Erschienen in Ausgabe: No. 12 (2/1996) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
Tugend damals und heute
von Gonsalv K. Mainberger
Das griechische Wort für 'Tugend' heisst aretê.
Wenn wir auf die Frage: Was heisst denn aretê? antworten:
aretê ist das griechische Wort erst für Tauglichkeit
allgemein, dann für Tugend im besondern, dann werden die
allermeisten Interessierten mit Unverständnis und Desinteresse,
wenn nicht gar mit einem abschätzigen Achselzucken reagieren.
Wer spricht denn heute schon von Tugend? - Gegen die Annahme,
das Tugendproblem sei vom Tisch, sprechen allerdings Bände:
Der Petit traité des grandes vertus von André
Comte-Sponville (PUF, Paris 1995, 392 S.) ging in Frankreich zu
Zehntausenden über den Ladentisch; das (umstrittene) Buch
der Tugenden von U. Wickert ist in Deutschland ein Bestseller;
bereits 1984 erschien in Notre Dame in 2. Auflage auf englisch,
1987 auf deutsch (Campus) Der Verlust der Tugend. Zur moralischen
Krise der Gegenwart von Alasdair MacIntyre.
Im sogenannten Alltag sind wir noch immer angewiesen auf die Tüchtigkeit
eines Handwerkers, merken wir doch rasch, was es uns kostet, wenn
gepfuscht wird. Niemand möchte aber in den Verdacht geraten,
als Tugendbold apostrophiert zu werden. Nur das nicht. Wenn mit
aretê gar eine Handlungsanweisung gemeint
und verbunden sein sollte, dann läuft die entsprechende Aufforderung
zur Tugend erst recht ins Leere. Bei wem figuriert denn heute
die Tugend auf der Lebensgestaltungsagenda! Nicht etwa, dass die
Menschen samt und sonders Tugendverächter wären. Aber
der Tugendbegriff gilt nicht mehr als ein konstitutives Moment,
weder in der Wirtschaft noch in der Lebensgestaltung. Er ist abgelöst
worden, und zwar gleich durch zwei andere Grundsätze: Pflicht
und Verantwortung. Den Auftakt ins bürgerliche Zeitalter
- Ralf Dahrendorf zufolge entwachsen wir ihm allerdings und manövrieren
uns in die entsprechende Krise hinein - machte Kant (1724-1802)
mit dem Pflichtbegriff und dem kategorischen Imperativ.
Der Tugendbegriff bzw. das Tugendstreben geriet unter Verdacht,
nichts anderes zu sein als versteckte Selbstsucht, eben Prämieninteresse.
- Nach Auschwitz ist es gemäss Hans Jonas das Prinzip
Verantwortung, (Frankfurt a. M. 1979/1984), das die Ethik
für die technologische Zivilisation begründet.
Der so in die Verantwortung gestellte Mensch vergewissert sich
über kollektives Handeln in der Geschichte, also in Vergangenheit
und Gegenwart; spezifisch modern daran ist, dass er auch über
die mit kollektivem Handeln verbundenen künftigen Folgen
Rechenschaft abzulegen hat. Die Handlungsverantwortung orientiert
sich also nicht mehr primär an der Instanz aretê.
Hat Tugend ausgedient? Ist der Begriff aretê hübscher,
aber unnützer und vor allem gänzlich unbrauchbarer Zitatenschmuck?
Wie sollte 'Tugend' als begrifflicher Repräsentant einer
Idee, eines lebensdienlichen Programms, einer gesellschaftsprägenden
Produktion tauglich sein? Wer Tugendverhalten nach dessen Bedingungen
des Entstehens befragt, untergräbt auch schon dessen Fundament.
Der psychologische Scharfsinn machte Nietzsche zum Genealogen
von Gut und Böse; Michel Foucault radikalisierte Nietzsches
Programm, eröffnete aber einen postkantisch historisch-transzendentalen
Tugenddiskurs und hat ihn dann resolut in den Diskurs der «Technik
des Lebens» und der Existenz transformiert. Tugend heisst
im modernen Kontext Technik des Lebens (technê toû
bioû; ars vivendi) und Selbstsorge (epiméleia
toû autoû; cura sui), fungiert als konstitutives
Grundprinzip des Selbst und löst das Prinzip der Selbstentsagung
(definitiv?) ab.
