Erschienen in Ausgabe: No. 11 (1/1996) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
Adolf Muschg: "Nur ausziehen wollte sie sich nicht"
von Roberto Simanowski
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1995
Ende vorigen Jahres erschien ein schmales Buch von Adolf Muschg, das
nicht so sehr aufgrund seines bereits im Titel angezeigten Themas als seiner
raffinierten Kompositionstechnik eine Besprechung verdient. Das Abenteuer
dieser Erzählung geht weit über den unglaublichen Vorfall in einem
japanischen Nachtklub hinaus und liegt eigentlich im Lesevorgang an sich: Sex
und Lektüre gehen hier eine ganz ungewöhnliche Verbindung ein.
Der Titel der Erzählung verhüllt mehr, als seine Sachlichkeit
vermuten läßt, denn ausziehen will sich nur jene japanische
Schauspielerin nicht, die im Filmprojekt des Erzählers in ein Bett steigen
soll, das ihr "das westliche Drehbuch gemacht hatte". Dabei geht es, man
bedenke, nur um die Entblößung der Brüste einige Sekunden lang
während einer Liebesszene. Um dieses für das europäische
Drehteam kaum nachvollziehbare Schamgefühl kreist langsam, langsam der
erste Teil des Buches. Im zweiten befinden sich der Erzähler und seine
japanische Freundin in einem Touristen normalerweise unzugänglichen
Nachtklub. Dort ziehen sich die Frauen auf der Bühne nicht nur aus, sie
lassen das Publikum auch nicht nur in gewohnter Weise zum Voyeur ihrer
erarbeiteten Lust werden, nein, sie laden die Männer sogar auf die
Bühne, helfen ihnen aus der Hose und ins Kondom, immer wieder, bis fast
alle dran waren.
Die Anonymität dieser öffentlichen Kopulation, die
Herabwürdigung des Beischlafs zu einem Tun so bedeutsam wie das Abschlagen
des Wassers am nächstbesten Baum - das scheint die Spitze des
Verwerflichen zu sein; ein Schritt hinter die Zivilisation zurück. Der
westeuropäische Erzähler, der zuvor die Weigerung der japanischen
Schauspielerin zu einer so unschuldigen Entkleidung vor der Kamera nicht
verstand, bekommt nun das Fürchten vor ihren schamlosen Landsleuten.
Der Leser, aufgewühlt durch das detailliert Geschilderte, teilt spontan
die Empörung des Erzählers. Aber wenn das knapp 70 seitige Buch nach
dem nur vier Seiten langen dritten Kapitel ohne weitere Lektürehilfen
endet, wird er mißtrauisch. Wohin mit der unerhörten Begebenheit?! -
Vielleicht soll man gegen den Strich lesen. Warum zum Beispiel die geforderte
Entblößung im Film als Lappalie verstehen? Wiegt sie, da die Nackte
hier ein Gesicht (ein Dasein auch als Charakter) hat, nicht sogar viel schwerer
als die Vergabe des eigenen Körpers im Auf und Ab einer Orgie, die sich
bekennt zu den Gründen des Fleisches und darüber hinaus nichts sucht
noch weiß? Der Erzähler griff angesichts der ihm zugemuteten Szene
zur Denunziation. Er verglich die Männer, die sich zu den Frauen auf der
Bühne begeben, mit losgestürzten Jahrmarktsbesuchern, deren
verschmierte Glieder die Frau danach abtrocknet wie ein Kindermäulchen
beim Familienpicknick. Er sprach von Robotergesten, Karaoke und erzählte
etwas von Intimität, die doch zur Sexualität dazugehöre. Kurz:
er erwies sich als gut erzogener Europäer, der die ihm fremden Praktiken
mit dem Begriff von Würde abzukanzeln versteht. Unbewußt räumt
er mit der Metapher vom Kindermäulchen jedoch auch ein, daß die
gemeinsame Aktion in der Öffentlichkeit die Frau viel weniger zum Objekt
macht als der phallische Blick einer Kamera. In der sexbesessenen
Selbstvergessenheit auf der Bühne liegt möglicherweise weit mehr
Wärme als im heutzutage üblichen Voyerismus aus dem Hinterhalt eines
Fernsehsessels. Wäre also vielleicht nicht die Erzählung, sondern ihr
Erzähler, welcher mit seinem europäischen Blick gleich zweimal dieses
Land nicht versteht, das eigentliche Thema des Buches?
So ginge es Muschg, der Japan bereits aus seiner Tätigkeit als Lektor an
der International Christian University in Tokio 1962-64 sehr gut kennt, um
Mentalitätsdifferenzen, um Mißverständnisse zwischen zwei
Kulturen - und das Buch lieferte einen pornographischen Beitrag zum
Fremdheitsproblem. Es definiert Nacktheit in seiner tieferen Bedeutung von
Ausgeliefertsein neu, indem die bloße Entblößung, die uns
Europäern beinahe nur in Kochzeitschriften noch nicht begegnet, als das
eigentlich Entsetzliche markiert wird. Diese Lesart, die sich modern nennen
könnte, ließe sich aus dem Text herleiten. Sicher ist sie
keineswegs, wahrscheinlich sogar völlig falsch. Denn in der vorliegenden
Erzählung leben Subtexte, an denen man nicht vorbeisehen kann. Muschg hat
Spuren gelegt, die bis an den Anfang seines Schreibens reichen.
