Erschienen in Ausgabe: No 52 (6/2010) | Letzte Änderung: 27.05.11 |
von David Kaeß
„Wann also trifft die Seele die
Wahrheit? Denn wenn sie mit dem Leibe versucht, etwas zu betrachten, dann
offenbar wird sie von diesem hintergangen. […] Und sie denkt offenbar am
besten, wenn nichts von diesem sie trübt, […] sondern sie am meisten ganz für
sich ist, den Leib gehen lässt und soviel irgend möglich ohne Gemeinschaft und
Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht.“ (Platon: Phaidon, 65b-c)
Durch obiges Zitat aus Platons Phaidon wird deutlich, dass die Frage
nach der menschlichen Möglichkeit von Erkenntnis und wie sich das menschliche
Individuum zu dieser in Relation setzt, schon immer einen zentralen Stellenwert
in der europäischen Philosophiegeschichte einnahm. Platon insistiert hier auf
eine grundsätzliche Trennung von Seele und Leib, die für eine wahre Erkenntnis
unabdingbar ist. „Die Seele ist Ort der Erkenntnis“ (Erler 2007: 377) und nur
die Abspaltung der Seele von der Körperlichkeit und den sinnlichen Gegenständen
vermag es, den Menschen in das Reich des Geistes – der ewigen Ideen – zu
emanzipieren und sich so dem göttlichen Logos anzunähern. Dieser Auffassung
zufolge ist das erkennende Subjekt dann in der Lage, die Wirklichkeit so zu
erfassen, wie sie auch in realiter sei. Die Abspaltung von Seele und Leib, wie
sie bei Platon ausformuliert wird, erfolgt jedoch auf mythologische Weise. Die
Wahrnehmung der Welt durch ein menschliches Individuum steht hier immer in
einem Verhältnis zu den Göttern. Denn nur die Götter haben die Möglichkeit zur
unfehlbaren Sicht auf die Dinge, wie sie wirklich sind. Der denkende Philosoph
kann durch ständige Reflexion im Grunde genommen nur versuchen, sich dieser
Sicht anzunähern und daher ist ein Sprung in eine Welt der unfehlbar wahren
Erkenntnis nicht möglich, bzw. die Möglichkeit dafür, für den Menschen gar
nicht gegeben. So beginnt in der antiken Philosophie einerseits die
Entmythologisierung der Welt durch den Trennungswunsch von Seele und Leib, der
durch Descartes Unterscheidung von res cogitans und res extensa Einzug in die neuzeitliche
Philosophie erhalten hat (vgl. Apel 1963: 153). Das im platonischen Dualismus
zum Ausdruck kommende Verlangen, Rationalität und Wahrheit zu begreifen, steht
andererseits der weiteren Vermitteltheit der Kategorien über das Göttliche
gegenüber, was eine vollständige und abschließende Rationalisierung des
Erkenntnisprozesses einschränkt.
Jahrhunderte später wird dann
„die platonische Trennung von Körper und Seele bzw. die cartesische Trennung
von Subjekt und Objekt“ (ebd.: 154) von Immanuel Kant in seinem
erkenntnistheoretischen Hauptwerk Kritik
der reinen Vernunft zur konsequenten Vollendung gebracht und die
Erkenntnisbedingungen dahingehend umgekehrt, dass die Gesetze der Welt nicht
mehr dieser entnommen werden können, sondern ihr durch den Menschen aufgeprägt
werden. Das Subjekt der Erkenntnis bleibt nicht länger passives Moment im
Erkenntnisprozess, welches sich lediglich nach den Gegenständen richtet, vielmehr
haben sich stattdessen die Gegenstände nach der Erkenntnisstruktur des Subjekts
zu richten: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir
Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden
können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich
hineingelegt“ (KdrV: A 125). Die Objektivität, die im Erkenntnisprozess erlangt
wird, kann daher nur als vom Subjekt konstituiert aufgefasst werden, „und
Erkenntnis heißt daher nichts weiter als subjektiv produzierte Objektivität der
uns erscheinenden Welt“ (Döring 2004: 129). Als Realität gilt das Wahrgenommene,
welches durch die Kategorien des Verstandes objektiviert wird, aber zugleich
durch die begrenzte menschliche Vernunft beschränkt bleibt. Daher ist eine
sichere Erkenntnis nicht möglich, die ‚Dinge an sich’ wie sie wirklich seien,
entziehen sich dem menschlichen Erkenntnisvermögen: „was die Dinge an sich sein
mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch
niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann“ (KdrV: B
332f.). Erkenntnis wird bei Kant durch die ursprüngliche Synthesis der
Erkenntnisvermögen (Anschauungen und Begriffe), die ursprünglich-synthetische –
oder transzendentale – Einheit der Apperzeption möglich, welche das ‚Ich denke’
als transzendentale, nicht-empirische Synthesis vor allem Denken bestimmt.
Durch dieses übersinnliche und allgemeine Ich, ohne das Kant die Bedingung der
Möglichkeit von Erkenntnis nicht gegeben sieht, bleibt das ‚Ich denke’ in sich
selber gefangen und das ‚Ding an sich’ unerkennbar: „Kritik der reinen Vernunft
heißt: Es ist unmöglich, dass das ‚Ich denke’ aus reiner Vernunft in die
Existenz zu springen, Dinge-an-sich zu erkennen vermag. Kant trennt radikal
Subjekt und Objekt, ‚transzendentales Subjekt’ und ‚Ding an sich’, Begriff und
Begriffenes“ (Stapelfeldt 2004: 110)[1].
