Erschienen in Ausgabe: No. 13 (1/1997) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
von Prof. Dr. Udo Kern
Sehr hart urteilt Karl Popper über unsere westlich -
abendländische Erziehung. Als korrupt, und zwar intellektuell und
sittlich, diagnostiziert er die westlich-abendländische Bildung. Diese
Korruption hat nach Karl Popper einen klar und eindeutig zu benennenden Grund.
Verursacht ist diese Korruption durch das Aussetzen, Nichtanwenden, Verweigern
von Kritik, in dem was wir sagen und tun. "Und in der Tat - unsere
intellektuelle wie auch unsere sittliche Erziehung ist korrupt. Sie ist
verdorben durch die Bewunderung der Brillanz, durch die Bewunderung der Weise,
in der Dinge gesagt werden, die an die Stelle einer kritischen Betrachtung des
Gesagten (und des Getanen) tritt. Sie ist verdorben durch die romantische Idee
des Glanzes auf der Bühne der Geschichte, auf der wir alle
Schauspieler sind. Wir sind dazu erzogen, bei allen unseren Handlungen die
Galerie im Auge zu behalten."[1]
Die Prägung und Fixierung auf und "durch die Bewunderung der Brillanz"
bringt uns Anpassung an die Faszination dessen, was sich im "man" Gewinn
bringend zur Pose darstellen kann. Die "romantische Idee des Glanzes" verdirbt
uns innen und außen. Wir können, ja müssen, in
allem, was wir denken, tun und handeln, "die Galerie im Auge...behalten". Die
Idee des Glanzes ideologisiert unser Dasein. Sie ist eingenistet in das, was
wir tun, denken, erreichen. In fruchtbarer Evidenz bestimmt sie die
Alltäglichkeit. Die "Bühne der Geschichte, auf der wir alle
Schauspieler sind", lebt von der Ideologie des Glanzes. Immer, wann und wo, wie
und was, klein oder groß - immer gilt es, die Galerie im Auge zu
behalten.
So aber gedeiht der Verfall. Indem sich die bewunderte Brillanz durchsetzt,
sich verherrlicht, glorifiziert, verlieren sich Konturen des Menschlichen.
Menschliches gedeiht nicht durch die und in der (blinden) Faszination der Idee
des Glanzes. Nein, diese Idee ist hier Verderben bringend. An ihr orientiert
sind wir ideologisch irregeleitet. Wie aber können wir ausziehen aus
der Leben und Denken zerstörenden Bewunderung der Brillanz? Es gilt:
"Der kritische Weg ist allein noch offen."[2]
Aber ist das nicht das perennierend neuzeitliche Geschäft, kritisch
die Wege zur Wirklichkeit zu beschreiten? Hat nicht Theodor W. Adorno recht,
wenn er sagt, daß "wenig übertreibt, wer den neuzeitlichen
Begriff der Vernunft mit Kritik gleichsetzt"[3]?
Sind nicht bei aller Inkompatibilität kritische Theorien so etwas wie
eine Art Koinzidenzpunkt, zumindest neuzeitlichen wissenschaftlichen Erkennens
und Gestaltens? Ist nicht insbesondere philosophisches und
naturwissenschaftliches Erkennen idealtypisch als solches von der Basis
kritischer Theorien aus zu sehen? Hat nicht die Kritik ihren Siegeszug als
Fundamentalkategorie neuzeitlicher Wissenschaft und Lebenstheorie erfolgreich
angetreten, ja verwirklicht? Versteht sich nicht der neuzeitlich Gebildete
essentiell als kritischer Mensch par excellance? - Sicherlich ist man geneigt,
diese Fragen zunächst positiv zu beantworten. Neuzeitliches Denken und
Gestalten ist in der Tat wesentlich von kritischem Herangehen und kritischer
Interpretation geprägt. Aber diese Antwort ist zu generalisierend, zu
oberflächlich, ungenau, insuffizient. (Das gilt auch dann, wenn wir im
Pathos eigener Suffizienz unser kritischen Existenz zur Schau stellen wollen,
hier aber eher verdrängen, nicht genau hinsehen, eher unkritisch
bleiben gegenüber unseren eigenen Existenzvollzügen.) Wir
haben das Potential der Kritik wesentlich instrumental eingesetzt. Kritische
Theorien in Philosophie und Wissenschaft sind für uns der
adäquate Ort von Kritik. Wir haben in Wissenschaft und Gesellschaft
durch sozusagen gänzliche Instrumentalisierung Kritik
enggeführt. Indem wir Kritik ausschließlich
instrumentalisierten und eng verzweckten, haben wir sie selbst beschnitten und
auch als Mittel instrumental gefangengesetzt. In dieser Gefangenschaft verzehrt
sich dieselbe und ist dazu verurteilt, in (oft) partikulärer
Perfektion, sich kritizistisch mattzusetzen. Wo sich die Instrumentalisierung
nicht unmittelbar oder doch zumindest mittelbar auszahlt, verliert sich das
Kritikpotential. Die kritische "Schau" verliert das Feld an die "Bewunderung
der Brillanz". Das aber ist Welt und Leben gefährdend. Immer mehr
beherrscht die "Idee des Glanzes" das Feld. Damit gerät aber selbst
die instrumentalisierte Kritik in effiziente Gefahr.
Kritik bedarf des Fundamentalen. Sie kann auch nur recht effizient werden, wenn
sie des fundamentalen Horizontes nicht entbehrt. Es gilt, dieses Fundamentale,
was wir im Begriff sind zu verlieren, wieder zu entdecken. Hilfreich ist hier
die Erinnerung an kritische Traditionen. So ist es sicherlich gut, sich der
alten Differenz zu erinnern, die dem Allgemein-Gebildeten Kritik zuschreibt und
nur begrenzt dem "Wissenschaftler, dessen Urteil auf ein bestimmtes Gebiet, in
welchem er sachverständig begrenzt ist"[4]. Aristoteles sagt: "Der allseitig Gebildete ist
nach unserem Urteil sozusagen ein Kritiker über alle.[5] Kritik erschließt sich dem allseitig
Gebildeten. Kritik darf nicht reduziert werden zum Kriterium sachlich
urteilender Wissenschaft. Das gilt es auch neuzeitlich (modern und nachmodern)
zu beachten. Essentiell bedarf Kritik des allseitig Gebildeten, ebenso aber des
begrenzten Kritikpotential sachlich urteilender Wissenschaft.
Aristoteles[6] siedelt Kritik im Bereich des
Handelns (praxis) und Hervorbringens (poiesis und techne) an. Ort der Kritik
ist für Aristoteles nicht im Bereich der theoretischen Wissenschaften
(theoria), also der Physik, Mathematik und Theologie (Erste Philosophie,
Metaphysik), denn diese betrachten das, was ist. Nicht das Betrachten des
Für-sich-selbst-Seins der Dinge ist Ort der Kritik, sondern nur die
vom menschlichen Handeln abhängigen Dingen, wo Differenz zwischen Sein
und Sollen ist, sind der Ort der Kritik. "Ihre Aufgabe verwirklicht Kritik in
der Entscheidung oder Wahl als `Prüfen des Ethos'[7], als Verständigkeit und
Unterscheidung, die als `richtige Beurteilung des Billigen' von der sittlichen
Einsicht oder Klugheit geleitet werden"[8]. -
Diese aristotelische Verortung der Kritik auf das im aristotelischen Sinne
Ethische, das ja in seiner Dimensionalität gegenüber der
neuzeitlichen Dimensionierung des Ethischen als sehr weitreichend zu bezeichnen
ist, eröffnet der Kritik Raum, der über die
neuzeitlich-moderne und nachmoderne instrumentalisierte Kritik erheblich
hinausreicht. Allerdings kann die moderne und nachmoderne verengte
instrumentalisierte Kritik nicht hinreichend mit Hilfe der aristotelischen
Verortung gerettet werden. Denn unseres Erachtens ist es notwendig, Kritik im
Rahmen der im aristotelischen Sinne - und somit auch gegen Aristoteles -
theoretischen Wissenschaften zu bestimmen.
