Erschienen in Ausgabe: No 52 (6/2010) | Letzte Änderung: 30.05.10 |
von Heike Geilen
Antonio
Muñoz Molina, der im deutschsprachigen Raum leider viel zu wenig Beachtung
findet, gehört in seinem Heimatland zweifellos zu einem der herausragendsten
Autoren. Mit seiner virtuosen Prosa hat er seit den achtziger Jahren immer
wieder Publikum wie Kritik gleichermaßen beeindruckt und ist trotzdem
hierzulande kaum bekannt.
Dabei
ist sein literarisches Werk äußerst vielschichtig. Der 54-jährige in Úbeda in
Andalusien geborene Schriftsteller, der 1988 den Spanischen Staatspreis für
Literatur und 1991 für den Roman „Der polnische Reiter“ den Premio Planeta, den
wichtigsten spanischen Literaturpreis erhielt, scheut weder vor einem Krimi
(„Die Augen eines Mörders“), noch vor so gewichtigen Themen wie Flucht, Exil
und Judenverfolgung („Sepharad“) zurück. Nun hat er mit „Mondwind“ einen
Entwicklungsroman seiner (?) Jugend geschrieben. Bereits in „Der polnische
Reiter“ machte er das Fernweh eines Jungen zum Thema, der davon träumt, der
Enge seines kleinen Dorfes Mágina, einem andalusischen Provinznest, zu
entkommen, indem er sich die große weite Welt vor dem Radio herbeiträumt. Und
ebenso lässt er in seinem neuen Roman den 13-jährigen Ich-Erzähler vom Ausbruch
aus der ländlichen Eintönigkeit, „der
unmittelbaren Wirklichkeit (...) mit all den Pflichten und ihren erbärmlichen
Entschädigungen, den düster strafenden Vorgaben der theologischen Welt“ und
der Weite träumen, nur dass sie dieses Mal das Ausmaß von 380 000 km annimmt.
Das
Jahr 1969 markierte in der Entwicklung der Zivilisation einen Meilenstein. Auch
wenn die Eroberung des Mondes zu den nutzlosesten Vorhaben der Menschheit
gehörte, so standen die Tage vom 16. bis zum 20. Juli stellvertretend für den
enormen technischen Wandel, der auch von der entfernten bäuerlichen Provinz, in
der der Junge aufwächst, Besitz ergreift. Obwohl dort immer noch das „Höchste, was sie von der Zukunft verlangen,
ist, dass sie dem Besten der Vergangenheit gleicht“.
Vom
Start in Kap Kennedy bis zum ersten Fußtritt eines Menschen auf unseren Erdtrabanten
verfolgt der Junge am neu angeschafften Fernseher gebannt die Reise der drei
Männer zum Mond. Er, der lieber Bücher über die Erdgeschichte, Captain Cooks
Weltumsegelungen oder Darwins Reise mit der Beagle liest, als in die Fußstapfen
seines Vaters, eines Gemüsebauern, zu treten, erkennt, dass Kirche, religiöse
Ansichten sowie die fest verankerten Traditionen seiner Familie immer mehr im
Widerspruch zu seinem sich entwickelnden Weltbild stehen, das den Sprung aus
der ptolemäischen Welt in die des Galileo und Newton bereits vollzogen hat. „Die Geschichte des uns von den fünfhundert
Millionen Jahre alten Versteinerungen des Kambriums bezeugten Ausbruchs
zahllosen Lebens ist viel verblüffender als die der Erschaffung der Welt in
sechs Tagen durch einen Gott, den er sich so unerforschlich und zornig
vorstellt wie den Pater Direktor oder Generalissimus Franco.“
Antonio
Muñoz Molina hat dem Hauptstrang seines Romans den zeitlichen Rahmen der
amerikanischen Apollo 11 Mission gegeben. In kunstvollen Sätzen, die etwas von
einer „streichelnden Zärtlichkeit“ haben, fließt seine Erzählung in einem ganz
eigenen Rhythmus über die Seiten. Dabei entwickelt er in seinen Beschreibungen
eine dichte Atmosphäre der damaligen Zeit. Er erzeugt vor dem Auge des Lesers
eine unglaublich hohe Suggestivkraft und intensive optische und akustische
Bilder, streckenweise ist das reine Poesie. Allerdings erfordert der Duktus des
Spaniers erhöhte Konzentration und Geduld, denn Muñoz Molina springt
unvermittelt von Außensicht zu Innensicht und zurück, vom Ich zum Er zum Du.
Kapitel, ausschließlich in Dialogform gehalten, wechseln mit melancholischen
Betrachtungen des Ich-Erzählers oder gar der Sichtweise von Michael Collins,
des im Raumschiff verbliebenen Piloten des Kommandomoduls ab. Aber gerade die
Sprache ist das Medium dieses bemerkenswerten Autors. Mit ihr arbeitet er,
formuliert, malt, dichtet, beobachtet, analysiert, verfeinert bis zum perfekten
Ausdruck, der stellenweise beinahe ein symphonisches Ausmaß annimmt.
Hervorzuheben ist gleichfalls die großartige Leistung des Übersetzers Willi
Zurbrüggen, der dem deutschsprachigen Leser diese Sprachmelodie ungebrochen
zugänglich gemacht hat.
Fazit:
Kein
literarisches Leichtgewicht, aber „Mondwind“ des spanischen Autors Antonio
Muñoz Molina gestaltet sich als ein anspruchsvolles, poetisches und
farbenreichesLesevergnügen. Die erste
bemannte Raumfahrt zum Mond steht dabei stellvertretend für das Erwachsenwerden
des 13-jährigen Ich-Erzählers. Gestern und Heute, Vergangenheit und der offene
Blick in die Zukunft, Sehnsucht nach Weite (auch des Geistes), Fortschritt und
rückwärts gerichtete religiöse Sichtweisen sowie das Aufeinanderprallen von
Weltbildern sind die Themen dieses großartigen Buches.
„Um der zu
sein, der zu sein ich mir vorstelle, oder der ich sein möchte, muss ich
fliehen...“
(aus „Mondwind)
Antonio
Muñoz Molina
Mondwind
Rowohlt
Verlag, Reinbek bei Hamburg (Januar 2010)
335
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3498045083
ISBN-13:
978-3498045081
Preis:
19,95 EURO
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