Kants selbsternannte „Revolution
der Denkungsart“, war einerseits eine „Verlagerung von einer theologischen zu
einer menschlichen Urheberschaft“ (Dewey 1998: 288) und andererseits ein
Versuch „ein Subjekt zu fixieren, welches als unabhängiger Ausgangspunkt von
Erkenntnis und Handeln bestimmbar wäre“ (Seirafi 2007: 17). Ersteres gilt als
große Leistung der Kantischen Philosophie, da hier „das Denken als konkret in
sich, sich selbst bestimmend aufgefasst ist“ (Hegel: Werke 20: 331). Letzteres
gerät nach vielen Kritiken unweigerlich in eine Aporie: Der Mensch besitzt
nicht die Möglichkeit, sich selbst als sinnliches Subjekt zu fassen, er kann
sich selbst nicht als materielles Wesen in einer materiellen Welt bestimmen. So
ist die Kantische Konzeption auch nicht in der Lage zu bestimmen wie sich
Probleme im Denken ergeben und lösen können. Da das Denken ein abgeschlossener
Bereich ist, gerät Erkenntnis zur Tautologie, da das Denken und das zu Denkende
scheinbar in der gleichen Instanz liegen. Der Denkakt müsste sich aber auf
etwas beziehen, was außerhalb des Verstandes liegt. Aber die Aporie dieser
Frage, an der „die Kantische Philosophie sich die Stirn eindenkt, ist zugleich
Produkt jener Philosophie“, wie Adorno (GS 10.2: 753) es in seiner Kritik an
Kant ausdrückt.
Im Folgenden sollen zwei Ansätze
diskutiert werden, die den Anspruch haben, den so genannten ontologischen
Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden, ohne dabei hinter den
Kantischen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel: Werke 12: 32)
zurückzufallen. Dies ist zum einen Theodor W. Adornos Negative Dialektik und der dort verhandelte „Vorrang des Objekts“,
sowie zum anderen Bruno Latours Gesellschaftsdiagnose Wir sind nie modern gewesen. Beide Ansätze werden selten zusammen
in Verbindung gebracht und wenn doch, in der Regel konträr behandelt (vgl. z.B.
Bennet 2004). Hier soll dem entgegenstehend der Versuch unternommen werden,
beide Konzepte aufeinander zu beziehen und in einen Austausch treten zulassen,
um so die divergierenden Grundintentionen der Autoren aufzuzeigen, die jedoch
auch das Potential einer wechselseitigen Ergänzung und einiger
Anknüpfungspunkte bieten.
1. „Vorrang des Objekts“
Theodor W. Adorno versucht mit
seiner Kritik an Kant der Aporie, in der das Denken sich nur auf sich selber
beziehen kann, zu entkommen und eine Möglichkeit aufzuzeigen, nach der Subjekt
und Objekt nicht als Gegensätzlichkeiten, sondern als reziprokes Verhältnis
bestimmbar werden. Dazu wendet er sich gegen die strikte Trennung von
empirischem und transzendentalem Subjekt, die von Kant vollzogen wird. Der
Begriff Subjekt bezieht sich nach Adorno nicht nur auf eine allgemeine
Bestimmung, auf ‚Bewusstsein überhaupt’, sondern immer auch auf ein einzelnes
Individuum. „Von keinem Subjektbegriff ist das Moment der Einzelmenschlichkeit
[…] wegzudenken; ohne jede Erinnerung daran verlöre Subjekt allen Sinn.
Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum, sobald überhaupt auf es in
allgemeinbegrifflicher Form als auf das Individuum reflektiert, nicht nur das
Dies da irgendeines besonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einem
Allgemeinen gemacht […]“ (GS 10.2: 741). Durch die Bestimmung des Subjekts als
nicht nur Allgemeines, sondern auch als Besonderes und Empirisch-Konkretes,
verdeutlicht Adorno die Erfahrung und Handlungspraxis, die dem einzelnen
Subjekt bei der Erkenntnisgewinnung zugrunde liegt. „Die Schlüsselposition des
Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form;“ (ebd.: 752).