Ein weiteres Hindernis, das sich der Wiederverwendung von aretê
entgegenstellt, hängt nicht direkt mit dem geschwundenen
Stellenwert und der gestörten Geltung von aretê,
virtus und Tugend innerhalb der sozialen und individuellen
Rekonstruktion der Lebenswelt zusammen. Die Schwierigkeit entsteht
aus dem Unbehagen, in das der Begriff aretê und die
mit ihm aktivierten Moralkonnotationen versetzen. Aufs Ganze unserer
Technikwelt gesehen, nimmt sich aretê doch eher als
ein lästiger Fremdkörper aus. Die folgenden Ausführungen
möchten diesem Unbehagen sowohl entgegenkommen als auch versuchen,
es in tugendgestütztes Verhalten, in die «normative
Intelligenz» - mit Gerhard Schulze als Verständigkeit
und Lebensklugheit verstanden - umzusetzen. Ein wissendes Verhalten,
das zu wählen vermag zwischen zerstreuender Erlebnisfaszination
und konzentrierender Zielsetzung, zwischen ephemeren, orientierungslosen
Glücksangeboten und rationaler Skepsis gegenüber eigenen
illusionären Begehrlichkeiten.
Aretê sei übersetzt mit Performanz. Sie nennt jenes handlungsmotivierende, auf die Umstände achtende persönliche Gesamtformat, das den frei entscheidenden Menschen rundum mässigt und stabilisiert, ihn neuen Möglichkeiten gegenüber öffnet, ihn geistig mobil, sozial kompetent und gegen lineares Denken und unbedachtes Entscheiden resistent macht.
Performanz ist gebildet aus dem lateinischen per-formans, durchgeformt-sein, in-Form-sein; die Vorsilbe per hat Verstärkerfunktion, wie im Wort per-fekt. Synonyme Termini für Performanz sind heute Format, Hochform, älter (vielleicht besser) Tauglichkeit, Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Kunstverstand; wer performant ist, hat 'Genie' (Ingenieur), ist erfinderisch, gewandt und anpassungsfähig. Was er macht, lässt sich sehen; sein Handeln schafft Zusammenhänge und macht Sinn, obschon immer nur Stückwerk und Annäherung ans Ganze. Die Fertigkeit, mit den Mitteln sparsam und zugleich produktiv umzugehen, sowie die Achtsamkeit auf das Verhältnis von Aufwand und Ertrag prägen den Lebensstil und werden schliesslich zur zweiten Natur. Zu Performanz und Format gehört zwar der Blick auf das Ganze, ist doch performantes Handeln stets angestachelt von der Frage nach dem Ziel, dem Ganzen und dem Sinn des vielen Tuns und Treibens - ein Blick freilich, der das Ganze nie zu Gesicht bekommt. Der Tugendverlust hat die Tugend schon immer begleitet und die Tugendtraktate konstituiert. Im Horizont dieses Mangels und des permanenten, aber epochenspezifischen Tugendverlustes sowie der Unabgeschlossenheit des Tugendstrebens reflektiert, stellt sich Performanz schliesslich dar als die für die menschliche Existenz unentbehrliche Lebenstechnik. Sie hält die Erinnerung daran aufrecht, dass es kein happy end gibt, der Verlust der Tugend nicht kompensierbar ist und unsere Endlichkeit nicht in neue Gewissheiten zu konvertieren ist, auch nicht um den Preis des nach Platon und Aristoteles glückverheissenden Tugendverhaltens. Die metaphysische Spitze, auf die die Tugendargumentation des Aristoteles hinausläuft, scheint endgültig gebrochen zu sein. Gleichwohl erwachsen dem modernen Subjekt, das an seinem Lebensstil arbeitet, sowohl Persönlichkeitsvorzüge wie Sozialkompetenzen, um derentwillen sich dann gesellschaftliche Wirksamkeit einstellen und deren Anerkennung nicht ausbleiben wird. Sie gilt allemal der Frau, dem Mann von Format.
