Erschienen in Ausgabe: No 52 (6/2010) | Letzte Änderung: 30.05.10 |
von Lisz Hirn
„Über den Nihilismus hinaus bereiten wir alle
in den Ruinen eine Renaissance vor. Doch wenige wissen es.“ Zum 50. Mal
jährt sich heuer der Todestag Albert Camus´.
Was von der Revolte
übrig blieb.
Studiert man Geisteswissenschaften,
kommt man mit unzähligen Philosophen in Berührung. Doch nur wenige davon,
dringen in Geist und praktisches Leben des Studierenden ein. Einer von denen
war für mich der algerisch-französische Existenzialist Albert Camus. Sein
Todestag jährt sich heuer zum 50. Mal.
Am 7. November 1913 in dem
algerischen Dorf Mondovi geboren, westlich von Oran und östlich von Constantine
aufgewachsen und Sohn eines elsässischen Landarbeiters, Lucien Camus, und einer
spanischen Magd. Der Vater fällt nur ein Jahr nach der Geburt des Sohnes in der
Marne-Schlacht. Albert Camus wächst unter bescheidensten Umständen in
Nordafrika. Eine harte Schule wie er später immer wieder bemerken wird. Genauso
wie die Tuberkulose, die ihn als Jugendlicher überfällt. Camus´ muss sich
Krankheit und Tod stellen und reift durch die fruchtbaren und schmerzlichen
Erfahrungen seiner kurzen, unglücklichen Ehe, seines Studiums der Philosophie
in Algier und seines kurzen Zwischenspiels in der Kommunistischen Partei. Seit
1935 wirkt Camus auch mit leidenschaftlichem Eifer am Theater; hier ist es ihm
möglich, seine außerordentliche dramatische Begabung zu entfalten. Er gründet „Das
Theater der Arbeit“, welches vier Jahre bestehen wird, bevor die immer wieder ausbrechende
Tuberkulose Camus auf Wanderschaft treibt. Er schreibt philosophische und
dramatische Texte, arbeitet für den Alger
Républicain. Camus ist nicht der weltfremde Dichter und Philosoph. Als der
Krieg 1939 ausbricht, meldet er sich zum Kriegsdienst, wird jedoch aufgrund
seines gesundheitlichen Zustandes abgelehnt. 1940 beginnt er für den Paris-Soir in Lyon zu schreiben.
Erzählungen wie Der Fremde und die
zweite Ehe folgen. Bald darauf wird Camus Vater von Zwillingen. Ruhiger wird
der umtriebige Wanderer dadurch nicht. 1943 schließt sich Albert Camus der
Widerstandsgruppe Combat an. Die
gleichnamige Zeitschrift unterstützt er bis 1947. Ende 1943 wird er in Paris
zum Lektor des Verlages Gallimard bestimmt. Der
Mythos des Sisyphos entsteht. 1945 erscheint Briefe an einen deutschen Freund; gerade in diesen vier Briefen
beweist sich der Autor als Widerstandskämpfer. Camus´ Popularität nimmt weiter
zu. Gern nimmt er Einladungen zu Lesungen und Vorträgen in die Vereinigten
Staaten an, wo Camus´ Revolte auf großes Interesse und Begeisterung bei der
Jugend stößt. 1947 erscheint Die Pest,
ein Roman, der zu einem Welterfolg werden wird. Wie in keinem von Camus´
anderen Schriften ist das Leid und der Horror des Jahrhunderts so deutlich
ablesbar wie in diesem Roman. Kurz darauf plagen den Philosophen neue tuberkulöse
Anfälle, die ihn zur Ruhe zwingen. Von 1949-51 arbeitet Camus an L´Homme Révolté (dt. Der Mensch in der Revolte), mit dem Camus´
Auswege aus dem nihilistischen Zeitgeist zu finden sucht: Le Mythe des Sisyphe hat Fragen offen gelassen, die Camus nun zu
beantworten sucht.
„Es gibt nur ein wirklich ernstes
philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert
ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie
antworten.[1]“
Camus´ Sisyphos ist ein Essay über das Absurde und das Verhältnis des Menschen zu
einer absurden Welt. In der scheint alles erlaubt und alles gleichgültig. Nichts
hat Sinn und nichts ist von Wert. Welchen Weg schlägt Camus angesichts dieser
Bedrohungen ein? Der erste Schritt Camus´ beginnt mit der ersten Revolte. Sie
beginnt mit der Erkenntnis des Absurden. Der Mensch erkennt seine Entzweiung
von der Welt. Das Absurde entsteht aus Beziehung zwischen Mensch und Welt. Ohne
die Welt gibt es das Absurde nicht. Das Absurde stellt dem Individuum vor die elementarsten
Fragen menschlicher Existenz: Verlangt das Absurde den Tod? Besteht tatsächlich eine Beziehung zwischen
dem Absurden und dem Selbstmord? Ist Selbstmord die adäquate Konklusion, die
aus der Erkenntnis des Absurden folgt?