Das transzendentale Subjekt kann
daher nicht ohne Rekurs auf die Erfahrung gedacht werden, wodurch ebenfalls die
ursprüngliche Apperzeption als vorrausetzungslose Wahrnehmungsmöglichkeit
bestritten wird. Adorno führt aus, dass die Möglichkeit zur Wahrnehmung immer
an die Erfahrung der Körperlichkeit gebunden ist: an die Sinnlichkeit des
Körpers sowie an dessen Emotionen und Antriebe, ohne die ein Subjekt als Akteur
der Synthesis nicht vorstellbar wird. „Soll indessen die Form, das
transzendentale Subjekt, um zu funktionieren, also gültig zu urteilen, streng
der Empfindung bedürfen, so wäre es, quasi ontologisch, nicht nur an der reinen
Apperzeption sondern ebenso an deren Gegenpol, an seiner Materie, befestigt.“
(GS 6: 141)
Adorno bestimmt hier ein
„Vermögen der Sinnlichkeit“, welches dadurch charakterisiert ist, dass „das
Subjekt [immer] in einem sinnlichen Verhältnis zu einem Objekt steht“ (Kern
2006: 49). Auf diese Weise nimmt Adorno Kants dichotome Trennung von Subjekt
und Objekt und die Vorrangstellung des Subjekts wieder zurück, ohne dabei Kants
zentrale Einsicht zu widerrufen, dass das Gegebensein von Objekten, auf die
sich ein Subjekt bezieht, nicht unkritisch vorausgesetzt werden kann. Adorno
macht mit Kant die Sicht, die vom Subjekt aus auf die Welt gerichtet ist, stark,
jedoch betont er gegen Kant „die Unabhängigkeit des Objekts der Erkenntnis vom
Subjekt der Erkenntnis“ (ebd.: 52). Denn gerade das Fehlen dieser
Unabhängigkeit ist es, die Erkenntnis zur Tautologie, zur reinen Identität
werden lässt.[2] Dagegen betont er das
Nicht-Identische, den Anteil des Objekts im Subjekt der Erkenntnis, dass das
Denken voran bringt und über sich hinausgehen lässt und kritisiert so im
Einverständnis mit Hegel, das Kant die „Endlichkeit absolut gemacht“ (Hegel)
hat. (vgl. Stahl 1991: 204)[3]
Hier setzt Adornos „Vorrang des
Objekts“ ein, der keineswegs ein zurück zum naiven Realismus bedeutet[4],
sondern aus einer Subjekt-Sicht, die Stellung des Objektes in den Erkenntnisprozess
zurückholen soll und beide dialektisch vermittelt sieht. „Vorrang des Objekts
heißt vielmehr, dass Subjekt in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn
seinerseits Objekt sei als Objekt, weil es nun einmal anders nicht denn durch
Bewusstsein gewusst wird, auch Subjekt ist“ und „vermittelt ist auch Objekt,
nur nicht dem eigenen Begriff nach so durchaus auf Subjekt verwiesen wie
Subjekt auf Objektivität“ (GS 10.2: 746f.). Die Bewegung der Erkenntnis richtet
sich hier nicht wie in der Kantschen Erkenntnistheorie asymmetrisch von der
Subjektseite auf das zu erkennende Objekt, sondern von der Mitte aus
gleichermaßen in Richtung Subjekt und Objekt. Das bedeute zunächst, dass für den
Menschen kein Außen existiert, „das nicht durch sein Bewusstsein hindurch gegangen
ist. D.h.: alles Zurkenntnisgenommene ist durch Subjektivität gefiltert, und
alles Bestehende ist nicht denkbar ohne menschliche Praxis. Gleichzeitig muss
daran festgehalten werden: Wir können nicht existieren ohne Rekurs auf
Objektivität – die Prägung durch andere, die uns lebensgeschichtlich
vorausgesetzt sind, ehe wir sie mitgestalten können, die Gedanken, die vor uns
gedacht wurden, die Geschichte der Ideen“ (Becker-Schmidt 1998: 94).
Vorrang des Objekts zeigt
dahingehend, dass Erkenntnis nicht nur subjektiv ist und untergräbt die Annahme
des Phänomenalismus, der als das einzig Wahre die Setzungen des Subjekts
bestimmt. Der Anteil des Objekts im Erkenntnisprozess darf nicht verschwiegen
werden, „nicht sind seine Regungen aus der Erkenntnis zu verbannen“ (GS 10.2:
749). Der Erkenntnisvorgang, der sinnliche und begriffliche Fähigkeiten nicht
gegenüber stellt, muss anerkennen, dass der Ursprung des Denkens und der
sinnlichen Fähigkeiten einundderselben Quelle entspringt: „eben der Fähigkeit
eines Subjekts, durch sinnliche Erfahrungen zu erkennen, wie die Dinge sind.
Die sinnlichen Erfahrungen, die sinnliche Erkenntnisse begründen, wie auch die
Urteile, die sinnliche Erkenntnisse sind, sind damit als Aktualisierungen
einundderselben Fähigkeit zu verstehen“ (Kern 2006: 61).[5]
Begriff und Begriffenes, Urteil und sinnlicher Grund, dessen logische Einheit
nach Kant noch bestritten werden musste, kann nun durch die Idee einer
sinnlichen Erkenntnisfähigkeit zusammengeführt werden. Wahrnehmung bildet hier
das Fundament jeglicher Erkenntnis, die sich jedoch nicht in den begrifflichen
Fähigkeiten erstreckt, sondern gleichermaßen Empfindungen mit einbezieht. Diese
Synthesis sei aber bereits im Wahrnehmungsprozess mit angelegt und wird nicht
erst durch ein transzendentales Bewusstsein ermöglicht. Die Dinge können also
so erkannt werden, wie sie durch die Begriffe konstruiert worden sind. Dieses
ist jedoch nicht als absolut zu verstehen: hier gilt, dass ein Subjekt mit
begrifflichen Fähigkeiten auch ein kritisches Verhältnis zu diesen haben muss
und diese reflektiert. Denn „[w]ie jede Fähigkeit ist auch eine sinnliche
Erkenntnisfähigkeit wesentlich fallibel“ (ebd.: 65). Und aus diesem Grund gilt
es, den Wahrnehmungsprozess ständig kritisch zu hinterfragen und nicht als
gegeben und unfehlbar hinzunehmen.
Adorno bestimmt das
Subjekt-Objekt-Verhältnis als eine Beziehung, die sich gegenseitig beeinflusst.
