Erschienen in Ausgabe: No 52 (6/2010) | Letzte Änderung: 30.05.10 |
von Heike Geilen
„Ich verstehe
vieles - sehr oft - fast immer -, vor allem die Geschichten. Sie sind wie ich
es mir wünsche. Sie sind eine Willensübung: In ihnen kann alles so sein, wie
ich es mir wünsche. Sie sind Welten: die mir aufs Wort gehorchen,
freundlichere, schönere Welten...“. Dies lässt A. L. Kennedy einen ihrer
Protagonisten in „Was wird“ erzählen. Geschichten hat die Autorin, die zu Recht
als eine der wichtigsten und talentiertesten Schriftstellerinnen
Großbritanniens bezeichnet werden kann, in dem vorliegenden Band gleichfalls
versammelt. Doch ihre „Helden“ bewegen sich mitnichten durch sonnige Gefilde
oder rosarote Gegenden. Kennedy zaubert keine sanfte Aura, sondern schafft eher
eine düstere, beklemmende Atmosphäre, erforscht das Dunkle im Menschen.
In
ihren zwölf Erzählungen offenbart sie die unterschiedlichsten Verstrickungen,
in die sich Männer und Frauen begeben können. Sie lotet Emotionen wie Begehren,
Liebe oder Hass aus oder beobachtet Menschen, die ungnädigen Schicksalen ausgeliefert
werden. Kennedy Protagonisten sind zumeist verstört oder verletzt - dunkle
Texte über Knochenschmerz, Verlorensein und Verlieren. Die Autorin dringt sehr
tief in die Psyche eines Menschen ein, dokumentiert überall dunkle Anzeichen
großer Verwerfungen, zeigt „das Gift im
Wasser, die böse Farbe im schlüpfrigen Dunkel“. Das ist berührend,
schmerzhaft, manchmal fast unerträglich. „Meine
Aufgabe ist es, den Leser zum Weinen zu bringen, und dafür muss er verstehen,
was ich sage. Es ist ein Spiel.“, erklärt die schottische Schriftstellerin
in einem Interview. Und das kann wahrhaftig passieren, wenn man sich auf ihren
Duktus, der zugegebenermaßen nicht ganz einfach und leicht zu konsumieren ist,
einlässt.
Da
ist ein Paar, das bei einem Crash alles verloren hat und nun in einer
geliehenen Wohnung lebt oder zwei Leute probieren in einem Hotelzimmer wie sich
Sex mit Fremden anfühlt. Hier findet sich große Trauer aufgrund des Verlustes
eines Kindes, da tauchen in einer Wellness-Anlage traumatische Kindheitserinnerungen
auf - wie sich die Eltern hinter verschlossener Schlafzimmertür prügelten. Eine
andere Geschichte erzählt von einem jungen Soldaten, der mit seinen Freunden in
einem öffentlichen Schwimmbad herumalbert. Ihr gemeinsames Manko - sie sind
körperliche Invaliden, was eine anwesende Schulklasse und besonders deren
Lehrerin verstört: „Sie müssen doch
einsehen, dass Sie befremdlich wirken. Sie sind verstörend. Es muss doch Orte
geben, wo Sie es angenehmer hätten.“
Noch
einmal soll A. L. Kennedy zu Wort kommen: „Ich
habe mich entschieden, ein Buch zu schreiben über Menschen, deren Herz
gebrochen ist und die sich deshalb in einer schrecklichen Situation befinden.
Es sind Kurzgeschichten, und der Radius einer solchen Geschichte ist nicht groß
genug, um sie bis zu einem Happy Ending zu führen. Es wäre unangemessen,
billig. Unwürdig. Ich sage nicht, dass die Wirklichkeit so ist. Ich glaube auch
nicht, dass es für alle Menschen zutrifft. Ich sage nur, es wäre mitleidlos.“
Wie sie dies tut, zeichnet ihr großes Talent aus. Kennedy bleibt zuweilen in
einem Zwischenraum hängen, in einem Lichtzwischenraum, „bis Nichtigkeiten Schatten werfen, bis die Sandtürmchen und
Bruchstücke Substanz und Tiefe gewinnen, auf einmal nach Architektur aussehen,
wie die Ruinen einer fernen Stadt, kilometerweit unter uns, verlassen.“ Begrenzungen
enthalten die Texte der Schottin kaum und wenn sie sich doch zu erkennen geben,
dann verwischt sie sie zunehmend, macht sie undeutlich.
A.
L. Kennedy schafft mit literarischen Mitteln unsichtbare Räume. Der Übersetzer
Ingo Herzke hat sie dem deutschsprachigen Leser eindrucksvoll zugänglich
gemacht.
Fazit:
Manchmal
bedrückend und deprimierend, zuweilen humorvoll, auch wenn dieser Humor härter
und grimmiger daherkommt, als bei anderen Autoren: das sind die zwölf
Kurzgeschichten in A. L. Kennedys Buch „Was wird“ - Erzählungen über das Dunkle
und Beklemmende in uns Menschen und wie wir doch immer danach streben „glücklich zu sein, einzeln zu sein,
jemanden für mich zu haben, tapfer zu sein, geliebt, gehasst, verängstigt zu
sein, eine Familie zu gründen, ohne Familie zu bleiben, den vollkommenen
Schmerz zu finden.“
„Wenn man zu
viel über Sachen nachdenkt, verlassen sie einen.“ (aus „Was
wird“)
A. L.
Kennedy
Was wird
Titel der Originalausgabe: What Becomes
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Verlag
Klaus Wagenbach, Berlin (August 2009)
224
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3803132231
ISBN-13:
978-3803132239
Preis:
19,90 EURO
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.