Der Begriff aretê ist nicht daraufhin angelegt, jemandem
eine bestimmte Verhaltensweise aufzuerlegen oder ihm mit erhobenem
Zeigefinger zu bedeuten, wo es langgehen soll. Aretê
hat also ursprünglich mit Moral nur entfernt zu tun. Erst
die Geschichte machte aus aretê einen morallastigen
Begriff. Wenn sich heute bei vielen Leuten, die das Wort Tugend
auch nur hören, die Vorstellung des Moralisierens und des
Tugendboldes einstellt und sie nur gerade ein müdes Lächeln
für diesen, aus europäischen Lebensentwürfen allerdings
nicht mehr wegzudenkenden Begriff übrig haben mögen,
dann liegt das am geschichtlich bedingten Gebrauch bzw. Missbrauch
des Begriffs. In der Tat, Tugend wurde vor allem in der bürgerlichen
Gesellschaft um die letzte Jahrhundertwende missverstanden und
zu allerhand pädagogisch-politischem Unsinn missbraucht.
Den Tugendbegriff haben die Nationalismen, vollends der Nationalsozialismus
pervertiert: die Pflicht wurde zur alleinigen, massgebenden und
männlichen Tugend erhoben. Mit dem Zwang zur Pflicht
wurde auch die Voraussetzung zur Tugend zerstört, nämlich
die Freiheit.
Aretê ist nicht auf Zwangshandlung angelegt. Sie
nennt jene Grundhaltung, die ein Handeln möglich macht, das
freier Entscheidung entsprungen ist, in sich abgeschlossen ist,
dem Handelnden aber Genuss bereitet und so unabschliessbar zu
neuem Handeln motiviert. Diese Haltung vereint die beiden Aspekte
des Handelns - Handlungsprinzip und Handlungsnorm.
Wer Performanz (im oben definierten Sinn) für sich
beansprucht, rekurriert auf zwei Instanzen: auf Wissen und Tun.
Der performant Handelnde weiss: Was ich mache, mache ich
richtig. «Was du tust, das tue recht», pflegte mein
Grossonkel, gelernter Bäcker, zu sagen. Garant hierfür
ist der aus seiner Hochform heraus Handelnde. Man sagt dann von
ihm, er habe Format, sei es beruflich, sittlich oder sozial.
Aus blossem Wissen folgt noch nicht automatisch die Tat. Deshalb
ist Performanz gefragt, also mehr als objektives Wissen. Aus dem
savoir-faire folgt zwar auch nicht'automatisch',
jedoch zuverlässig (subjektstabilisierend) der Tatbeweis.
Gerade in der Kombination dieser beiden Momente erweist sich die
eigentliche Kraft der Performanz: Sie verbindet Herstellen
und Machen (technê) mit Handeln und
Tat (prâxis). Hieraus formt sich das Format
des Handelnden, der sich zum Charakter heranbildet. Beides gekoppelt,
also herstellendes Machen sowie affektbesetztes Handeln, produkteorientiertes
Herstellen und subjektorientiertes, lebensweltlich relevantes
Wirken, sie ergeben das, was gemeinhin Haltung (êthos,
habitus), Verhalten und Einstellung im Sinne eines performativen,
auf aktives Tätigsein hingeordnetes Vermögen genannt
wird. Aber auch umgekehrt gilt: Sowohl Machen wie Handeln verdanken
sich ganz und gar dem stabilen und zugleich agilen Habitus dessen,
der da etwas macht und der da handelt. Daraus wird ersichtlich,
dass Performanz in den zwischenmenschlichen Beziehungen die massgeblich
vertrauensbildende, Verlässlichkeit garantierende Instanz
ist. Sie schafft Vertrauen, weil sie selbst die habituelle Grundlage
dafür liefert.
Für dieses komplexe 'Tugendprogramm' gibt es einen schönen,
leider in Vergessenhei geratenen Begriff, nämlich die Philotechnie.
Ihre konstitutiven Momente sind 1. die den Produktelebenszyklus
respektierende Wachsamkeit; 2. die im Persönlichkeitscharakter
wurzelnde und diesen wiederum erweiternde Handlungskompetenz;
3. die sich als gesellschaftsdienliche und sozialförderliche
Praktiken realisierende Performanz.
Philotechnie ist herstellungs- und handlungsbezogene
Performanz in einem. Sie zielt somit auf Herstellung und Produktion
ab, behält zugleich die Praxis, also das freiheitschaffende
und zielgerichtete Handeln (prâxis) im Auge. Genau
das meint aretê. Anders gesagt: Zur Performanz gehören
technisch-professionelles Herstellungswissen genauso wie charakterliche
Festigkeit und geistige Regsamkeit. Performanz ist eine Haltung
und ein Ge-Haben, das zwar durchaus in sich selbst verharrt, zugleich
aber die Voraussetzung zu jedwelcher innovativen Wirksamkeit bietet.