Er will mitnichten die Dichotomie vollständig einebnen[6],
sondern die verschiedenen Kategorien durch Vermittlung als einander durchdrungene
darstellen. Denn die deformierte Sichtweise, die Adorno in der rationalen
Subjektzentriertheit erblickt, rührt nicht aus einer generellen Trennung von
Subjekt und Objekt, von Geist und Natur, von Verstand und Sinnlichkeit, sondern
aus der fehlenden reflexiven Vermittlung, die nur durch ein ‚Eingedenken der
Natur im Subjekt’ erreicht werden kann (vgl. Hutter 1998: 245f.). Vermittlung
der Kategorien wird nach Becker-Schmidt (1998: 95ff.) von Adorno in zweierlei
Weise verstanden: Einerseits als erkenntnistheoretische Reflexion, die alle
kategorialen Begriffsbildungen zueinander in Relation setzt. Durch ‚das in
Relation setzen’ werden bestimmte Begriffe erst geschieden, die sich in
realiter gar nicht scheiden lassen. Vermittlung deutet hier auf die
Reziprozität der Kategorien hin, die in einem Kontinuum liegen und nicht starr
gegenüber stehen. Andererseits wird Vermittlung als gesellschaftstheoretische
Reflexion verstanden, die die Konstitution sozialer Verhältnisse aufzeigt.
Bestimmte Dichotomien sind nicht nur erkenntnistheoretisch bedingt, sondern
ideologischen Ursprungs. Vermittlung zielt hier nicht auf die (universelle)
Genese von Begriffen, „sondern auf begriffliche Rekonstruktionen
realhistorischer Trennungsprozesse“ (ebd.: 96). Wo genau die Grenze verläuft,
was auf der Seite des Subjekts und was auf der Seite des Objekts steht, ist so
aus der gesellschaftlichen Handlungspraxis zu bestimmen. Der Wahrheitsgehalt
der Dichotomie „ist der keineswegs ontologische sondern geschichtlich
aufgetürmte Block zwischen Subjekt und Objekt“ (GS 10.2: 753), wodurch die
Kategorien gesellschaftlich als „Reflexionskategorien“ (GS 6: 176) konstituiert
werden. Objektivität ist für Adorno demnach die verfestigte soziale Praxis, die
sich in Form von materieller und immaterieller Produktion sowie den
gesellschaftlichen Struktur- und Lebensbereichen ausdrückt. Dahingehend ist die
Subjekt-Objekt-Dichotomie einerseits reine Denkabstraktion und andererseits
zugleich gesellschaftliche Wirklichkeit. „Die Trennung von Subjekt und Objekt
ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen
Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands, einem zwangvoll
Gewordenen Ausdruck verleiht; unwahr, weil die gewordene Trennung nicht
hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf“ (GS 10.2: 742). So
verweist die epistemologische Sicht auf die Trennung von Subjekt und Objekt
gleichermaßen auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, sowie die
sozial-historische Sicht immer auch eine Frage der Epistemologie ist.
2. „Verflechtung von menschlichen und
nichtmenschlichen Wesen“
Bruno Latour reiht sich mit
seiner Kritik an der modernen Subjekt-Objekt-Dichotomie, explizit nicht in die
philosophische Traditionslinie ein, in der Kant und Adorno zu verorten sind.
Sein Ausgangspunkt ist nicht wie noch bei Adorno eine Kritik an Kant, die
gleichzeitig zentrale Einsichten Kants bewahren und dennoch über ihn
hinausgehen will, sondern eine generelle Kritik an der Moderne. Diese leitet er
aus wissenschafts- und techniksoziologischen Untersuchungen ab, welche in
Anlehnung an die science studies,
seit Mitte des 20. Jahrhunderts versuchten ein neues wissenssoziologisches
Paradigma zu etablieren. Demnach können naturwissenschaftliche Erkenntnisse
nicht als objektive Gesetze aufgefasst werden, sondern – wie auch schon bei
Kant – als soziale Konstruktionen, weshalb die „Einwirkungen des
gesellschaftsstrukturellen Kontextes auf die naturwissenschaftliche und
technische Produktion von gesichertem Wissen und funktionierenden Artefakten“
(Schimank 2000: 158) zu untersuchen sei. Daneben ist eine weitere zentrale
Frage, wie sich eine so konstituierte Wissenschaft und Technik auf die
Gesellschaft auswirkt und welche Folgen dies wiederum auf den Prozess der
Wissensgenese hat. Dabei verwirft Latour letztendlich die Auffassung, dass
„alles sozial konstruiert sei. Das Soziale, die Gesellschaft wird vielmehr wie
auch die Natur und die Technik als erklärungsbedürftig angesehen und kann
deshalb nicht zur Erklärung herangezogen werden“ (Simms 2004: 380). Latour geht
hier von einem „verallgemeinerten Symmetrieprinzip“ (vgl. Latour 2008: 125ff.)
aus, nachdem Natur und Gesellschaft, Objekt und Subjekt gleichermaßen und
unauflöslich vernetzt sind: „Das Ozonloch ist zu sozial […], um wirklich Natur
zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf
chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interesse reduziert werden zu
können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in
Bedeutungseffekten aufzugehen“ (ebd.: 14). Diese „Hybride“ - oder auch
„Quasi-Objekte“ – aus Natur und Gesellschaft, sind nicht nur eine Folge der
modernen Technik, sondern gehören anthropologisch, z.B. durch die Nutzung von
Werkzeugen, zu dem Menschen dazu. Aus der Annerkennung dessen, ergibt sich,
„dass wir durch technische Delegation und den Austausch von Eigenschaften mit
nichtmenschlichen Wesen eine komplexe Transaktion eingehen, die sowohl in
‚modernen’ als auch in traditionellen Kollektiven stattfindet“ (Latour 2002:
240). Das spezifisch moderne, was Latour diagnostiziert und kritisiert, ist die
unkontrollierte Vermehrung sowie die konsequente Fehlwahrnehmung der Hybride.