Die neuzeitliche Kritikkultur west essentiell aus und in dem Protestantismus.
Die Erinnerung[9] an das Kritikpotential des
Protestantismus könnte hilfreich sein für das aktuale
Kritikpotential. Im Folgenden will ich versuchen, auf einige - und das
heißt also nicht alle - mir allerdings nicht marginale -
Gesichtspunkte des protestantischen Kritikpotentials skizzenhaft hinzuweisen.
Kein Referat über den Protestantismus im allgemeinen ist also
nachfolgend intendiert, sondern - bewußt einseitig - eines
über eine, ihm freilich wesentliche Dimension.
Man kann den Protestantismus[10] auch als ein neuzeitliches Kritikprogramm verstehen. Dem Protestantismus eignet wesentlich eine Kritikkultur. Ohne diese verliert er sich selbst, geht er seiner Identität verlustig. Kritisches Erkennen von Gott, Mensch, Ich, Du, Gesellschaft, Welt ist dem Protestantismus so essentiell, daß sein Fundamentalprinzip (dieses ist ein kritisches) verloren ginge und er sich selbst beseitigte, verzichtete er auf kritisches Erfassen von Wirklichkeit. Unkritische Wahrnehmung derselben ist nicht nur zutiefst unprotestantisch, ja antiprotestantisch, sondern radikalste Aufhebung des protestantischen Prinzips. Kritisches Erkennen von Wirklichkeit als protestantisches Fundamentalprinzip darf nicht traditionslos und damit konfessionalistisch enggeführt werden. Wenn wir im Folgenden von protestantischer Kritik sprechen, so ist damit primär das protestantische Prinzip[11] gemeint und der Protestantismus im Sinne des protestantischen Kirchentums insoweit und dann, wenn in ihm dieses Raum gewinnt. "Das protestantische Prinzip ist die Wiederaufnahme des prophetischen Prinzips als Angriff gegen eine sich selbst verabsolutierende und infolgedessen dämonisch entartete Kirche"[12] und Welt, exakter: das kritische Erfassen von Gott, Mensch und Welt. Die biblische prophetische Kritik (Amos, Hosea, Jeremia, Johannes der Täfer etc.), das Kritikpotential der alten und mittelalterlichen Kirche (z. B. das der Bettelmönchsorden, kritischer Bewegungen innerhalb und am Rande der westlichen und östlichen Kirchen) sind Fundamentaltraditionen der protestantischen Kritik. Protestantische Kritik ist also nicht konfessionalistisch zu verstehen. Sie ist auch innerhalb der katholischen Kirche und außerhalb der Kirchen und Religionen. In der abendländischen Geistesgeschichte verdichtet und lokalisiert sich das protestantische Kritikpotential insbesondere um die reformatorische Bewegung im 16. Jahrhundert. Kritisches Erkennen von Gott und Mensch, Ich, Du, Gesellschaft, Welt ist das Thema der protestantischen Kritik, denn unkritisch gibt es für den Protestantismus kein Erfassen von Wirklichkeit, sondern (vergötzende) absolute Alienation derselben.[13]
Das Kritikprotential des reformatorischen Protestantismus hat clare et
destincte eine Basis, eine Quelle, aus der Protestantismus essentiell
schöpft, der er sich wesentlich verdankt. Wird diese substituiert,
stirbt das protestantische Kritikprogramm. Reformatorischer Protestantismus ist
wesentlich biblisch-theologisch fundiertes Kritikprogramm. Das "Sola
Scriptura", das "Allein die Schrift" ist das Fundament protestantischer Kritik.
Die Orientierung auf das biblische Evangelium ermöglicht dem
Protestantismus den kritischen Protest. Denn es gilt: "Evangelium und Protest
gehören zusammen." 14 Carl Friedrich von Weizsäcker nennt das
Evangelium das "revolutionärste Dokument der menschlichen Geschichte,
dessen Wahrheit dem Bewußtsein der Bürger unserer modernen
Welt langsam entgleitet."[15] Zurecht sagt
Gustav Adolf Benrath[16]: "Die Lebenskraft des
Protestantismus...beruht auf dem Zusammenhang des Protestes mit dem Evangelium:
So wie damals in der Protestation von Speyer, so gehören Protest und
Evangelium zusammen. Nur auf der Grundlage des Evangelium wird der
Protestantismus immer wieder kritische und gestaltende Kraft gewinnen."
Die kritische dynamis (= Kraft, Macht, Wirksamkeit, Vermögen) des
Wortes Gottes befähigt den Protestantismus zum kritischen Erfassen,
von dem, was ist. Ihr Lied singt der Protestantismus. "Das Wort sie sollen
lassen stahn" heißt es darum in der protestantischen "Marseillaise"
Ein feste Burg ist unser Gott". Gegründet zu sein auf die
kritische Kraft des Wortes Gottes - darauf kommt es an. Denn nach dem
Hebräerbrief (4,12) ist der Logos tou theou ( das Wort Gottes)
kritikos, d.h. mit der Fähigkeit scharf zu scheiden und zu
urteilen ausgestattetüber das, was den Menschen und alle
Kreatur ausmacht, das, was bis in seine Mitte (Herz) und Intentionen hinein den
Menschen (auch epistemologisch und ethisch) bewegt: "Denn das Wort Gottes ist
lebendig (vivus) und kräftig (efficax) und schärfer
(penetrabilior)denn ein zweischneidig Schwert und dringt durch, bis es scheidet
Seele und Geist (pertingens usque ad divisionem animae ac spiritus), auch Mark
und Bein, und ist ein Richter (kritikos) der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und keine Kreatur ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß
(nuda) und aufgedeckt (aperta) vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft (Logos)
geben müssen." Unterscheidung, Kritik ist Geistesgabe (Charisma) nach
1. Korinther 12,10 (diakriseis pneumaton)[17].
Als Gabe des Geistes Gottes gilt die urteilende Kritik der Auferbauung
(oikodome) der Gemeinde.
Der Logos tou kritikos, das kritische Wort Gottes erfordert kritisches
Verstehen der Heiligen Schrift. Dem korreliert eine kritische Hermeneutik der
biblischen Schriften im Protestantismus. Diese protestantische kritische
biblische Hermeneutik kann, nein: muß näher als kritische
christologische Hermeneutik der Heiligen Schrift verstanden werden. Von
Christus als dem "punctus mathematicus sacrae scripturae"[18] wird kritisch die Schrift verstanden.
Unkritische Hermeneutik bedeutet Eliminierung des Grundes, Verleugnung
Christi.
Rechte Theologie ist nach Martin Luther Kreuzestheologie (theologia crucis).