Performanz so verstanden hat drei konstitutive Momente. Sie fächert
sich funktional in ganz unterschiedliche Performanzen der Lebensbewältigung
und der Umweltbesorgung auf. Zugleich ist sie auf ein einziges,
in sich geschlossenes, also vollendetes Ereignis hin angelegt,
die singuläre, aktuale Existenz, die sich aber weder selbst
legitimieren noch sich ihrer möglichen Reüssite zu vergewissern
vermag.
Die drei Momente sind: 1. die einer jeden Sache eigentümliche
Tüchtigkeit, ihr Wahrsein also; 2. die jedem Tauglichsein
und jeder Performanz eigene mögliche Selbstentgrenzung: wer
performant ist, ist es ersichtlich stets für etwas,
das über ihn hinausragt, ihn übersteigt; 3. das jeder
aktivierten Tauglichkeit zugehörige Ergebnis, nämlich
das am Tauglichsein und an der Performanz partizipierende, also
'gute', qualitätsvolle, vollendet-perfekte, veritable Produkt.
1. Das freilich immer vorläufige, revidierbare Endergebnis
dieser komplexen 'Tugend'-Maschinerie des Herstellens und Handelns,
der technê und der prâxis, ist das Leben
als Ganzes. Unter Leben verstehe ich den Mehrwert unserer
Herstellungen und Handlungen, also das Tätigsein schlechthin:
polypragmasýnê. Dieser Term ist philotechnisch
gemeint und umfasst die beiden Momente des dispersiven Vielbeschäftigtseins
mit der Aussenwelt und des konzentrierten Exerzitiums des
Selbst mit sich selbst. Alles performative Handeln untersteht
dieser Instanz als dem Prototyp von Tätigsein. Es ist 1.
ein die eigene Existenz bereicherndes Tätigsein, ist es doch
lusterzeugend und damit letztinstanzlich existenztragend, 2. eine
sozial nützliche Aktivität, 3. der die Umwelt schonende
Umgang mit der 'Welt', im Sinne der Philotechnie. Dass sich in
dieser Performanz und nur in ihr jedesmal, auch bei der bescheidensten
Handreichung, ein Stück Lebenssinn realisiert und erfüllt,
versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Seit Aristoteles hat
der so erfüllte Lebenssinn als Ganzes den schönen Namen
Glück. Er ist freilich ein Ideal, ein normativer,
also inhaltsleerer Begriff. Glück will immer erst geschmiedet
sein ...
2. Diese Ausführungen über aretê als Performanz
betreffen, wie aus dem Gesagten sogleich ersichtlich, die Hauptmerkmale
der Tugend im allgemeinen. Ebenso klar ist, dass Performanz sich
auffächert, in ganz unterschiedlichen Lebensbezirken wirksam
wird und je nach Handlungsbedarf ein ganz anderes Profil hat.
Eben deshalb wurde in den traditionellen Tugendlehren schon immer
zwischen den Kardinal- oder Primärtugenden und den Sekundärtugenden
unterschieden. Die hochdifferenzierten Tugendprogramme sind Anzeigen
jener performanten Aktivitäten, die für eine gelingende
menschliche Existenz unerlässlich sind, die aber ihrerseits
wieder eine ganz bestimmte Haltung voraussetzen. Exemplarisch
lässt sich das am Beispiel der Wohlberatenheit vorführen.
Die Beraterbranche boomt. Ist das ein Indiz für weitverbreitete
Ratlosigkeit und Verständnislosigkeit des Selbstverständlichen?
Oder zeigt der Boom das Ausmass der abnehmenden Kompetenz, des
schwindenden Mutes zur Eigenverantwortung an? Der Beraterboom
wäre dann Anzeichen für Kompetenzschwund und mangelnde
Aufklärung in den Kreisen der Wirtschaft und der Unternehmer,
also für deren «selbstverschuldete Unmündigkeit»
(Kant). Begibt sich, wer den Berater ruft, in die freiwillige
(oder durch Konkursdrohung erzwungene) Abhängigkeit von einer
externen Instanz? Ist damit nicht gerade der Begriff der Wohlberatenheit
verraten?