Die entscheidende Frage ist die nach Sinn
und Wert des Lebens. Die Sinnfrage eruptiert im Moment des Überdrusses, den der
monotone Rhythmus des „europäischen Alltags“ hervorruft. In dem Augenblick
entsteht das Bewusstsein der Absurdität, erhebt sich das „Warum“, das eine
Entscheidung fordert: „[...] Selbstmord oder Wiederherstellung. [...]
Denn mit Bewußtsein fängt alles an, und nur durch Bewußtsein hat etwas Wert.“[2] Gerade die menschliche Begrenztheit und die
Vernunftbegabung des Menschen entfremden ihn von der Welt, doch gerade sie sind
es auch, die es dem Menschen ermöglichen, Sinn zu finden und Wert zu setzen –
das ist das anthropologische Paradoxon schlechthin.
Im Mythos des Sisyphos ist es
die Frage, ob es das Leben überhaupt wert ist, gelebt zu werden, während in Der Mensch in der Revolte die Frage nach dem quantitativen Wert des
„Menschenlebens“ im Mittelpunkt steht. Der Mensch ist aufgrund seiner
„condition humaine“ nicht fähig, einen transzendenten Sinn zu erkennen, falls
es diesen geben sollte. Was er kann, ist Wert schaffen. Er ist dem Nihilismus
nicht hilflos ausgeliefert, ganz im Gegenteil. Durch die Erkenntnis des
fehlenden beziehungsweise unerkennbarenSinns von Mensch und Welt erlangt er nicht nur seine volle
Handlungsfreiheit wieder, sondern auch seine Verantwortung. Lapidar
ausgedrückt: Der Mensch kann aufgrund der sinnleeren Welt seine Autonomie und
damit die Freiheit, Schöpfer zu sein, erlangen. Um schöpfen zu können, muss er jedoch
leben. „Es geht darum, unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu
sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen. Der absurde Mensch hat nur die eine
Möglichkeit, alles auszuschöpfen und sich selbst zu erschöpfen.“[3] Camus besinnt sich auf ebendies, wenn er
den Selbstmord als falsche Konklusion verwirft. Im Grunde ist das Leiden am
sinnlosen Leben ein geistiges Verkennen des Lebens selbst. Der Selbstmord
bestätigt nur die Wertlosigkeit des Lebens; dieser ist keine Auflehnung gegen
das Absurde, sondern nur freiwilliger Verzicht auf das Leben. In gewisser Weise
wird das Absurde durch ihn aufgelöst; der Mensch hat resigniert. Das Absurde
darf sich, nach Camus, nicht auflösen, wie es durch Selbstvernichtung geschehen
würde, denn nur wenn es sich behauptet, kann der Einzelne aus sich und durch
das Absurde Wert gewinnen. Dazu ist es jedoch notwendig, dass er sich gegen das
Absurde auflehnt: „Leben heisst, das Absurde leben lassen. Es leben
lassen heißt vor allem ihm ins Auge sehen.“[4] Das Leben des Individuums steht auf dünnem
Eis, wenn es sich eingestehen muss: „Ja, der Mensch ist sein eigener
Zweck. Und er ist sein einziger Zweck. Wenn er etwas sein will, dann nur in
diesem Leben.“[5] In diesem Gedanken vollendet sich Camus´ erste Revolte.
Die erste Revolte ist individueller Natur,
reflektiert das Leiden des Individuums am Absurden, und findet ihren Ausdruck
im Der Mythos des Sisyphos. Die zweite findet auf kollektiver Ebene
statt; auf ihr profiliert sich Camus als Moralist. Diese Revolte wird auf den
Seiten des Essays Der Mensch in
der Revolte ausgetragen. Dieses
Buch führt 1952 zum Bruch der Freundschaft mit Jean-Paul Sartre.