Für sie gilt: "Crux probat omnia."[19]Als Kreuzestheologie ist Theologie fundamental
kritische Theorie, denn der Kreuzestheologe als der durch das Kreuz Christi
kritische Theologe "sagt, was Sache ist", wie die Dinge wirklich sind,
während der unkritische "aufgeblasene" durch seine eigene
Werkgerechtigkeit blinde urteilslose "Theologe der Herrlichkeit", aufgeladen
durch die Glorie der eigenen Werke beim eigenen Ruhm bleibend, die Dinge nicht
richtig sehen kann, sondern sie in Verderben bringender Alienation verfehlt.[20] Die kritische Kreuzestheologie und nicht die
dem eigenen Leistungswerk verfallene unkritische theologia gloriae
ermöglicht Wege und Horizonte wirklicher Gottes- und Welterkenntnis.
Unkritische Theologie erledigt sich selbst. Sie ist obsolet. Sie hat ihren
"Salz-Charakter" verloren und ist damit gänzlich ohne Nutzen: "Das
Salz ist ein gutes Ding; wenn aber das Salz kraftlos wird, womit wird man's
würzen? Es ist weder auf das Land noch in den Mist nütze,
sondern man wird's wegwerfen." (Lukas 14,34f.)
Luthers zentraler theologischer Hauptartikel von der "Gerechtigkeit Gottes",
seine paulinisch orientierte Rechtfertigungslehre, von der er aus Theologie
überhaupt betreibt, substantiiert authentische Theologie als
axiomatisch theologisches Kritikon. Sein radikales theologisches
Verständnis der iustia dei ermöglicht gleichsam
unerschöpfliches Kritikpotential. So kommt es zum kritischen und damit
realistischen Verstehen des Menschen und seiner Welt. Der Mensch wird in der
Perspektive der lutherischen Rechtfertigungslehre dialektisch definiert als
"gerecht und sündig zugleich".[21]
Dieses dialektische Verstehen des Menschen und seiner Welt involviert
kritischen Zugang zur Wirklichkeit. Es entlarvt absolute Negation und absolute
Optimierung des Mensch- und Weltseins als irreales, unkritisches Verstehen von
Weltwirklichkeit. Der vor Gott sich beugende Mensch geht den aufrechten
kritischen Gang in der Menschenwelt.[22]
Der homo religiosus als der homo carnis[23] ist der (mit allem was er will hat und kann)
sich selbst als absolutes Telos begreifende und konstruierende Mensch. Seine
Verderbtheit, seine "tota perversitas" besteht nach Luther darin, daß
er "sich selbst gefallen (sibi placere) und sich selbst genießen
(fruique seipso) in seinen Werken (in operibus suis) und sich als
Götze anbeten (seque idolum adorare)" will.[24] Der religiöse Mensch als der
fleischlich orientierte ist in seinem Willen (voluntas) und in seinen Begierden
(concupiscentia) danach ausgerichtet, daß er sich selbst
genießen will und auch die Anderen und seine Götter
entsprechend gebraucht. Er sucht in allem sich selbst und das Seine. So macht
er sich selbst zum finalen Objekt und Götzen. Alles, was der homo
religiosus wagt, denkt, handelt, erleidet, dient diesem finalen Zweck. Die
ethischen Maßstäbe in bezug auf Gut und Böse werden
diesem untergeordnet, von diesem aus definiert.[25]
Durch seine fundamental kritische Theorie der Gerechtigkeit Gottes gelingt es
dem Protestantismus, den "fleischlichen" homo religiosus, den homo carnis mit
seinem meritorischen Leistungsfetischismus kritisch urteilend als den zu
entlarven der er ist, nämlich das alles in sich drehende und beugende
sich selbst idolatorische absolutsetzende Ich. Das ist der sündige
Mensch, der homo incurvatus in se ipsum.[26]
Die protestantische Fundamentalgründung auf die Gerechtigkeit Gottes
enthält die Fundamentalkritik aller frommen Plackereien. Der kritische
Protestantismus läutet die Totenglocke des religiösen
Kapitalismus. Dieser Habensmodus von Religion ist theologisch
grundsätzlich durch die Reformation erledigt. Nur schlimme, Verderben
bringende Restauration ist noch immer wieder sein fruchtbarer Schoß,
aus dem er immer perennierend wieder herauskriecht.
Der protestantischen Religionskritik eignet ein kritischer Gottesbegriff. Die
Produktion von Göttern wird durch sie kritisch aufgedeckt. Das legt
Luther sehr eindrücklich in seiner Auslegung des ersten Gebotes im
Großen Katechismus dar. Dort zeigt Luther, wie die profanen und
frommen Götter des sich selbst absolutsetzenden homo faber von diesem
(genetisch, geschichtlich, zeitlich und aktuell) produziert werden. "Worauf Du
nun...Dein Herz hängst und verläßt, das ist
eigentlich (= in Wahrheit) Dein Gott. ...Es ist mancher, der meint er habe Gott
und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und
brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf
niemanden nichts (= etwas) gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der
heißt Mammon, das ist Geld und Gut darauf er all sein Herz setzt,
welches auch der allergemeinest (= allergewöhnlichste) Abgott ist auf
Erden. ...Also auch wer darauf traut und trotzt, daß er
große Kunst (= Gelehrsamkeit), Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft
und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten einen Gott.
Das siehst du abermals dabei, wie vermessen, sicher und stolz man ist auf
solche Güter und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden oder entzogen
werden."[27]
Den Konstruktionen der Götter zum Behuf menschlicher
materieller und immaterieller Habensmodi gilt das Kritikpotential
protestantischer Religionskritik. Dietrich Bonhoeffers bekannte
Äußerungen zur Vernutzung Gottes "als
Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis" und
Möglichkeiten[28], als "deus ex
machina" 29 und "Arbeitshypothese" ratifizieren dieses: "Gott als moralische,
politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft,
überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse
Arbeitshypothese (Feuerbach!) Es gehört zur intellektuellen
Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen... . Und wir
können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der
Welt leben müssen - `etsi deus non daretur'. und eben dies erkennen
wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt
uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage
vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als
solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist,
ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der
uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott,
ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne
Gott."[30] Aus der theologischen
Perspektive ergibt sich notwendig ein kritischer Gottesbegriff, werden - wie es
in einem Choral heißt - die "falschen Götzen zu Spott".
Aller Verdinglichung Gottes wird gewehrt, denn "einen Gott, den es gibt, gibt
es nicht". Das Kritikpotential der Protestantismus wahrt die Differenz zwischen
Gott und Mensch und deckt radikal alle divinatorischen Usurpationen des
Menschen auf und entlarvt sie als Konstruktionen des Ichs und seiner Welt.
"Gott" als Absolutum des (Welt)Seienden ist nicht Gott, sondern der sich selbst
absolut setzende Menschen, der sich sozusagen als Übermensch
vergötzt. Theologisches Erkennen bedarf analytisch perennierend des
protestantischen Kritikpotentials bei seiner Rede von Gott.