Wie auch immer - die spezifische Aufgabe des Beraters, an etwas
bereits Bestehendem die Verbesserungspotentiale zu erschliessen,
ist ebenso alt wie aktuell. Deshalb fragen wir: Wer ist Berater?
Was ist sein Gegenstand? Was besagt Wohlberatenheit?
Wie erkennt man etwas, was noch gar nicht ist, was es noch nicht
gibt? Genau dies ist die Grundfrage der Beratung, ist doch der
spezifische Gegenstand etwas Wahrscheinliches, verstanden als
das Nicht-Aktuale mit konkretem Bezug auf das Aktuale, aber nicht
schon als ein Faktisches verstanden. Das Wahrscheinliche hat ausdrücklich
epistemischen Charakter, drückt es doch eine Kennzeichnung
unserer Erkenntnisse aus und vollzieht sich in Stufen und Intensitätsgraden.
Ginge es nur um den kruden Sachverhalt, genügten gewiefte
Statistiker. Mit Wahrscheinlichkeitsgrössen umzugehen, Risiken
oder Gewinne oder Verluste zu erschliessen, Lösungen zu suchen
und dann auch zu finden, das ist Beratersache. Ein erstes Merkmal
des Beraters also: Er ist findig und wird dann auch fündig.
Nach welchen Kriterien ist vorzugehen? Wie kommt man auf zuverlässige
Anzeichen? Wie lassen sich versteckte Risiken, vergessene Daten
entdecken und aufspüren? Wie schätzt einer die Folgen
seiner Entscheidungen ab, nachdem er die (sichtlich negativen)
Folgen des bisherigen Handelns seiner zu beratenden Pappenheimer
einigermassen oder auch bis in Einzelheiten kennt?
Nennen wir Berater jemanden, der nicht mit strikten Beweisen und
zwingenden Argumentationen operiert, sondern eben rät, abrät
von ... und zurät zu ... Das abschätzende Mutmassen
ist das unterscheidende Merkmal zwischen Raten und wissenschaftlichem
Beweisen. Wer rät, rät zum Nützlichen und Ehrbaren,
rät ab vom Schädlichen und Schimpflich-Unanständigen.
Er befiehlt also nicht, noch überführt er sein Gegenüber,
den zu Beratenden also, mit unwiderlegbaren Beweisen seiner Taten,
seiner Unterlassungen oder seiner Schuld. Raten heisst nicht,
jemandem den Prozess machen noch jemandem einen Sachverhalt zwingend
beweisen. Der Berater hat, streng genommen, gerade keine zwingenden
Beweise in der Tasche. Doch was macht der Berater, wenn er zurät
und abrät?
1. Er tritt nicht - wie der Wissenschaftler - von aussen
an jemanden heran, um ihm, von einem Axiom ausgehend, die Kette
aller Folgerungen zu demonstrieren oder ein Experiment vorzuführen.
Der Berater ist keine externe Instanz, die die Objektivität
zum voraus auf ihrer Seite hätte und unwiderlegbar beweisen
könnte, was in Zukunft zu geschehen hat und mit welchen Folgen
Neuerungen einzuführen oder Massnahmen zu treffen sind. Oft
teilt der Berater mit dem zu Beratenden gerade das gemeinsame
Nicht-Wissen! In der pointenverdächtigen Formulierung von
Odo Marquard: Der Berater bügelt die Inkompetenz der zu Beratenden
aus, hat also die schöne Funktion der «Inkompetenzkompensationskompetenz».
Genau hieraus entstehen letztlich die überzeugenden Argumente,
begleiten sie doch das Zuraten und Abraten des Beraters und machen
so die Ueberzeugung beim Beratenen allererst wirksam.
Er kann jetzt nämlich selbst entscheiden.
Einen argumentgestützten Rat erteilen heisst, 1. beim Ratsuchenden
allererst Glaubwürdigkeit schaffen, 2. kraft dieser Glaublichkeit
die vom glaubwürdig argumentierenden Berater vorgeschlagenen,
konjekturalen Daten, Massnahmen und Entscheidungen beim
zu Beratenden wirksam machen. Das läuft letztlich über
drei Instanzen: 1. über die hüben und drüben erfolgte
vorbehaltlose Einsicht in die Fakten dank vollständigen Sachwissens,
2. über die hohe Glaublichkeitsstufe des Beraters beim zu
Beratenden, 3. über das ungestörte Vertrauenspotential
in den Berater.
