Erschienen in Ausgabe: No. 12 (2/1996) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
Otfried Höffe (Hrsg.), 'Klassiker Auslegen', Bd. 2: Aristoteles - Die Nikomachische Ethik, Berlin (Akademie Verlag) 1995
von Bernd Villhauer
Die großen Bücher, die zum Kanon der philosophischen
Schlüsseltexte gezählt werden, haben unter anderem deshalb solche
Bedeutung weil sie immer wieder in neuen Problemzusammenhängen zu
Beiträgen im aktuellen Kontext inspirieren. Mit Erstaunen nimmt man dann
bei der erneuten Lektüre wahr, wie die klassischen Autoren scheinbar auf
Fragen antworten, die man selbst eben erst aus der gegenwärtigen
Problemsituation entwickelt zu haben glaubt.
So verhält es sich auch mit den Texten des Aristoteles. Auch er wurde in
verschiedenen Epochen als 'Zeitgenosse' und Mitdenker erkannt und anerkannt.
Schon in der nachklassischen Ära der Wiederaufnahme seines Denkens durch
Averroes (in der arabischen Welt) beziehungsweise Maimonides (im jüdischen
Kulturraum) wird er 'aktuell' weil er eine plausible Grundlage für den
Wissenserwerb bei gleichzeitiger Stabilisierung des Weltbildes zu bieten
schien.
So verhält es sich auch mit der Aristoteles-Rezeption der Gegenwart, die
besonders in den angelsächsischen Ländern für die
Herausarbeitung eines neuen Tugendethik-Begriffes und kommunitaristischer
Theoreme eine große Rolle spielt.
Hierbei erscheint der Kommunitarismus oft als gegenläufige Bewegung zu
universalistischem Denken kantianischer Provenienz. Gegen eine abstrakte Moral
soll die Anerkennung der Herkommens, der Tradition und der Verbindlichkeiten
konkreter, historisch gewachsener Gemeinschaften gesetzt werden. Wie auch immer
man die Konfliktlinien zwischen Kommunitarismus und Liberalismus
einschätzen mag, und ob man nicht die ganze Debatte oft nur als einen
Streit um Worte sieht, da auch im klassischen Liberalismus kommunitäre
Elemente durchaus eine Rolle spielten und nur wenige Kommunitaristen die
Errungenschaften liberaler Bürgergesellschaften wirklich zur Disposition
stellen möchten, das sei dahingestellt. Zu denen, die sich jenseits
griffiger Schlagworte um eine differenzierte Darstellung von Trennendem und
Gemeinsamem zwischen beiden Lagern bemüht haben, gehört jedenfalls
Otfried Höffe. Bei ihm wurden schon mehrfach in Interpretationen
Kantischer Theorien zu Politik und Moral ungewohnte Aspekte sichtbar, die auch
einer schnellen Verrechnung Kantischer Theorie als einer 'logozentrischen'
widersprechen.
Im Band über Aristoteles' Nikomachische Ethik, den er als Teil der Reihe
'Klassiker Auslegen' des Akademie-Verlages vorlegt, wird das Problemfeld nun
von einer anderen Seite angegangen. In seinem einleitenden Beitrag, aber auch
in dem Schlußkapitel 'Ausblick: Aristoteles oder Kant - wider eine plane
Alternative' nimmt er Korrekturen am herkömmlichen Bild vor, die in
folgenden Thesen gipfeln:
"...(1) Nach der Intention der Ethik als einer praktischen Philosophie ist Kant ein Aristoteliker. (2) In den Grundelementen seiner Ethik ist Aristoteles Universalist. (3) Dort, wo Aristoteles angeblich über Kant hinausreicht, bei der Urteilskraft, gibt er eine Analyse vor, die Kant in der Sache sowohl anerkennt als auch moralphilosophisch weiterführt. (4) Hinsichtlich der Handlungstheorie weisen einige der Aristotelischen Analysen über den eigenen, nur strebenstheoretischen Ansatz hinaus. Und (5) in der Lehre vom Glück gelingt ihm, wogegen Kants These der begrifflichen Unbestimmtheit eine grundsätzliche Skepsis äußert: er entwickelt einen objektiven und erstaunlich weit wohlbestimmten Begriff." (S. 303)
Innerhalb des von Höffe vorgegebenen Rahmens versammelt der Band
unterschiedliche Beiträge, die jeweils Teilaspekte oder Abschnitte des
Werkes behandeln. Die Autoren sind John L. Ackrill, Hellmut Flashar, Ursula
Wolf, Christof Rapp, Günther Bien, Theodor Ebert, Richard Robinson, Friedo
Ricken, Anthony Price und Wolfgang Kullmann. Illustre Namen also, von denen
Originalbeiträge und Wiederabdrucke nebeneinander stehen.
Nun folgen aber diese Autoren nicht einfach den Höffeschen Vorgaben,
sondern zu verschiedenen Aspekten des Werkes wird ein je unterschiedlicher
Zugang eröffnet, wenngleich die Arbeiten verhältnismäßig
oft die Darstellung einzelner Tugenden und deren Beziehung zur Handlungstheorie
in den Mittelpunkt stellen. Dennoch entsteht der Eindruck einer gewissen
Uneinheitlichkeit, vor allem wo der Band als Einführung auch für
Nichtphilosophen gedacht ist.
Wenngleich also die konzeptionellen Vorgaben vielleicht noch schärfer
gefaßt werden sollten, machen das hohe Niveau der Beiträge und die
sorgfältige Machart (mit verschiedenen Glossaren deutscher und
griechischer Begriffe sowie hilfreichen Literaturhinweisen) die
Veröffentlichung durchaus attraktiv.
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