"Der Mensch ist das Wesen, das weiß, daß es
selbst...ein `Ich', ein einmalig besonderes und also individuelles Subjekt
ist", "daß jeder Mensch ein solches `Ich', jeder Mensch selbst
Subjekt ist". "Subjekt, ein [[yen]]Ich` zu sein,...gilt
einschränkungslos von jedem Menschen..., auch für denjenigen,
der es etwa aufgrund einer schweren Schädigung vermutlich nicht selbst
von sich weiß." "Dies nun, selbst etwas zu sein, das die
Würde des Menschen: die unantastbare, nur zu achtende
Würde, Person zu sein."[31]
Leidenschaftliches Eintreten für Individualität ist dem
reformatorischen Protestantismus fundamentales Charakteristikum.. Die
unverwechselbare Originalität des Einzelnen, des Ichs ergibt sich ihm
aus der personalen Gottesbeziehung des Glaubens. Der Einzelne ist hier
unvertretbar. Er kann nicht durch die Masse ersetzt werden. Die Würde
des Ichs verdankt sich der originären Eigenwirklichkeit des Ichs.
Kollektivierungen des Ichs führen zu dessen Einengung. Qua Vermassung
werden perennierend Sterben und Tod des Ichs installiert und verwirklicht. Wo
die Menge, wo die Kollektivitäten von Kirche und Staat das Ich
aufsaugen, das Ich vertreten und substituieren, meldet sich der protestantische
Protest. Die Stärke des Protestantismus liegt in seiner kritischen
Individualkultur. Die Würde des Ichs ist prinzipiell unantastbar. Es
gibt keine Größe, die das Ichs vertreten könnte.
Der Mensch verliert seine Essenz, wird er seines Ich beraubt, wo er zum nur
kollektiven Wesen degeneriert.[32] Die Konturen
des Ichs in den Existenz- und Wirklichkeitsbezügen des Menschen und
seiner Welt prägend werden lassen, darin hat der Protestantismus
Alltäglichkeitstradition. In der protestantischen Individualkultur
stehend hat Sören Kierkegaard unüberhörbar die
Bedeutung des Ichs einseitig profiliert hervorgehoben: "`Der Einzelne', das ist
die christlich entscheidende Kategorie, und sie wird auch für die
Zukunft des Christentums entscheidend werden. Der Einzelne, mit dieser
Kategorie steht und fällt die Sache des Christentums". Der Satz atmet
und west aus dem protestantischen Individualpathos.[33] Im sich selbst bewußtwerdenden Ich
alles zu erkennen und zu schauen, darin erblickt zurecht Hegel protestantisches
Prinzip, wie er es z.B. auch bei Jakob Böhme findet: "Was
Böhme auszeichnet..., ist das...protestantische Prinzip, die
Intellektualwelt in das eigne Gemüt hereinzulegen und in seinem
Selbstbewußtsein alles anzuschauen und zu wissen und zu
fühlen, was sonst jenseits war."[34]
Das Ich als der je Einzelne repräsentiert, vielmehr: ist für
den Protestantismus die entscheidende Wirklichkeitskategorie. Das hat
Kierkegaard auf seine existenzialphilosophische Weise ratifiziert.
So leidenschaftlich und oft kompromißlos der Protestantismus auch
darauf aus ist, dem Einzelnen gegenüber den Kollektivitäten
Raum zu geben und das Ich aus seinen kollektiven Entfremdungen zu befreien, so
gilt protestantisches Kritikpotential zugleich auch dem Ich selbst.
Fundamentale Kritik an den Selbstentfremdungen des Ichs ist ein Hauptfeld
protestantischer Kritik. Das in sich selbst verkrümmte (incurvatus in
se ipso), das ist das sündige Ich, gebiert ständig
Substantialentfremdungen. Indem das Ich alles in sich selbst hineinbeugt, ist
es zerstörend für das Andere. Das Ich isoliert im Habensmodus
in bezug auf das Außer-ihm-seiende. Das nichtdialogische, um mit
Feuerbach zu sprechen, nicht "poröse Ich" ist Menschen und Welt
zerstörerisch. Haben und Sein, ich bin und ich habe, gehören
zusammen. Protestantische Kritik gilt der Vergötzung des eigenen Ich,
den Glorifizierungen des eigenen Wissens, Könnens und Handelns.
Wissen, Können und Handeln des Ichs haben ihren auf das Wohl des
Menschen begrenzten Ort. Hier sind sie effektiv und leistungsorientiert
einzubringen. Ihre Potentialitäten sind aber nicht tauglich
für das Heil der Menschen, also soteriologisch inkompetent, nicht
brauchbar. Der protestantische Protest gilt der Werk-Leistungs-Verblendung:
Heil zu konstruieren und zu schaffen. Er ist das Ende des soteriologischen
Solls und damit die Befreiung des Menschen und seiner Handlungen zu legitimem
und effizientem Welthandeln. Der superbia, dem soteriologischen Hochmut des
seine Grenzen überschreitenden Ich wird so tatsächlich der
Boden entzogen. Das in sich gekehrter Selbstliebe (dem amor sui) gefangene Ich
wird aufgebrochen, geöffnet und befreit aus der vermaledeiten
iterativen Selbigkeit.
Protestantische Kritik gilt ferner dem resignativen Ich. Das resignative Ich
ist das in zersetzender Sorge um sich selbst geleitete Ich. Durch die Sorge um
sich selbst teleologisch orientiert wird dieses so sich in seiner Sorge
domestizierte und sich einrichtende Ich zum kritiklosen. Die Sorge um sich
selbst macht das Ich blind für die eigene Existenz. Die Kritik an
letzterer wird zersetzt durch die Totaldominanz der Sorge in dem durch die
Sorge entfremdeten Ich. Erstickt durch die Sorge und ihre Begierden verliert
das Ich den kritischen Blick auf sich selbst. Indem sich die Sorge absolut
setzt, stirbt das Kritikpotential des Ichs.
Dem sich selbst absolut setzenden Ich gilt die protestantische Kritik.
Dieses Ich beachtet nicht seine Endlichkeit. Dem unendlichen absoluten Ich
stellt der Protestantismus den endlichen Menschen gegenüber. Denn
Alles hat seine Zeit: "Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben
unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat
seine Zeit/...abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;/ weinen hat seine
Zeit, lachen hat seine Zeit;/ klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine
Zeit/...behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit/...schweigen hat
seine Zeit, reden hat seine Zeit;/ lieben hat seine Zeit, hassen hat seine
Zeit;/ Streit hat seine Zeit , Frieden hat seine Zeit." (Pred. Salomo 3,1ff).
Protestantismus mahnt die Endlichkeit des Menschen an. "Mitten wir im Leben
sind von dem Tod umfangen" singt die christliche Gemeinde. Das Nein gilt dem
Verdrängen der Endlichkeit und des Todes des Menschen. "Denn es geht
den Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er." (Pred. 3,19).