2. Der Berater hat, die unbestreitbar auf objektiver Problemanalyse
beruhenden sachlichen Vorschläge immer vorausgesetzt, den
oder die an der Sache (etwa ein mittleres Unternehmen) Beteiligten
oder Verantwortlichen miteinzubeziehen. Wer rät, berät
immer jemanden. Er argumentiert zwar, aber in seinen Sachargumenten
schwingt stets auch der Ton des Ueberzeugens mit.
3. Weshalb ist das so und muss so sein? 1. Weil die Beratung
etwas anderes ist (weniger oder mehr, je nach Betrachtungsweise)
als eine wissenschaftlich konstruierte Argumentation; 2. weil
der Berater - anders als ein rein objektiver Experte (sollte es
ihn denn geben) - als Person mit sozialem und sittlichem Format
immer selbst, mit seiner Person, auch Teil seiner Argumentation
ist; 3. weil der zu Beratende durch überzeugendes Argumentieren
zu einer künftigen Handlung motiviert wird, für die
er dann auch geradesteht, und sollte sie seinem bisherigen Trott
eventuell sogar zuwiderlaufen.
Beraten heisst, die zu Beratenden über die tatsächlichen
Verhältnisse aufklären, sie in die alsdann angebotenen,
konjekturierten Vorschläge und Ratschläge einbeziehen
und so bei den Betreffenden (soweit sie immer auch Betroffene
sind) einen Lernprozess initiieren. «Kommt Zeit, kommt Rat»,
heisst ein altes Sprichwort. Gerade heute ist der Faktor 'Zeit'
ein absolut vorrangiges Moment der Beratertätigkeit.
Wichtig ist, sich den spezifischen Gegenstand der Beratung
zu vergegenwärtigen. Der Bedarf an Beratung steigt mit steigender
Problemlage. Das ist banal. Weniger trivial ist, dass vom Berater
eine Problemanalyse erwartet werden darf. Die Beratertätigkeit
spielt sich zumeist in zwei oft ungleichzeitigen Phasen ab. Zuerst
in der Phase der Einsicht in die Probleme, die mit der Sache selbst
verbunden sind, dann in die Phase der Umsicht, mit der jene Probleme
angegangen werden, mit denen sich die beteiligten Personen konfrontiert
sehen und mit denen sie offenbar nicht fertig werden. Kompliziert
wird die Aufgabe oft dadurch, dass die beteiligten Personen das
grössere Problem darstellen als das Sachproblem.
Ein Berater von Format wird diese beiden Seiten seines Gegenstandes
zu unterscheiden wissen; dann wird er die unterschiedlichen Phasen
der je verschiedenen, oft ungleichzeitigen Beratungsprozesse
kennen und sich in seinem argumentativ-konsiliaren Diskurs entsprechend
verhalten: bei der Analyse des Sachverhaltes klar und unmissverständlich
deutlich werden - klug und empathisch, überzeugend und engagiert
handeln, wenn es um die beteiligten Personen, die zu Beratenden
geht. Beide Kompetenzen in einer Person vereinigt: ein Berater
von Format. Sein Handeln besteht darin, seine auf Schätzungen,
auf Findigkeit und Spürsinn beruhenden Konjekturen glaubhaft
vortragen, ebenso faktengestützt wie risikobewusst.
Es gibt im Werkkatalog des Aristoteles eine wahrscheinlich seiner
Schule entstammende kleine Schrift mit dem Titel: Ueber die
Tugenden. Das 4. Kapitel handelt von der Wohlberatenheit,
euboulía. Es scheint mir hilfreich, daraus einige
Hauptzüge zu referieren.