In der modernen Gesellschaft hat
die Produktion von Hybriden rapide zugenommen und es kann mittlerweile von
einer omnipräsenten Verbreitung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen
ausgegangen werden. Für Latour ist eine der charakteristischen
Produktionsstätten für Hybride das Labor. Dort wird Natur gesellschaftlich
erzeugt und mit sozialer Bedeutung untrennbar verknüpft, was „den
fundamentalsten Aspekt unserer Kultur darstellt: Das soziale Band der
Gesellschaft, in der wir leben, besteht aus Objekten, die im Laboratorium
fabriziert sind“ (Latour 2008: 33). Die gesellschaftliche Ordnung wird demnach
durch die Hybride garantiert und aufrechterhalten. Es sind nicht nur soziale
Beziehungen und Institutionen, die Gesellschaft beständig machen, sondern
Dinge, die menschliches Handeln strukturieren und „soziale Beziehungen ‚durch
Materie anreichern’. […] Dinge haben in dieser Perspektive eine Moralität, die
verbindlicher ist als rein soziale Normen, sie härten menschliche Sozialität“
(Degele/Simms 2004: 264). Für Latour wird durch diese
Subjekt-Objekt-Verstrickungen Gesellschaft erst beständig und zu dem gemacht, was
sie ist. Das Labor, welche die Hybriden herstellt, hat sich auf die gesamte
Gesellschaft ausgeweitet und steht paradigmatisch für das gesellschaftliche
Funktionieren.
Die Moderne nimmt die Produktion
von Hybriden jedoch nicht wahr und unterliegt einer permanenten
Selbsttäuschung, die sich nach Latour in der konsequenten Trennung von
Gesellschaft auf der einen und Natur auf der anderen Seite äußert. Die Moderne
erfindet eine ‚ideologische Welt’, „eine Welt, in der die Repräsentationen der
Dinge durch die Vermittlung des Labors für immer von der Repräsentation der
Bürger durch die Vermittlung des Gesellschaftsvertrags geschieden ist“ (Latour
2008: 40). Die rationale Realität der Moderne definiert sich dadurch, dass
konsequent das Subjekt vom Objekt, das Zeichen vom Ding, der Diskurs von der
Sache, das menschliche Wesen von der nichtmenschlichen Dingwelt usw. getrennt
wird. Dieser Prozess, der zwei völlig getrennte ontologische Sphären schafft,
wird von Latour als „Reinigung“ bezeichnet (vgl. ebd.: 18ff.). Daneben findet
jedoch die bereits erwähnte Produktion von Hybriden statt, die durch die
Praktiken der „Übersetzung“ generiert werden. Zwischen der Übersetzungs- und
Reinigungsarbeit wird eine weitere Dichotomie erzeugt, die die
Übersetzungsarbeit verschweigt und nur die Praxis der Reinigung akzeptiert.
„Die moderne Verfassung erlaubt gerade die immer zahlreichere Vermehrung der
Hybriden, während sie gleichzeitig deren Existenz, ja sogar Möglichkeit
leugnet“ (ebd.: 49). Das Selbstbild der Moderne kann nur durch eine stetige
Trennung von Subjekt und Objekt aufrechterhalten werden. Durch die Offenlegung
und Annerkennung der Hybridisierung würde die Selbsttäuschung der modernen
Verfassung zusammenbrechen und damit das komplette rationale Weltbild, welches
sich im Zuge der Aufklärung durchgesetzt hat.
Stattdessen ist für Latour die
Wirklichkeit nicht durch die Reinigungsarbeit bestimmt, sondern durch die
Praxis der Übersetzung, die durch Formen der Vermittlung zugänglich ist.
Vermittlung stellt für Latour ein „Handlungsprogamm“ dar, „also eine Abfolge
von Zielen, Schritten und Intentionen“ (Latour 2002: 216), welches die
Dichotomie zwischen Erkennen und Handeln auflöst. Das menschliche Sein ist
damit immer eine Existenz, die sich über die Vermittlungspraxis, als sinnliches
Dasein zeigt: „Nicht die Strategien der Reinigung definieren das Wirkliche,
sondern die unzähligen Formen ihrer Vermittlung. Sein ist menschliches und
nichtmenschliches Verbundensein“ (Gamm 2001: 140). Dieses Verbundensein ist von
vornherein im Sein angelegt und nicht erst auf einen ursprünglichen
(Natur-)Zustand aufgetragen worden. Die Erkenntnispraxis der Vermittlung kann
daher auch nicht objektiv mit der Wirklichkeit – als Ding-an-sich –
übereinstimmen oder den Dingen einen beliebigen Sinn verleihen. Für Latour gibt
es „hier weder Korrespondenz […], noch eine Kluft, ja noch nicht einmal zwei
völlig verschiedene ontologische Bereiche, sondern ein ganz anderes Phänomen:
zirkulierende Referenz“ (Latour 2002: 36). Referenz zwischen Zeichen und Ding,
Form und Materie kann niemals als einzelnes betrachtet werden. Ein abgelöstes
Zeichen oder ein Ding-an-sich kann daher nicht alleine existieren. Immer sind
Subjekt und Objekt schon vermittelt dargestellt und in eine Bezugsfolge
eingebettet. Erkenntnis legt daher auch nicht reine Anschauungsformen offen,
sondern „Transformations- und Substitutionsketten, Reihen von Vermittlung,
Ansammlungen von unveränderlichen mobilen Elementen, durch die man sich
beliebig vorwärts und rückwärts bewegen kann“ (Belliger/Krieger 2006: 26).
Referenz ist so verstanden eine Eigenschaft in der Kette von Vermittlungen, die
durchgängig innerhalb des Transformationsprozesses zirkuliert und nicht eine
Abbildung des Verstandes, die aus dem Handlungsprozess herausgelöst werden kann.
