jeweils die Grenzen
liegen. Makroperspektivisch unterscheidet er drei begriffliche
Momente der Wahrheit: den „realistischen“, den „pragmatischen“
und den „phänomenalen“ Aspekt. Er zeigt, wie jeweils ein
bestimmtes Moment unseres Wahrheitsverständnisses eingefangen wird.
Allerdings ist für die jeweiligen Positionen meistens nur ein Moment
leitend, was so zu spezifischen Vereinseitigungen bzw.
‚blinden Punkten’ in der Wahrheitstheorie führt. Beispielsweise
akzentuiert ein pragmatizistischer Ansatz, dass Wahrheitsansprüche
mit bestimmten Begründungspflichten verbunden sind (ein
Wahrheitsanspruch ist schließlich mehr, als dass man darauf
wettet, dass etwas so oder so ist; man muss auch begründen können,
warum etwas so oder so ist). Dieser auch für Koch notwendige Aspekt
wird jedoch innerhalb des Pragmatizismus (z.B. Brandom) zu einem
hinreichenden Wahrheitskriterium hochstilisiert. Die Frage nach
berechtigter Behauptbarkeit verdeckt (nicht per se, aber innerhalb
dieses Ansatzes) sowohl die Frage, ob etwas (ungeachtet unserer
Überzeugungen) auch der Fall ist (= realistischer Aspekt), als
auch das Problem der strukturellen Voraussetzungen, dass und wie
etwas erscheint (= phänomenaler Aspekt). Mit Heidegger insistiert
Koch besonders auf den zumeist unterschlagenen phänomenalen
Aspekt und betont – auch gegen eine idealistisch-metaphysische
Tradition –, dass für Wahrheit eine Entzugsstruktur wesentlich
ist, die die Idee vollständiger Transparenz prinzipiell unterläuft.
Insgesamt argumentiert Koch für einen integrativen oder
holistischen Ansatz, in dem alle drei Aspekte gleichermaßen
notwendig sind, um zu einem hinreichenden Wahrheitsbegriff zu
kommen. Kochs systematische Herausarbeitung aller drei Aspekte ist
ein wichtiger Beitrag, um die Streitpunkte in der zeitgenössischen
Philosophie von Grund auf besser verstehen zu können.
2. Das Zeitkonzept. – Die
gegenwärtige zeitphilosophische Diskussion zeigt leider noch sehr
deutlich die Folgen jenes Grabens. So wird auf der einen Seite –
weitgehend von Wahrheitsfragen entkoppelt – der Zeit als einer
ultimativen Entzugsstruktur nachgespürt, während man auf
der anderen Seite endlos neue Volten um den Dauerbrenner der
McTaggartschen A- und B-Reihen-Unterscheidung (wobei Zeit
entweder nach dem Schema ‚Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft’
und/oder nach dem Schema ‚früher/später’ begriffen wird) dreht.
Kochs gründliche Analyse des Zeitbegriffs geht weit über diese
Schuldiskussionen hinaus. Ähnlich wie Kant beginnen die
Überlegungen zum Zeitbegriff im Kontext der Frage apriorischer
Voraussetzungen „vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit“ (116) bzw.
der „Voraussetzungen a priori der Bezugnahme“ (ebd.). Er
argumentiert für die apriorische Notwendigkeit der Zeit, indem er
ihre grundlegende Funktion in unseren Lokalisierungs- und
Orientierungsleistungen nachweist. Auf der Grundlage der
„Subjektivitätsthese“, die eine fundamentale „Perspektivität“
der Welt betont (hier wäre vielleicht ein Hinweis auf Merleau-Ponty
opportun gewesen), vertieft er die Zeit in Richtung einer
„nicht-sukzessiven Zeit“ (vgl. Heideggers Theorie von den drei
„Ekstasen“ der Zeit), in der die Zeitmodi in Analogie zu den drei
Wahrheitsaspekten interpretiert wird. Auch wenn das mehrfach
verwendete Dreier-Schema (drei Aspekte des „Diskurses“, der
„Wahrheit“, der „Zeit“, der „Freiheit“) gelegentlich
ein wenig künstlich anmutet – unterm Strich kann er so die
einzelnen Bausteine zur Lösung der Frage, wie verschiedene
Zeitkonzepte (entweder orientiert am Paradigma der Lebenszeit,
der physikalischen Zeit oder an der Ewigkeitsvorstellung)
zusammengedacht werden können, systematisch rekonstruieren. Die
besondere Pointe seiner Zeittheorie ist letztlich eine Konsequenz
der These von der fundamentalen „Perspektivität“ bzw.