Wohlberaten ist, wer mit sich und seinen eigenen Angelegenheiten
zu Rate gehen und zugleich auch anderen raten kann. Mit sich
zu Rate gehen ist eine ausgezeichnete Form der Selbstsorge. Um
anderen raten zu können, sind Gedächtnis, Erfahrung
und gesellschaftlicher Takt erforderlich. Der Berater berät
nicht etwa über Vergangenes, muss aber erinnernd darüber
verfügen, also frühere Fälle genau registriert
haben. Er rät auch nicht zu schon Bestehendem, da dies ja
jedermann vor Augen hat oder dann, dank Analyse, vom Berater gezeigt
und wenn nötig demonstriert bekommt. Spezifisch am
Berater ist das Raten auf Künftiges hin, und Künftiges
lässt sich nun einmal nicht demonstrieren. Was ist
zu tun, wenn ..., das ist Sache des Beraters. Diese Kompetenz
wird zur Performanz dank Gedächtnis, zusammen mit Erfahrung.
Ratschläge werden aber erst dann angenommen, wenn sie vom
gesellschaftlichen Takt der Berater begleitet sind.
Eine wesentliche Voraussetzung der Wohlberatenheit ist die Verständigkeit,
sýnesis, eusýnesis. Was heisst verständig
sein? Es ist ein Erfassen der Sache durch Uebersicht im vergleichenden
(oder vergleichbaren) Zusammenhang. Das wiederum ist nichts anderes
als 'Erfahrung', wenn Erfahrung heisst, der Erfahrene habe seine
Erfahrungen registriert, sortiert und reflektiert.
Verständigkeit ist die Quelle, aus der sowohl Beraterperformanz
wie Scharfsinn hervorgehen. Umgekehrt scheint es so zu sein, dass
Wohlberatenheit wie Scharfsinn, anchínoia, ihrerseits
gewissermassen Ursache der Verständigkeit sind, gilt doch
als verständig nur, wer auch raten kann und scharfsinnig
ist. Gesellschaftlicher Takt ist erforderlich, weil es beim Raten
stets (auch) um Angelegenheiten des Lebens geht. Takt deshalb,
weil es hierfür gar kein vorgegebenes Muster gibt noch geben
kann. Das Leben ist mehr als die Summe seiner Teile, nämlich
ein «Positivsummenspiel»: durch Zusammenspiel gewinnen
alle. Aber wenn es um Beratung in Angelegenheiten geht, die auch
vom Willen der Beteiligten abhängen, dann sind mehr als
Annäherungen und Abschätzungen, Konjekturen und begründetes
Vermuten nicht möglich und auch nicht nötig.
Zum Beraterprofil gehört Verständigkeit und verständig
ist, wer mit sich und für andere zu Rate gehen kann. Die
integrativen Momente dieser Performanz: einen Sachverhalt gut
beurteilen; von den Gütern besonnenen Gebrauch machen; im
Umgang mit komplexen Verhältnissen das Richtige treffen,
also über Augenmass verfügen; die gute Gelegenheit im
Blick behalten, also die Gunst der Stunde nicht verpassen; sich
scharfsinnig äussern und entschieden handeln; in nützlichen
wie schädlichen, in lebensdienlichen wie in lebensfeindlichen
Dingen erfahren sein und sich die Bedingungen dafür,
umstürzende Erfahrungen machen zu können, laufend selbst
schaffen. Alle diese Sonderspekte summieren und erhöhen sich
im Berater von Format zu seiner technischen, sittlichen und sozialen
Performanz.
Es gibt, neben der zu erarbeitenden Performanz des Ratens, die
instinkthaften Anlagen, die das Subjekt zur Wohlberatenheit disponieren.
Es ist dies die naturwüchsige Treffsicherheit, eine Anlage
oder ein natürliches Talent, ohne welches Treffsicherheit
nur schwer zu erlernen ist. Es liegt dann am Verantwortlichen
etwa einer Beraterfirma, Beratertalente ausfindig zu machen
und sie entsprechend weiterzubilden. Talentierte Leute ohne Zusatztheorien
können sich selbst und anderen gefährlich werden.
Zusammenfassend: Jeder kommt ab und zu in eine Lage, in der er
mit sich selbst zu Rate gehen muss. Die Angelegenheiten des Lebens
klären sich nun einmal nicht restlos von selbst - auch nicht,
wenn man sie vor sich herschiebt und vertagt. Der Berater setzt
dem gefährlichen Vertagen ein Ende. Aber er tut dies wenn
möglich nicht abrupt, aber auch nicht so zögerlich,
dass der Ratschlag darunter leidet und zu einem Wischiwaschi verkommt.
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