Da ist zunächst jener Film, "Deshima", der im Buch gedreht werden soll. Es
gibt ihn tatsächlich (von Beat Kuert, mit Marius
Müller-Westernhagen), das Buch dazu veröffentlichte Muschg 1987. Dort
findet man das Problem des Ausziehens, wie es in der Erzählung beschrieben
wird. Allerdings trifft es nicht auf alle japanischen Schauspielerinnen zu.
Etsu, die ohne Arbeit ist und gern jene Rolle im Film der Europäer
bekommen hätte, zieht sich dafür nicht nur aus, sie geht auch mit
Patrick, dem männlichen Hauptdarsteller, ins Bett. Die kurze
Liebesgeschichte zwischen dem Europäer und der Japanerin basiert auf
Berechnung und sozialem Zwang. Sie unterscheidet sich grundlegend von der
Episode, die im Film gedreht werden soll und aus Muschgs erstem Roman "Im
Sommer des Hasen" (1965) stammt. Diese Liebesgeschichte - Hans Mayer
zählte sie zu den reizvollsten der neuesten deutschen Literatur - wurde
sehr schnell berühmt und allseits ihrer Nuancierung, Zartheit und
unvergeßlichen Aura wegen gelobt. Es ist die Geschichte einer
zufälligen Urlaubsbegegnung zwischen dem Schweizer Bruser und der
Japanerin Yoko; eine Begegnung, die in der Unaufdringlichkeit der
Annäherung noch die Schüchternheit zwischen den Geschlechtern kennt
und die eine reine Liebe darstellt in dem Sinne, daß ihr jedes
Kalkül, selbst der Anspruch auf Zukunft, fremd ist.
Diese Liebesromanze zwischen einem allein in der Fremde weilenden,
verheirateten Mann und seiner sehr sinnlichen, bis dahin jungfräulichen
Geliebten besitzt, wie Renate Voris nicht zu Unrecht festhielt1,
Züge des Kitsches und verkörpert zudem eine typische
Männerphantasie. Dieser Umstand wird zwar durch die
Erzählkonstruktion gebrochen und ist nicht Muschg, sondern seiner
Erzählerfigur, dem eigentlichen Helden des Romans, anzulasten. Es gibt
aber darüber hinaus Gründe, den Kitsch dieser Männerphantasie in
Schutz zu nehmen. Dazu ermahnt gerade jene Szene im japanischen Nachtklub, die
Muschg nun, 30 Jahre später, beschreibt. Denn die Phantasie der 60er Jahre
zielt auf ein sexuelles Abenteuer, das eine Kommunikation ist - die neuere
Szene im japanischen Nachtklub hat damit nichts mehr zu tun. Der Unterschied
wird deutlich an drei Phänomenen. 1. Bruser und Yoko kennen ihre Namen,
womit sie sich gegenseitig einen Platz im Gedächtnis garantieren, wenn
ihre Körper sich schon längst nicht mehr des anderen erinnern
können. 2. Bruser und Yoko verheimlichen ihren Sex vor der
Öffentlichkeit, wobei die Geheimhaltung selbst zu einem raffinierten
Moment der Lust und der Selbstdefinition als Liebespaar wird, wenn Yoko Bruser
in einem überfüllten Zug die Hand unter den Mantel schiebt und ihn
mit abgewandtem Gesicht zur Spitze der Erregung treibt. 3. Bruser und Yoko
benutzen kein Kondom, sondern vermeiden eine Schwangerschaft durch die Pille.
Dieser Umstand bezeichnet die arglose Harmonie vergangener Zeit. 30 Jahre
später, da das Kondom nicht vor Schwangerschaft, sondern vor Aids zu
schützen hat, ist es zum Zeichen der Promiskuität geworden, das in
jeder noch so vertrauten Beziehung zwischen zwei Menschen die Exklusivität
der gemeinsamen Gegenwart zerstört. Es macht alle vergangenen und
zukünftigen Geschlechtspartner des anderen anwesend und vermittelt
implizit selbst dem trautesten Beischlaf das Bewußtsein der Orgie.
Daß das Kondom im japanischen Nachtklub demonstrativ auf einem schwarzen
Tablett gereicht und somit zum Bestandteil der Show wird, entspricht genau
dieser Logik.