Der Bezug der Vermittlungspraxis,
der durch die zirkulierende Referenz unaufhörlich Form und Materie, Zeichen und
Ding, Diskurs und Sache zusammenbringt, ist daher auch ein ständiges in
Relation setzen. Das Zeichen ist so gesehen nicht eine Bezeichnung von
Gegenständen, sondern eine Differenz, eine Negation, die sich zur Position der
anderen Zeichen in der Transformationskette absetzt (vgl. ebd.: 27f.). So sind
innerhalb der Bezeichnungen, Subjekt und Objekt bereits vermittelt. Und sie
sind auch nicht trennbar. Realität ergibt sich aus der Handlungsfolge, die die
Relation zu anderen Dingen durch permanente Bedeutungszuweisungen artikuliert.
Damit ist die gesellschaftliche Wirklichkeit „konstruiert, aber sie ist nicht
sozial konstruiert“ (Latour 2002: 242), sondern durch das Zusammenwirken von
menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die in einer Symmetrie zueinander
stehen. Abweichungen der Symmetrie lassen sich nur als empirische Frage
feststellen. Der Erkenntnisprozess muss daher immer empirisch vermittelt sein
und ebenfalls „die herkömmliche Mikro-/Makro- beziehungsweise
Handlungs-/Struktur-Dichotomie in den Sozialwissenschaften zurückweisen“
(Degele/Simms 2004: 267). Damit ist Realität für Latour immer auch erkennbar,
jedoch nur als konstruierte Realität, die aber gleichzeitig auch die
Wirklichkeit widerspiegelt, jedoch durch empirische Fragen unterschiedlich
aufgefasst werden kann. Der Ausgangspunkt den Latour wählt, „wo wir noch keine
klare Abgrenzung zwischen Subjekten und Objekten, Zielen und Funktionen, Form
und Stoff vornehmen können“ (Latour 2002: 222), wird dann durch den „Austausch
von Eigenschaften und Kompetenzen“ (ebd.) sowie Interpretationen im empirischen
Erkenntnisprozess zu einem Endpunkt, in dem „menschliche Subjekte und
ansehnliche Objekte in der Welt dort draußen“ (ebd.) bestimmt werden können:
jedoch begründungsbedürftig und nicht absolut.
3. Schluss und Vergleich
Bei aller Verschiedenheit der
Theoriegebäude von Adorno und Latour, die auf den ersten Blick sichtbar werden,
lassen sich doch einige generelle Gemeinsamkeiten bestimmen. Die allgemeine
epistemologische Grundlage beider Konzepte, ist eine konsequente Hinterfragung
des ontologischen Dualismus, den ebenfalls beide Theoretiker als Fundament des
modernen Denkens betrachten. Adorno wie auch Latour sehen dies als Resultat der
Hypostasierung der Rationalität, welche der Aufklärung entsprungen ist und in
Irrationalität umschlägt. Für Adorno ist die Aufklärung doppeldeutig, in ihrer
eigenen rationalen Vernunft ist der irrationale Moment selbst angelegt, der
jedoch nicht wahrgenommen wird.[7]
Latour sieht in der rationalen Sichtweise die Arbeit der Reinigung bestätigt
und die Irrationalität darin, dass der Prozess der Übersetzung vehement
verschwiegen wird, bzw. als gar nicht existent erscheint.[8] Für
beide ist ein generelles Zurück nicht möglich und auch nicht wünschenswert,
sondern es geht ihnen um eine Vermitteltheit verschiedener Sichtweisen und um
eine Reflexion der modernen Rationalität.
Beide fassen ebenfalls den
gesellschaftlichen Erkenntnisprozess nicht in korrespondenztheoretischer Weise
auf.[9]
Erkenntnis ist daher immer konstruiert und kann nicht einfach aus der Welt
abgelesen werden. Die Naturwissenschaften beteiligen sich gleichermaßen wie die
Geisteswissenschaften, an der Konstruktion der Wirklichkeit und schaffen so
erst wissenschaftliche Fakten. So schreibt Latour: „Fragen der Epistemologie
sind immer auch Fragen der Gesellschaftsordnung“ (2008: 25) und bei Adorno
heißt es: „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt“ (GS
10.2: 748). Für beide ist daher eine Möglichkeit der a priori Erkenntnis nicht
gegeben. Eine rein deskriptive Sichtweise ist nicht möglich und immer auf ihre
gesellschaftliche Vermitteltheit zu reflektieren. Dies macht Adorno sowie
Latour ebenso zu Konstruktivisten. Da sie beide jedoch die gesellschaftliche
Wirklichkeit nicht nur aus rein diskursiven Elementen ableiten, sondern
Realität aus der wechselseitigen Konstitution zwischen Sozialem und Materiellem
bestimmen und so einen Naturdeterminismus gleichermaßen ablehnen wie einen
Sozialdeterminismus, kann ihr Ansatz gleichermaßen als ‚realistischer
Konstruktivismus’ bezeichnet werden.[10]
Für beide hat demgemäß der
Prozess der Vermittlung auch einen zentralen Stellenwert. Vermittlung zwischen
epistemologisch gezogenen Kategorien scheint aus dieser Sicht unabdingbar.
Dualistische Denkmuster haben i.d.R. immer eine soziale Funktion, die es zu
ergründen gilt. In diesem Bezug ist auch für beide Theoretiker das ‚in Relation
setzen’ von zentraler Bedeutung. Erst in einem Bezug zu dem Anderen, werden
gesellschaftliche Kategorien erzeugt und als Realität festgesetzt. Nur durch
Reflektion über solche Entstehungsprozesse können dichotome Denkformen und ihre
relationalen Bezüge in den gesellschaftlichen Erkenntnisprozess einbezogen und
auf ihre Eignung überprüft werden.