„Subjektivitätsthese“ (welche darauf zielt, eine
irreduzible Subjektivitätsstruktur plausibel zu machen, von der her
einsehbar wird, dass die Welt nicht ohne diese Bezugstruktur
denkbar ist, ohne dass dabei eine metaphysische Subjektivität oder
eine bloß konstruktivistische Welt behauptet werden muss). Koch
macht deutlich, dass ein entscheidender Aspekt der Zeitlichkeit,
nämlich ihre Asymmetrie (vgl. den sog. „Zeitpfeil“), nicht
mittels eines physikalischen Zeitbegriffs begründbar
ist, sondern nur durch eine Theorie der Freiheit. Der Zeitpfeil,
die Gerichtetheit der Zeit, so das Argument, könne nicht durch einen
Naturdeterminismus, der immer in beide Richtung verliefe,
sondern nur durch den Bezug auf freie Subjekte, genauer: auf
„verkörperte Subjektivität“ erklärt werden. In diesem Sinne
nennt er seine Theorie eine „Freiheitstheorie der Zeit“. Seine
These ist also, dass Zeit eine objektive Ausrichtung erfährt, weil
es freie Akteure gibt bzw. weil wir als solche (a priori) auf Zukunft
ausgerichtet sind. Dieser apriorische „Zukunftsbezug“ freier
Akteure „fungiert als Symmetriebrecher“ (538). Das dabei
virulente Problem, wie die „Freiheitstheorie“ mit dem
Determinismus einer physikalistischen Zeittheorie zusammengeht
leitet zugleich zum finalen Thema des Buches über: Lässt sich
Freiheit angesichts eines (für Koch) irreduzibel
antinomischen Charakters überhaupt verständlich machen
(vgl. 615)?
3. Das Freiheitskonzept. – Nach
einer sorgfältigen Differenzierung der verschiedenen Aporien,
in die eine Freiheitstheorie (je nach leitendem Freiheitsbegriff)
geraten kann, argumentiert Koch für einen spezifischen
„Metakompatibilismus“. Unter der Prämisse eines
inkompatibilistischen Freiheitsbegriffs bleibt die
Antinomie zwischen der Realität der Freiheit und dem
Naturdeterminismus bestehen. Der metakompatibilistische
Lösungsversuch lässt beide Überzeugungen in Geltung und
sucht sein Heil auf einer höheren Reflexionsebene, d.h.
versucht einen „Kompatibilismus zweiter Stufe“. Die dabei
leitende Idee ist, dass trotz der angenommenen Gesetzmäßigkeit des
Naturdeterminismus ein Spielraum der Freiheit zu entdecken ist,
wenn man die formale Bedingungsstruktur der Gesetze untersucht. Die
Spezifik des Kochschen Metakompatibilismus besteht dann darin,
dass er nicht für Freiheit argumentiert, indem er einfach
zeigt, warum man moralphilosophisch vom „Pfeil der Zeit“
abstrahieren kann, sondern indem er zeigt, dass wir frei sind, auch
wenn wir nicht von ihm abstrahieren. Dieses gedankliche schwierige
Manöver gelingt ihm, indem er ein Modell entwirft, in dem innerhalb
des deterministischen Naturzusammenhangs „ontische
Bestimmtheitslücken“ (527) denkbar sind. Diese markieren den
Spielraum für Freiheit. In der Perspektive der Handlungszeit werden
die „Bestimmtheitslücken“ gleichsam durch freie Handlungen
geschlossen. Und während in dieser Perspektive die freien Handlungen
die Welt (als Bestimmungszusammenhang) „im ganzen“ verändern,
verändert sich in einer anderen Perspektive, der der Naturzeit, an
der Folge der Weltzustände nichts. Das Bild scheint also
folgendes zu sein: Die Natur hat gewissermaßen immer schon die
kausalen Bedingungen erfüllt für eine freie Handlung; die freie
Handlung bestimmt durch sich selbst ‚nur’ retrograd ihre
notwendige kausale Bedingung, d.h. erzeugt nicht etwa ihre Ursache,
sondern schließt eine Bestimmtheitslücke im Naturganzen. –
Mittels seines metakompatibilistischen Argumentationsmodells schlägt
Koch ‚zwei Fliegen mit einer Klappe’: Insofern er Freiheit ohne
Preisgabe des Naturdeterminismus denkt, kann er einerseits Freiheit
als konkreten Handlungsvollzug verkörperter Subjektivität
plausibilisieren und andererseits jene zeitphilosophische
Debatte um die Realität der Zeit zugunsten der sog. A-Theorie (bzw.