Protestantische Frömmigkeit ist auch Kultur der Endlichkeit (vgl. den
hohen Stellenwert von Karfreitag, Totensonntag, Bußtage). Die
Endlichkeit des In-der-Welt-Seienden ist diesem nicht nur tangential, sondern
wesentlich. Sie ist bestimmend für dieses.[35]
Seit Luther ist die aufgeklärte Vernunft und
Mündigkeit irreversibel geltend.[36]
Und in der Tat Luther hat der Vernunft in bezug auf das In-der-Welt-seiende
höchste Stellung zu erkannt: "Es ist gewiß wahr (sane
verum), daß die ratio von allen Dingen das Haupt (caput) und
gegenüber den übrigen Dingen dieses Lebens das Beste
(optimum) und gleichsam etwas Göttliches (divinam quiddam) ist. Sie
ist die Erfinderin (inventrix) und Lenkerin (gubernatrix) aller Wissenschaften
(omnium Artium), der Medizin, des Rechts und in Bezug auf das, was in diesem
Leben an Weisheit (sapientia), Vermögen (potentia), Kraft (virtus) und
Herrlichkeit (gloria) von den Menschen besessen wird (possidetur). Von daher
muß sie mit Recht die differentia essentialis genannt werden, durch
die der Mensch konstituiert wird (constituatur homo), unterschieden (differre)
von den anderen Lebewesen (ab animalibus) und Dingen (rebus). So hat sie auch
die Heilige Schrift als Herrin (domina) über die Erde eingesetzt
(constituit)."[37] Freisetzung der weltlichen
Vernunft, als profane effiziente Rationalität in der Gesellschaft -
das ist hier reformatorisch im Visier. Profane Vernunft gilt als domina in den
Weltbezügen. Der denkende, der die Vernunft gebrauchende Mensch ist
das Subjekt der Weltverantwortung. Die ratio evidens[38], die klare, einleuchtende Vernunft, dient als
Konstitutivum des Menschseins , als nur dem Menschen eignendes
Vermögen fundamental der menschlichen weltlichen Lebensgestaltung. Als
"Lenkerin aller Wissenschaften" ist die Vernunft darauf aus, effizient gut
menschliches Leben zu orientieren, ordnen und zu gestalten.[39]
Legitimer Ort der Vernunft, der actio rationis ist exklusiv die profane Welt
des Menschen.[40] Kritischer Protestantismus
achtet streng darauf, daß Vernunft weltliche und damit endliche
Vernunft bleibt, darauf daß, die Vernunft nicht zur soteriologischen
"Hure"[41] wird. Entweltlicht wird die Vernunft
durch den entfremdeten, alles in sich beugenden, d.h. sündigen
Menschen. Dieser vergißt die Endlichkeit der Vernunft, verliert ihren
Ort, in dem er sie losreißt von ihrem Weltbezug. Die Disrelation und
damit verbunden die (hohlen) Eigenmächtigkeiten und
Selbstherrlichkeiten der alienierten, der entgrenzten Vernunft entfremden die
Vernunft ihres Fundamentalortes Welt, denn es gilt: Ratio "non potest ad
invisibila se transferre."[42] Die ihrer
Weltlichkeit entfremdete, die ihre Grenze verlierende Vernunft ist die sich
selbst metaphysisch diskreditierende Vernunft. Das hat Kant, der - wie er
bekanntlich zuweilen genannt wurde - "Philosoph des Protestantismus"[43] in seiner "Kritik der reinen Vernunft"
eindrücklich philosophisch demonstriert. Nur die sich ihrer Grenzen
bewußte Vernunft ist kritische Vernunft. Die Philosophie als
"Grenzpolizei" habe auf das Beachten der Grenze der Vernunft zu achten. Eine
die Grenzen der Vernunft nicht achtende, sondern diese verschleierende und
anscheinend überschreitende Philosophie disqualifiziert sich selbst
und verliert ihre Legitimität, indem sie sich in metaphysischer
Entfremdung domestizierend einrichtet und sozusagen - metaphorisch gesprochen -
unkritisch stirbt. Paul Tillich[44] sagt,
daß protestantische Kritik als volle prophetische Kritik "die
rationale Kritik enthält und zur Tiefe und zur Grenze treibt."
Die neuzeitliche Skepsiskultur wurzelt in der protestantischen Kritik an der
Vergötterung der sich selbst unkritisch anbetenden ihre Endlichkeit
leugnende Vernunft. In der protestantischen Kritikkultur hat die Skepsiskultur
ihre Heimat. Sozusagen idealtypisch könnte das im
skeptisch-prüfenden, der Endlichkeit des Menschen fundamental
korrelierenden mit seinem "Abschied vom Prinzipiellen", dem Dogmatismus sich
verweigernden philosophischen Denken Odo Marquards exemplifiziert werden. Von
der suchenden Skepsis, nicht von der akademischen "spieltriebhaft unentwegt
alles bezweifelnden" Skepsis ist hier die Rede, sondern derjenigen der
"tugendhafte(n) Mitte" zwischen "dem absoluten Wissen und dem absoluten
Nichtwissen".[45] Die drei Charakteristika
dieser Skepsis: 1. Gewaltenteilung[46], 2.
"Usualismus"[47] und 3. "Bereitschaft zur
eigenen Kontingenz"[48] atmen essentiell
protestantisch kritischen Geist.
Vernunft hat teilzunehmen an der kritischen Suche nach Wahrheit und
Wirklichkeit. Sie ist nicht Wahrheit und Wirklichkeit selbst, sondern
unverzichtbares Instrumentarium der Suche nach ihnen. Denn diese zu entdecken,
ist nun auch das, was Wissenschaft aufgegeben ist. Fundamental ist Wissenschaft
auf Wahrheit, wie Gerhard Stammler sagt "aletheiokratisch"[49] verwiesen. Protestantismus beharrt
unerbittlich auf der "Geltungsinvarianz der Wahrheit", die unabhängig
"von einer bestimmten Frist und einem bestimmten Ort"[50] Protestantisch ist auf der
Geltungsinvarianz der Wahrheit jedermann gegenüber an jedem
Ort, zu jeder Zeit zu beharren. Kritisches Anmahnen der Geltung von Wahrheit
ist dem protestantischen Prinzip analytisch, d.h. ohne dieses wird es
substantiell geschädigt. Stammler hat recht: "Das Wahrsein des Wahren,
der Tatbestand, daß das Wahrseiende im Sinne der Wahrheit
gilt, ...ist unabhängig von einer bestimmten Frist."[51] Wissenschaft hat ihrer aletheiokratischen
Verwiesenheit unbedingt Folge zu leisten. Protestantismus stellt Vernunft und
Wissenschaft in strenge Wahrheitszucht. Wissenschaft ist substantiell, wenn sie
denn legitime Wissenschaft, d.h. dem Menschen hilfreich sein will beim Erkennen
von Wirklichkeit, auf Wahrheit angewiesen, denn "Wissenschaft ist
Selbstentfaltung der Wahrheit in die Mannigfaltigkeit der Ordnungsstrukturen
bis in die Sachgehalte als Einzelwahrheiten, also bis in die Fülle der
Erkenntnisse."[52] Der Protestantismus
insistiert streng: Auf das Bleiben in der Wahrheit kommt es an. Das ist die
protestantische Perspektive, denn es gilt Johannes 8,32: "Ihr werdet die
Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." Vernunft ist
protestantisch immer auf Wahrheit hin unterwegsseiende Vernunft. Wo die
Vernunft sich ihrer aletheiokratischen Verwiesenheit entzieht und sich in
unkritischer Selbstanbetung verliert, wo sie transzendent aufgebläht,
ihre Endlichkeit tötend für alles steht wird sie zur
schlimmen unvernünftigen Vernunft = grenzenlosen Unvernunft.