In einer Hinsicht jedoch gibt es eine Parallele zwischen 1965 und 1995: beide
Male ist die Sinnlichkeit von sozialen Zwängen und Zukunftversprechen
befreit. Auch in der Beziehung zwischen Bruser und Yoko geht es nur um die
Gegenwart - das unangemessene Versprechen der Zukunft (da Bruser sagt, er
möchte Yoko heiraten) zerstört schließlich alles. In dieser
Vergleichbarkeit läge ein Ansatz, den Untertitel der 1995er Erzählung
("Ein erster Satz und seine Fortsetzung") in einem tieferen Sinne zu verstehen:
die Szene im japanischen Nachtklub ist die absurde Zuspitzung jener sexuellen
Revolution, die im Jahrzehnt der Studentenrevolte und der Verhütungspille
ihren Anfang nahm. Die Befreiung der Liebe und der Sexualität von allen
sozialen Rücksichten und Erwägungen ist inzwischen zum bloßen
Aufeinandertreffen fremder Körper verkommen, die sich nicht nach ihren
Namen fragen und schon im Aufstehen die Augenfarbe des Partners vergessen
haben. Darin liegt das Ungeheuerliche.
Muschg ist kein Puritaner, ihm geht es gewiß nicht um "unerlaubte"
Sexualität. In seiner Geschichte "Der Zusenn oder das Heimat" aus dem Band
"Liebesgeschichten" (1972) entschuldigt er den doppelten Inzest eines Witwers
mit seinen zwei erwachsenen Töchtern durchaus als Folge einer dreifachen
seelischen Not. In der Geschichte "Großvaters kleine Freude" aus dem
gleichen Band erzählt der alte Mann seinen Enkeln einen Bordellbesuch, in
dem sich noch eine gewisse persönliche Beziehung zwischen der
Prostituierten und ihrem Kunden herstellt. Dieser Bordellbesuch ist in keiner
Weise zu vergleichen mit dem geschilderten Besuch des japanischen Nachtklubs,
und der letzte Satz jener Erzählung scheint auf die aktuelle Problematik
vorauszuweisen: "Wir mögen unsern Großvater. Er wird noch rot, er
ist nicht aus unserer Zeit. Aber er erzählt noch, er ist noch ein
Erzähler." Die Männer im japanischen Nachtklub werden durchaus nicht
rot, wenn sie vor dem Publikum kopulieren; ob sie noch Erzähler sind,
weiß man nicht, aber man darf es bezweifeln - was hätten sie schon
zu erzählen (allenfalls wird es zu einer protzigen Mitteilung reichen).
Muschg bekümmern nicht Varianten der Sexualität, die von der
Gesellschaft traditionell stigmatisiert wurden, ihn beunruhigt die ungehemmte
Sexualität im naßforschen Gestus tabufreien Handelns, die inzwischen
zur gesellschaftlichen Normalität zu gehören scheint. Die Texte, die
er in seiner Erzählung "Nur ausziehen wollte sie sich nicht" versammelt,
zeigen eine bedenkliche Entwicklung von der Liebesromanze über die Liebe
aus Berechnung hin zur Liebe als bloßem körperlichem Akt, in dem
schließlich alles verkommt, was über den Augenblick hinausweist.
Diese eher konservative Lesart nimmt die zunächst versuchte `moderne'
zurück. Schade, möchte man sagen, denn Berichte über Sex ohne
Seele sind ja hinlänglich bekannt. Und natürlich weiß man auch
ohne Muschg, was man von Leuten halten soll, die sich wortlos auf Huren legen.
Aber Muschgs Erzählung ist interessant vor allem durch ihre formale Seite.
Sie reizt zunächst, gegen den Strich zu lesen, sie provoziert zur Lust an
der Provokation, womit sich der Leser in gewisser Weise so verhält wie die
Männer im japanischen Nachtklub, deren Treiben er zu verteidigen bereit
ist. Das von Muschg benutzte Matroschkaverfahren entpuppt die Erzählung
von 1995 jedoch als nur letztes Kapitel eines erst noch zu rekonstruierenden
Mega-Textes und fordert dazu auf, den Schlüssel für die beschriebene
Nachtklubszene an einem Anfang zu suchen, der 30 Jahre zurückliegt. Das
schmale Buch wird dem Leser somit zu einer tieferen und aufwendigeren
Angelegenheit, als er angenommen hatte. Ein "Quicky" ist auf der Ebene der
Lektüre nicht möglich. Hinter dem Text ist noch ein zweiter, dahinter
ein dritter. Eine äußerst raffinierte Komposition: dem Leser wird
die schnelle Befriedigung verwehrt und die Mühe geduldiger `Entkleidung'
abverlangt. An deren Ende gibt er die `moderne' Lesart auf und ist bereit, die
Verluste einer dreißigjährigen Entwicklung ernst zu nehmen. Darin
liegt die Pointe: sah es zunächst so aus, als sei der Erzähler das
eigentliche Thema des Buches, scheint nun der Leser selbst es zu sein.
1Renate Voris. Adolf Muschg. Autorenbücher, München 1984, S. 29.
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