Latour lehnt jedoch im Gegensatz
zu Adorno das weitere Denken in Subjekt-Objekt-Kategorien ab. Für ihn ist diese
Einteilung Grundlage des modernen Denkens, während Adorno weiterhin von Subjekt
und Objekt spricht und diese durch Reflexion dialektisch vermittelt sehen will.
Latour will „keine Dialektik von Subjektivität und Objektivität“ (2002: 232),
sondern er versucht, „die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und statt
dessen von der Verflechtung von Menschen und nichtmenschlichen Wesen
auszugehen“ (ebd.: 237). Subjekt-Objekt-Dialektik ist nach Latours Verständnis,
nur ein weiterer Schritt in der Asymmetrie der Moderne (vgl. 2008: 77f.), die
das Subjekt vom Objekt nur noch weiter trennt. Hier liegt jedoch ein
grundlegendes Missverständnis über die dialektische Vermittlung vor. Latour
spricht über den „Rang eines Widerspruchs“ (ebd.: 78), in den die Dialektik das
Verhältnis von Subjekt und Objekt hebt. Jedoch wurde bei der Darstellung der
Theoriekonzeption von Adorno gezeigt, dass Dialektik dies gerade nicht meint.
So meint Dialektik gerade die Vermittlung der Kategorien, das
Gegenseitig-Aufeinander-Bezogen-Sein, von dem auch Latour ausgeht. Dialektik
meint die Verflechtung von Subjekt und Objekt, die Latour nur zwischen Menschen
und nichtmenschlichen Wesen erblickt. So leuchtet auch der generelle Vorteil,
der sich durch den Austausch der Subjekt-Objekt-Kategorien in Kategorien von
Menschen und nichtmenschlichen Wesen ergibt, nicht wirklich ein. Dichotom sind
beide Kategorien und ihre Verflechtung ist nur durch zusätzliche Reflexion
erkennbar.
Weiter scheint auf den ersten
Blick eine Asymmetrie vorzuliegen, da Adorno die Subjektsicht von Kant
übernimmt und keineswegs widerrufen will. Jedoch wird diese durch den ‚Vorrang
des Objekts’ soweit ausgeglichen, dass ein Gleichverhältnis der Kategorien
wieder eingeführt werden kann. Adorno denkt vom Primat des Subjekt her, als
erste Reflexionskategorie das Objekt in den Erkenntnisprozess ein, was beide
Kategorien zusammenbringt und wieder zu einer Symmetrie zurückführt. Zudem ist
diese Betrachtungsweise eine der wesentlichen Stärken von Adornos Konzeption
gegenüber der von Latour. Denn das Reflektierende bleibt bei Adorno das
Subjekt. Ohne das Geistige gegenüber der Natur als Reflexionsvermögen, gibt es
keine Nötigung, über das Tatsächliche hinauszugehen, durch die das Denken erst
ermöglicht wird (vgl. Hutter 1998: 244ff.). Erst die Trennung von Subjekt und
Objekt ermöglicht dem Menschen, aus dem Naturzusammenhang auszubrechen und
nicht nur im Reich der Notwendigkeit zu verweilen. Dies macht auf einen
generellen Kritikpunkt in der Latourschen Theorie aufmerksam: „wer oder was
trägt in diesem System die Verantwortung?“ (Gamm 2001: 149) Die Vermittlung der
handlungstheoretischen Zusammenhänge zwischen Ding und Mensch ist bei Latour
völlig reflexionsfrei. Die Frage der Moral bleibt völlig außen vor und kann aus
dieser Sichtweise heraus nicht beantwortet werden. So schreibt Law (2006: 434)
über die Akteur-Netzwerk-Theorie: „Wenn man behauptet, es gäbe keinen
fundamentalen Unterschied zwischen Personen und Objekten, bezieht man eine
analytische Position, keine ethische.“ Aber wie passt dies zu Latours Aussage,
dass Fragen der Epistemologie auch immer Fragen der Gesellschaftsordnung sind?
Eine Trennung zwischen analytischer und ethischer Betrachtung ist daher gar
nicht möglich. Latour verstrickt sich hier selbst in einen Widerspruch, wenn er
einerseits jegliche wertfreie Erkenntnis leugnet und dann für sich selbst in
Anspruch nimmt,nur eine analytische
Position zu beziehen. Dies resultiert aus der gesamten Theoriekonzeption
Latours, da er in seiner Betrachtungsweise die Frage der Verantwortung außen
vor lassen muss, damit er nicht in eine asymmetrische Denkart zurückfällt.
Adornos Konzeption kann hier einen Ausweg aus dem Problem bieten und es besteht
die Möglichkeit, die erkenntnistheoretische und die gesellschaftstheoretische
Ebene in Beziehung zu setzen und dabei eine symmetrische Denkweise
beizubehalten.