"Erst mit Luther begann" nach Hegel "die Freiheit des Geistes, im Kerne: und
hatte diese Form sich im Kerne zu halten."[53]
Nukleare Freiheit des Geistes wird durch das Kritikpotential des
Protestantismus dem Menschen gegründet eröffnet. Die Freiheit
des Geistes wird dem Einzelnen, dem Subjekt vindiziert. Dem durch die
soteriologisch aufgeladenen Autoritäten sich in diesen verlierenden
oder zumindest nivellierten einzelnen Menschen wird durch die lutherisch
reformatorische "Hauptrevolution" Exodus "aus dem Jenseits der
Autorität", "der unendlichen Entzweiung und der greulichen Zucht" als
Artikulation des persönlichen Gottesglaubens verordnet. "Aus dem
Jenseitigen wurde so der Mensch zur Präsenz des Geistes gerufen",
selbstinvolviert in die Versöhnung des Geistes.[54] Das Subjekt erhält in der
Reformation seine "höchste Bewährung" in der
"religiösen Bewährung" und zwar fundamentalkonturiert so,
"daß dies Prinzip der eigenen Geistigkeit, der eigenen
Selbständigkeit erkannt wird in der Beziehung...zu Gott."[55] Das fundamentale Prinzip der
Subjektivität, die Freiheit, wird nach Hegel durch die Reformation zum
Konstitutionellen der Religion (gen. sub. und object.). "So ist hier das
Prinzip der Subjektivität, der reinen Beziehung auf mich, die
Freiheit, nicht nur anerkannt: sondern es ist schlechthin gefordert,
daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion. Dies ist die
höchste Bewährung des Prinzips, daß dasselbe nun
vor Gott gelte, nur der Glaube des eigenen Herzens, die Überwindung
des eigenen Herzens nötig sei; damit ist denn dies Prinzip der
christlichen Freiheit erst aufgestellt und...zum wahrhaften
Bewußtsein gebracht worden. Es ist damit ein Ort in das Innerste des
Menschen gesetzt worden, auf den es allein ankommt, in dem er nur bei sich und
bei Gott ist; und bei Gott ist er nur als er selbst, im Gewissen soll er zu
Hause sein bei sich. Dies Hausrecht soll nicht durch andere gestört
werden können; es soll niemand sich anmaßen, darin zu
gelten."[56] Konstitutiv wird durch das
reformatorische Verstehen von Glauben Freiheit des Subjekts eröffnet.
Die Freiheit des Einzelnen ist das punctum saliens der Freiheit in
protestantischer Sicht. Diesem Raum und Geltung zu verschaffen, ist gutes
traditionelles Pathos des Protestantismus. Diese protestantische Alltagskultur
der Freiheit des Subjekts aus der Freiheit des Glaubens heraus gilt es, immer
aktuell profiliert gesellschaftlich einzubringen.
Freiheit, so urgiert der Protestantismus, ist auch Gewissensfreiheit. Die
Gewissensfreiheit des Einzelnen ist unantastbar. "Gegen das Gewissen zu
handeln, ist weder sicher noch recht", sagt Luther auf dem Reichstag zu Worms
(1521) Kaiser Karl V.[57] Das Gewissen des
Einzelnen ist axiologisch frei in seiner Souveränität
gegenüber den weltlichen und kirchlichen Machtinstitutionen. Integeres
Menschsein und integeres Gewissen korrelieren. Der homo integer kann sich nicht
verabschieden von der conscientia integra. Das protestantische Kritikpotential
wendet sich gegen kollektivistische Usurpationen und damit Elimination des
Gewissens. Es wacht vehement darüber, daß die Freiheit des
Gewissens des Einzelnen weder parallelisiert noch eliminiert wird. Die
Königlichkeit des und der Respekt vor dem Gewissen des Einzeln gilt.
Aber die Gewissenskultur des Protestantismus ist eine kritische. Keine
Idealisierung und utopistische Meliorisierung des Gewissens ist angesagt. Es
gibt das verzagte, das in Angst und Zweifel gefangene Gewissen. Wo das Ich sich
dem Gewissen aussetzt, wird das anklagende Gewissen erfahren. Das Versagen des
Einzelnen wird unüberhörbar im Gewissen des Einzelnen
artikuliert. Ebenso verschafft sich das böse Gewissen Raum, von dem
Luther sagt, daß es die Hölle sei.[58] Diese Hölle des Gewissens kann durch
das in Christus getröstete Gewissen effektiv besiegt werden.[59]
Freiheit darf aber nicht als isolierte Ich-Freiheit
mißverstanden, Freiheit nicht mit "Bandenlosigkeit" (Kant)
verwechselt werden. Freiheit in Gebundenheit - lautet die protestantische
Definition der Freiheit. So heißt es in Luthers bekannter
dialektischer Bestimmung von Freiheit in seinem Freiheitstraktat: "Ein
Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand
untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und
jedermann untertan." 60 Calvin hat also recht, wenn er unter Hinweis auf 1.
Korinther 10,23 schreibt, daß unsere Freiheit nur zu gebrauchen ist,
"wenn sie einhergeht mit der Erbauung unseres Nächsten. Ohne den
Nächsten kann sie sich nicht entfalten, ist sich ihrer zu
enthalten."[61] Freiheit ohne Verpflichtung ist
für den Protestantismus nicht denkbar. Verpflichtende Freiheit,
Freiheit in Verantwortung, das freie Ich als das personal auf andere bezogene
können bei der Evaluation von Freiheit nicht übergangen
werden, denn nur in dieser responsorischen Freiheit kann diese sich als
wirkliche entfalten. Helmut Hild[62] ist von
daher zuzustimmen, wenn er sagt: Kants Kategorischer Imperativ ("Handle
so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne!") "ist ebenso ein
Ergebnis protestantischen Denkens wie der moralische Rigorismus Lessings, die
preußische Pflichtenethik oder die Entscheidung Dietrich Bonhoeffers,
an der Beseitigung des Tyrannen mitzuwirken."
Leeren Freiheitsattitüden und hohlem Freiheitspathos gilt die strenge
Kritik des Protestantismus. Kritisch werden sie enthüllt als
Desavouierung, ja als Töten von Freiheit, als ideologische Schemen
eines versklavten sich selbst fetischistisch vergötzenden Ich, eines
Ichs in tiefer Unfreiheit. Kritik an materialistischen, idealistischen,
positivistischen, fidestisch-fundamentalistischen etc. Engführungen
und Eliminationen von Freiheit ist andauerndes notwendiges "Geschäft"
des Protestantismus.