Handlungszeit) entscheiden, ohne die B-Theorie (Naturzeit) preisgeben
zu müssen.
Wollte man Kochs anspruchsvollen und
in seinem gedanklichen Reichtum hier allenfalls andeutungsweise
skizzierten „Versuch über Wahrheit und Zeit“ mit einem Satz
charakterisieren, so hätte man, je nach dem, ob man das Buch von
seinem Anfang oder von seinem Ende her betrachtet, zwei Optionen.
Entweder man fokussiert die besondere Ökonomie und Konsequenz seiner
Methode – dann wird man sagen können: Beginnend mit fast nichts –
einem isoliert genommen spärlichen „Faktum der Wahrheit“ –
rekonstruiert die Explikation der Voraussetzungsstruktur den
begrifflich notwendigen Weg zur Freiheit. Oder aber man fokussiert
die inhaltliche Schlussthese, deren Begründung der gesamte Gang
leisten sollte – dann wird man einfach den Schlusssatz zitieren
müssen: „Im Grunde ist alles [d.h. auch Kontingenz und
Notwendigkeit] Freiheit.“
Gerade auf den Anfang und die
Methode gesehen, welche vordergründig nur begriffliche
Voraussetzungen eines unhintergehbaren Wissensanspruchs
herauszuarbeiten beansprucht, tatsächlich aber in einer
Freiheitstheorie kulminiert, wird deutlich: Koch spricht
„analytisch“ und denkt „kantisch“. Das tun einige. Aber
niemand konnte dies bisher auf so lehrreiche Art und Weise und so
frei von Idiosynkrasien, niemand konnte dabei analytische und
nicht-analytische, insbesondere phänomenologische Autoren in
einem gedanklichen Rahmen so gleichberechtigt und intelligent zu Wort
kommen lassen – ohne, wie eingangs gesagt, ins Rhapsodische zu
verfallen. – Es wäre allerdings ein interessantes
Gedankenexperiment, ein Holodeck zu besuchen, welches man ein klein
wenig anders programmierte als Koch es getan hätte (einmal
angenommen, er hatte tatsächlich keines zur Verfügung). Was
würde passieren, wenn man nicht mit jenem unhintergehbar anmutenden
Faktum einsetzen würde? Gebe es eine Möglichkeit die Reihe der
Autoren miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, wenn man sie
nicht nur zu dem spärlichen Faktum, sondern zu erfahrungsgesättigten
Wissensansprüchen ins Verhältnis setzte? Welche Rolle könnte die
Einbeziehung der Ergebnisse empirischer Wissenschaften spielen?
– Vielleicht stellte sich dann alles weniger ‚kantisch’,
möglicherweise alles ein wenig ‚hegelscher’ dar. Aber auch dann,
daran lässt Koch keinen Zweifel, ließe sich die ganze Geschichte
mit dem Satz beschließen: „Im Grunde ist alles Freiheit.“
Nur, es sehe im Einzelnen vermutlich alles ein bisschen anders aus,
vielleicht weniger scholastisch, welthaltiger. Aber wie es aussieht,
weiß man eben erst, wenn man die Erfahrung gemacht hat. Bis zur
Erfindung des Holodecks könnte sich Kochs „Versuch“ als
philosophisch beste Vorversion erweisen. Wem dieses Buch für den
Anfang zu viel ist oder am Ende zu viel war, um die wichtigsten
Argumentationslinien durch das ‚Who is Who der analytischen
Philosophie’ hindurch zu überblicken, dem sei Kochs Kurzversion
sehr empfohlen: „Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine
philosophische Theorie“ (ebenfalls 2006 bei Mentis erschienen, aber
nur handliche 188 Seiten lang!).
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