Die Stärke von Latours Ansatz
besteht hingegen in der empirischen Frage. Adorno legt zwar hinsichtlich
epistemologischer Fragen auch ein empirisches Fundament, indem er auf die
Erfahrung als handlungstheoretische Disposition setzt, diese aber recht abstrakt
bleibt. Latour kann in dieser Hinsicht bereits ein umfangreiches empirisches
Programm vorweisen, welches bereits von zahlreichen Wissenschaftlern umgesetzt
wird. Jedoch besteht hier ein grundlegendes Reflexionsdefizit. Mit der
Ablehnung gegenüber der soziologischen Mikro-/Makro-Ebene versteift sich Latour
auf ein rein empirisches Programm. Die gesellschaftstheoretische Ebene fällt
aus dieser Betrachtung heraus und moralische Fragen können so nicht mehr in den
Bezug zur empirischen Forschung gesetzt werden, was sehr stark an
positivistische Positionen erinnert oder zumindest Latours Programm in deren
Nähe rückt.[11] Adorno setzt stattdessen
Allgemeines und Besonderes nicht in eins, sondern sieht sie wiederum
dialektisch vermittelt. So hält Adorno an Begriffen wie Gesellschaft oder
Geschichte fest, die Latour ablehnt und deren Existenz er bestreitet. Daher
kann für Latour sich die Gesellschaft auch nicht auf die konkrete empirische
Forschung auswirken, da Gesellschaft als solche nicht real vorhanden ist. Für Adorno
ist hingegen Gesellschaft auch immer Realität, die sich auf den Schein der
irrationalen Moderne wechselseitig auswirkt. Die gesellschaftlichen Kategorien
sind für ihn Realität und Schein zugleich. Schein als empirische Frage,
Realität als gesellschaftliche Konstruktion, die mit der Erfahrung in Bezug
steht. Da Latour hier wiederum keine Dialektik der Kategorien walten lassen
will, scheint es, dass gesellschaftliche Reflexion nicht zur Empirie
durchdringen kann und die Wirklichkeit nur durch den Schein geprägt wird. Auch
hier wäre eine dialektische Vermittlung zwischen Allgemeinen und Besonderen,
sowie zwischen Makro- und Mikro-Struktur durchaus hilfreich das empirische
Programm Latours zu erweitern.
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Fußnoten
[1]
Stapelfeldt (2004: 111) sieht an dieser Stelle auch den – sich seit der Antike
vollziehenden –„Prozess der
Entmythologisierung durch Selbstreflexion des Ich und des Denkens scheinbar zum
Abschluss gekommen: Die Verselbständigung der Subjektivität des Ich und des
Denkens gegen die Objektivität der äußeren Welt ist radikal vollzogen.“
[2] In
der Negativen Dialektik schreibt
Adorno (GS 6: 185): „Ohne sie verkäme Erkenntnis zur Tautologie; das Erkannte
wäre sie selbst“.
[3] Für
Adorno liegt dies in der Rationalität und dem Beherrschungsdrang der Aufklärung
begründet. Das Vernunftprinzip setzt Identität als absolut und stellt das
erkennende Subjekt dem zu erkennenden Objekt strikt gegenüber. Die rationale
Betrachtungsweise blendet so den Zusammenhang von Subjekt und Objekt sowie
jegliche Momente der Nicht-Identität aus. Kants transzendentales Subjekt
spiegelt somit für ihn eine geschichtliche Wahrheit wieder, die es durch
Gesellschaftskritik bloßzustellen gilt. (vgl. GS 10.2: 745; dazu auch Guzzoni
2003: 18ff.)
[4] „Der
Vorrang der Objektivität ist die intentio obliqua der intentio obliqua, nicht
die aufgewärmte intentio recta“ (GS 10.2: 747).
[5] Kern
(2006) unterscheidet bei Adorno zwischen einer aporetischen und einer
dialektischen Leseart. Hier wird Bezug auf die letztere genommen, nach der
Urteile durch sinnliche Erfahrung als wahr gelten können. Nach der aporetischen
Leseart werden Urteile nur durch Empfindungen gebildet, die jedoch generell als
unbestimmt gesehen werden müssen. Genauer kann im Rahmen dieser Arbeit nicht
auf diese Unterscheidung eingegangen werden.
[6]
Adorno (GS 10.2: 742) bezeichnet die Vorstellung von einem Zustand glücklicher
Identität von Subjekt und Objekt als „romantisch; zuzeiten Projektion der
Sehnsucht, heute nur noch Lüge“.
[7] So
schreibt Adorno zusammen mit Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1991) von der „rastlose[n]
Selbstzerstörung der Aufklärung“ (1), obwohl ihnen beiden klar ist, dass diese
ebenfalls unabdingbar für eine freie Gesellschaftsordnung ist: „Wir hegen
keinen Zweifel – uns darin liegt unsere petitio principii –, dass die Freiheit
in der Gesellschaft vom aufklärendem Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben
wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens,
nicht weniger als die konkretenhistorischen Formen, die Institutionen der
Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt
erhalten, der heute überall sich ereignet“ (ebd.: 3).
[8] Auch
für Latour ist die Moderne kein Prozess der gänzlich zurückgenommen werden
muss: So fragt er sich, wie man die „prämodernen Kategorien in Anspruch nehmen,
um die Hybriden zu denken, aber von den Modernen das Ergebnis der Reinigungsarbeit
bewahren“ kann (Latour 2009: 177f.).
[9] Aber
auch nicht als explizit kohärenztheoretisch. Die Aussagen über Wahrheit, haben
neben logisch-kohärenten Übereinstimmungen immer noch einen Bezug zur
Wirklichkeit und sind daher auch Aussagen über die Realität, die jedoch nicht
einfach abgelesen ist.
[10] So
spricht Kern (2006: 50ff.) von einen „nicht naiven Realismus“ bei Adorno und
Degele/Simms (2004: 274) schreiben in Bezug auf Latour von einem
„Postkonstruktivisten“.
[11] Die
Aussage „Fragen der Epistemologie sind immer auch Fragen der
Gesellschaftsordnung“ (Latour 2008: 25) müsste aber gerade positivistische
Positionen konsequent ablehnen.
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