"Die moderne Welt kann weitgehend als Ergebnis einer Säkularisierung des Christentums verstanden werden."[63] Säkularisierung ist (im Gegensatz zur ideologischen Säkularisation) ,wie insbesondere bekanntlich Friedrich Gogarten urgiert hat, legitime Folge des christlichen Glaubens. Im jüdischen und christlichen biblisch korrelierten Glauben kommt es zur Entsakralisierung der Welt, was sich schon im sogenannten priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Genesis 1-2,4) aufzeigen läßt. Gott gewollte legitime Weltlichkeit - das schleudert der Protestantismus der klerikal machtpolitisch in sich selbst gefangenen mittelalterlichen Kirche entgegen. Aufgabe der Kirche Jesu Christi ist es, daß Evangelium zu verkündigen. Es gilt das "no vi, sed verbo". Den unerträglichen klerikalen Vormundschaften wird der Todesmarsch geblasen. Politik, Kultur, Wissenschaft werden prinzipiell aus den Fängen einer Macht vergötzenden und damit dem Evangelium entfremdetenden Kirche, die theologisch verkommen und entartet fundamental die theologia crucis verleugnet und substantial theologia gloriae ist, durch die Reformation befreit zu ihrer gottgewollten säkularen Existenz. Protestantisch angesagt ist durative Entsakralisierung des Menschen und seiner Welt. Sakralisierung der Welt ist das wirkliche Sakrileg. Die lutherische Zweireichelehre[64] mit ihrem Differenzierungpotential beseitigt die klerikale Bevormundung der weltlichen Existenz, von Staat und Gesellschaft. Das klerikal bevormundete unmündige Subjekt, der klerikal versklavte Staat, die klerikal hörige Gesellschaft sind prinzipiell an ihr -Gott sei gedankt! - unwiderrufliches Ende gekommen. Mit der lutherischen Zweireichelehre sind Theokratie, Religionisierung des Menschen und seiner Welt und weltlicher Macht überhaupt theologisch ein für alle mal erledigt. Das gleiche gilt für jegliche Metaphysierung von Staat und Gesellschaft. Kritisch werden Staat und Gesellschaft bei ihrer Profanität behaftet. Gemäß der Zweireichelehre ist es Aufgabe des Staates, effektiv Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen und dem Bösen zu wehren. Mehr vermag und soll er nicht leisten. Das "Wächteramt der Kirche" besteht nicht darin, Staat und Gesellschaft in klerikale Abhängigkeiten zu bringen, sondern darin, auf die Weltlichkeit und Vernünftigkeit derselben zu orientieren. Indem das protestantische Prinzip jeglicher Metaphysierung des Staates grundsätzlich wehrt, ist der Protestantismus prinzipiell obrigkeitskritisch. Diese prinzipielle Obrigkeitskritik bedeutet aber keine Desavouierung des Staates und seiner Institutionen, sondern die prinzipielle Obrigkeitskritik gilt dem sich selbst absolutsetzenden, dem alles-sein-wollenden und beanspruchenden Staat. So gesehen hat der frühere Kirchenpräsident Helmut Hild recht, wenn er schreibt: "Obrigkeitshörigkeit entspricht nicht protestantischer Geisteshaltung. Daß sie sich dennoch im protestantischen Umfeld besonders kraß entwickeln konnte, gehört zu dem Widerspruch von Prinzip und Wirklichkeit"[65]. Protestantische Obrigkeitskritik äußert sich dann notwendigerweise in dem Maße, wie es zu (säkularen und religiösen) Absolutsetzungen des Staates und seiner Institutionen kommt. Den Unvernünftigkeiten in ihnen muß protestantischerseits kritisch begegnet werden. Der Wagen dieser Unvernünftigkeiten darf nicht kirchlich gut geschmiert werden, damit er seine gemeinschaftlich verderbliche Fahrt ungehindert fortsetzen kann. Hier gibt es ein protestantisches Kritikpotential. Hier ist der Protestantismus, oft noch verschärft durch Konfliktradikalisierung ein unbequemer Partner. Er hat opportunistischer Anpassung an den Zeitgeist zu widerstehen. Nicht verfrühte (d.h. Konflikte nichtaustragende, sondern verschleiernde) Versöhnung ist protestantisch gefragt, sondern die vom Evangelium sich ergebende befreiende Auseinandersetzung. "Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!/ Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben euch erwerben zu müssen!/ Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!/ Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet./ Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!"[66]. Protestantische Gesellschaftskritik darf aber nicht verkommen zu individualer Institutionenphobie. Sie dient dem "Wohl" und nicht der Destruktion der in gesellschaftlichen Institutionen lebenden Menschen. Sie "sucht", wie es in dem oft mißbrauchten biblischen Wort heißt, tatsächlich "der Stadt Bestes" (Jer. 29,7). Protestantisches Kritikpotential entfaltet sich auch beim Aufdecken von Schuld in bezug auf Individuum und Gesellschaft. Das wird ihm theologisch ermöglicht durch profilierte protestantische Sündenlehre. Eine Gesellschaft, die die Schuld relativiert, überspielt oder eliminiert, sie vergangenheitsorientiert, aktualistisch oder futuristisch-utopistisch verdrängt, beschädigt nicht nur das Menschsein, sondern ist eine inhumana societas. Menschliche Gemeinschaft und menschliches Individuum realisieren sich in ihrem In-der-Welt-sein nicht ohne die "Produktion" von Schuld. In diesem Sinne sind sie "Mängelwesen". Protestantische Kritik gilt unerbittlich der die Schuld des Menschseins parallelisierenden societates perfectae und ihrer Projektion des homo perfectus. Wo der "Fehl" von menschlicher Gesellschaft und menschlichen Individuum nicht anerkannt wird, sondern illusionär die Wirklichkeit verdrängend der in seinem Weltsein auch schuldige Mensch dem Konstrukt nicht-schuldiger Mensch geopfert und damit der illusionäre "Übermensch" bestimmend wird, kommt es oft zu terroristischen Destruktionen des Menschen und seiner Welt. Scheitern, Verstrickungen, immer neue und alte Konstruktionen des Absurden sind realistisch zu diagnostizieren und zu verorten. Das Kreuz der Wirklichkeit, der immer neue alte Adam prägen nun einmal menschliche Gesellschaft. Ihnen auszuweichen, sie zu bagatellisieren und zu verkennen, läßt protestantische Kritik nicht zu. Sie mahnt, realistisch mit der Schuld um zu gehen, individual und gesellschaftlich; wenn auch auf dem Individualen der protestantische Schwerpunkt liegt.
Protestantisches Kirchenverständnis ist essentiell kritisch. Kirche ist Kirche, wenn sich in ihr das Kritikpotential des Glaubens gestaltend darstellt. Reformatorisch ist Kirche nur dann Kirche, wenn ihr gegenüber sich Kritik artikuliert, denn die Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie ständig kritisch reformiert wird: "Ecclesia semper reformanda est". Sacrosanta ecclesia ist protestantisch gesehen eine contradictio in adiecto. Opportunistische unkritische Anpassungen an die Kirche als Institution widersprechen dem protestantischen Prinzip. Auch hier geht es richtig verstanden nicht um das Infragestellen der Kirche als Institution überhaupt, sondern um die Kritik an der Absolutsetzung von Institution zum Schaden des Subjekts. Der frühere Kirchenpräsident der Evangelische Kirche von Hessen/Nassau Helmut Hild hat recht, wenn er schreibt: "Der Protestantismus ist .. kirchenkritisch, insofern er der in der kirchlichen Institution naheliegenden Versuchung, sich als totalitäre Religionshüterin zu verstehen, entgegentritt. Solange das protestantische Prinzip in der Kirche wirkt, wird sich die Kirche selbstkritisch erneuern können."[67] Das Kritikpotential des Protestantismus trifft den Protestantismus selbst. Keine pfäffische, pharisäische Kritik, die den anderen, die und das andere trifft, das eigene aber verschont, ist protestantische Kritik. Nein, es muß heißen: Tua res agitur. Unerbittlich ist der Protestantismus seinem kritischen Potential selbst ausgeliefert. Das eigene Versagen und die eigene Schuld in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (sic!) ist realistisch zu benennen, so auch die opportunistischen Anpassungen an die Obrigkeiten[68] und ihre Herrschaftsinstrumente mittels einer falschverstandenen Zweireichelehre[69]. Die unkritischen frommen Vermarktungen und Fetischisierungen des eigenen Ichs, der eigenen Freiheit, der eigenen Vernunft, die üblen Vernutzungen der Gesellschaft etc. sind in foro dei et hominis deutlich gemäß der aletheiokratischen Verwiesenheit aufzudecken. Der Widerspruch zwischen protestantischen Prinzip und Wirklichkeit ist in seinen harten Brüchen unkaschiert erkennbar werden zu lassen. Der perennierende Verrat des kritischen Glaubenspotential ist nüchtern zu diagnostizieren und qua Metanoia kathartisch ihm zu begegnen. Der Protestantismus bedarf der dauernden Artikulation des kritischen Glaubenspotentiales. So ist und bleibt für den Protestantismus wesentlich der kritische Zu- und Umgang in Bezug auf die Wirklichkeiten des Menschen und seiner Welt. Diese Kritikkultur des Protestantismus eröffnet perennierend Horizonte.