Camus´ zweite
Revolte wendet sichdem Wert des Lebens
im Rahmen sozialer Konstrukte zu. Wie viel ist das einzelne Leben im Angesicht
der Gattung und im nihilistischen Weltbild wert? Und weiter: Ist das einzelne,
menschliche Leben überhaupt wertvoll? „Wenn
man an nichts glaubt, wenn nichts einen Sinn hat und wenn wir keinen Wert
bejahen können, ist alles möglich und nichts von Wichtigkeit. Ohne Für und
Wider hat der Mörder weder unrecht noch recht.“[6]
Die Problematik des Mordes, vor allem der des legitimierten und des überlegten,
stellt Camus in das Zentrum der „Prometheischen Revolte“; es geht Camus um eine
Lösung. Der absurde Mensch erkennt im Erleben der Revolte, dass er sein Leiden
an der Welt, seine Befremdung und seine Fremdheit mit den anderen Menschen
teilt – sie leiden am gleichen Schicksal. Das Erkennen dieser Komplizität ist
der Anfang der menschlichen Solidarität und damit das treibende Element der
Revolte. Der Mensch entscheidet sich aus Solidarität für das Maß, welches die
Revolte verkündet und verzichtet darauf, die Stelle Gottes auszufüllen und
somit weder Richter noch Henker zu sein. Das Individuum ist zwar frei, hat aber
als Revoltierender keineswegs das Recht, „[...]
das Wesen und die Freiheit des andern zu vernichten. Er demütigt niemanden. Die
Freiheit, die er fordert, fordert er für alle; diejenige, die er ablehnt,
verbietet er allen.“[7]
Der
Revoltierende übt in seiner Freiheit bewusst Verzicht, diesen vollzieht er aus
Solidarität. Er ist nicht dazu bereit, auch nur einen Menschen für irgendein
fernes „Götzenbild“ oder Ideal zu opfern, er ist nicht dazu bereit, den Mord zu
legitimieren, da dieser in seiner Maßlosigkeit Solidarität und Gerechtigkeit
verhöhnt, ihn also der einzigen Verbundenheit beraubt, die er als Mensch inne
hat – seiner Mitmenschen. Der „Mensch in der Revolte“ kämpft nicht für sich
allein; er kämpft für alle Menschen.
„Ich habe mich nie entschließen können, wie
so viele andere, auf das Wort Ehre zu spucken.“
In Anbetracht
dessen verwandelt sich der Mensch in der zweiten Revolte zu einem Bewahrer der
menschlichen Würde, zum Nachfolger des Prometheus´,
dem griechischen Heros, der den Menschen das Feuer und somit Kultur brachte.
Mit demselben Feuer arbeitet Camus weiter, sowohl journalistisch als
auch dramatisch. Überraschend erhält Albert Camus 1957 den Nobelpreis für
Literatur. Der Philosoph, erstmals finanziell abgesichert, kauft sich ein Haus
in der Provence und beginnt gleichzeitig mit der Arbeit an Le Premier Homme (dt. Der
Erste Mensch). 1957 offenbart er in einem raren Interview: „In den Kämpfen
unserer Zeit habe ich mich immer mit den Hartnäckigen solidarisch gefühlt,
insbesondere mit jenen, die es nie vermochten, an einer gewissen Ehre zu
verzweifeln. Ich teilte und teile manch einen Wahn meiner Zeitgenossen. Aber
ich habe mich nie entschließen können, wie so viele andere, auf das Wort Ehre
zu spucken. Zweifellos, weil ich mir meiner menschlichen Schwächen und meiner
Ungerechtigkeit bewußt war und bin, weil ich instinktiv wußte und weiß, daß die
Ehre (wie das Mitleid) jene unvernünftige Tugend ist, die an die Stelle der
machtlos gewordenen Gerechtigkeit und Vernunft tritt. Der Mensch, den sein
Blut, seine Torheiten, sein gebrechliches Herz den allgemein verbreiteten
Schwächen ausliefern, muß wohl bei irgendetwas Halt suchen, um sich und
infolgedessen die Mitmenschen achten zu können. Darum verabscheue ich eine
gewisse selbstzufriedene Tugendhaftigkeit; ich verabscheue die gräßliche Moral
der Welt, und zwar weil sie, genau wie der unbedingte Zynismus, die Menschen
schließlich zur Verzweiflung treibt und daran hindert, ihr eigenes Leben mit
seiner ganzen Last an Fehlern und Größe auf sich zu nehmen.“[8] Bis
zum bitteren Ende. Camus´ Leben endet am 4. Januar 1960 durch einen Autounfall.
:
[1] Albert Camus, Der
Mythos des Sisyphos, S. 11.
[2] ebda, S. 23.
[3] ebda, S. 74.
[4] ebda, S. 72.
[5] ebda, S. 115.
[6] Albert Camus, Der
Mensch in der Revolte, S. 11.
[7] ebda, S. 320f.
[8] Albert Camus, Die Wette
unserer Generation. IN: Horst WERNICKE [Hrsg.], Unter dem Zeichen der
Freiheit,
S. 242f.
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