[1] Karl R. Popper, Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde, II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die
Folgen, München 19754, 341.
[2] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 856.
[3] Theodor W. Adorno, in: Kritik. Kleine Schriften zur
Gesellschaft, Frankfurt/Main 1971, 11, zitiert nach Claus von Bormann, Kritik,
in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, herausgegeben von Hermann Krings,
Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, Studienausgabe Bd. 3,
München 1973, 807-823, hier: 808.
[4] Cl. von Bormann, a.a.O., 807.
[5] Aristoteles, De part. an. I 1, 639a 6ff., zit. Cl. von
Bormann, a.a.O., 807.
[6] Vgl. Udo Kern, Zum Charisma der
Rationalität, in: Theol. Lit.ztg. 112 (1987) 865-882, hier: 867f.
Vgl. Cl. von Bormann, a.a.O., 812f, der aber nicht präzise das
aristotelische Material einbringt.
[7] Aristoteles, Nik. Eth. 1111 b 6.
[8] Nik. Eth. VI 11f., bes. 1143 a 8-10 u. 23.
[9] Für Plato ist bekanntlich Erinnerung
philosophisch fundamental. "Aanamnesis, Wiedererinnerung,
Schlüsselbegriff der Platonischen Philosophie, eingeführt
im `Menon'..., wird für Platon dadurch fundamental, daß er
sie als ermöglichenden Grund formeller `vernünftiger' Erkenntnis
überhaupt auslegt, sie...als Konstitutionsproblem der Vernunft
thematisiert." (Johannes Baptist Metz, Erinnerung, in: Handbuch philosophischer
Grundbegriffe [[vgl.. oben Anm. 3], Bd. 2, 386-396, hier: 387).
10] Der Name Protestantismus geht zurück auf die
"Protestation" sechs evangelischer Fürsten und vierzehn
oberdeutscher Städten am 19.4.1529 gegen die Aufhebung des
Speyrer Abschieds von 1526 (Jeder Reichstand verfahre bezüglich des
Wormser Edikts [1521: Reichsacht über Luther und
Anhänger] so "wie er das gegen Gott und kaiserliche
Majestät hoffe und vertraue zu verantworten". Die evangelischen
Stände sahen in diesem Reichtagsabschied, der
"tatsächlich nur eine neue Vertagung der Ausführung des
Wormser Edikts" bedeutete, "die rechtliche Grundlage zu kirchlichen Reformen in
ihren Territorien".[Karl Heussi, Kompedium der Kirchengeschichte, Berlin
195811, 302] ). "Von seinem Ursprung in der Protestation von Speyer entfernt
und von seiner...reichsrechtlichen Verwendung gelöst, gewannen...die Worte
`Protestanten' und `protestantisch' im westeuropäischen,
insbesondere im angelsächsischen Raum einen weiteren, umfassenden
Sinn. Als `Protestanten' bezeichnete man hier im 17. Jahrhundert die Glieder
aller christlichen Gemeinschaften in Europa, die aus der Reformation
hervorgegangen waren und die der bleibende Gegensatz gegen die römische Kirche
vereinte; in diesem Sinn sprach das englische Parlament gelegentlich von `all
the Protestant Churches in Christendom' (1629). Auf demselben
angelsächsischen Boden und mit derselben antirömischen
Blickrichtung wurde...auch der abstrakte Begriff `Protestantism' (John Milton,
1649) geprägt und verwendet." (Gustav A. Benrath, Protest,
Protestation, Protestantismus, in: Gustav A. Benrath, Roman. Roessler, Helmut
Hild [Hgg.], Der Protestantismus als kritische Kraft, Göttingen 1979, 7-26,
hier: 20).
[11] Der Begriff verwandten bekanntlich auch Hegel
(Vorl.ü.d.Gesch.d.Phil., 3.Bd., 223) und Paul Tillich.
[12] Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart
19562, 264.
[13] Auch Goethe hat auf seine Weise um das kritische
Protestpotential des Protestantismus gewußt. Zum 300.
Reformationsjubiläum 1817 dichtete er: "Auch ich soll Gott
gegebene Kraft/ nicht ungenutzt verlieren/ und will in Kunst und Wissenschaft/
wie immer protestieren." (Zitiert bei Benrath, a.a.O., 23)
14 Gustav Adolf Benrath, a.a.O., 9.
[15] Weizsäcker, Die Tragweite der
Wissenschaft, I, 1966, 184.
[16] A.a.O., 25.
[17] Vgl. U. Kern, a.a.O., 867 und 872.
[18] Luther, WA Tr 2, 439,25f.
[19] AWA 2, 325,1 ( = WA 5,179,31), "was sowohl `das Kreuz
stellt alles auf die Probe' wie das Kreuz bewährt alles' heißt."
(Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in
ihrem systematischen Zusammenhang,, Göttingen 1995, 52)
[20] Martin Luther, Studienausgabe (StA), hg. v. Hans-Ulrich
Delius, Berlin 1979ff., Bd. 1, 208: "Theologus gloriae dicit, Malum bonum, (et)
bonum malum, Theologus crucis dicit, id quod res est." Vgl. die sich an diese
21. These der Heidelberger Disputation von 1518 anschließende
Beweisführung der These (ebenda 208f.).
[21] "...simul iustus et simul peccator, peccator scil. re
vera, sed iustus ex fide promissionis et spe implecionis". (WA 57, 165,12f.).
[22] Das äußert sich auch im Kritik und
Protestpotential des protestantischen Chorals: "Ein feste Burg ist unser Gott
ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat
betroffen".
[23] "Der Mensch ist als `Fleisch' gerade auch in seiner
Geistigkeit, mit seinem `Herzen', seiner Seele, `mit seinen besten und höchsten
Kräften' (WA 18, 743,3; 744,7), also gerade in seinem Ethos und
in seiner Frömmigkeit, als homo religiosus." (Paul Althaus, Die
Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 138f.).
[24] WA 1, 358,5-7. "...omnia incurvata, ich such an Gott,
an allen creaturn, quod mihi placet." (WA 40 II, 325,7f.).
[25] "Hec est prudentia, que dirigit carnem i.e.
concupiscentiam et voluntatem propriam, que se ipso fruitur et aliis omnibus
utitur, etiam iipso Deo: se in omnibus querit et sua. Hec facit hominem esse
sibi ipsi obiectum finale et ultimum et idolum, propter quem ipse omnia agit,
patitur, conatur, cogitat, dicit, et es losa reputat bona, que sibi bona sunt,
et ea sola mala, que sibi mala". (M. Luther, Rm. II 189,2 ed. J. Ficker, zit.
Hans-Joachim Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte
und Eschatologie, Neukirchen 1983, 81 Anm. 8).
[26] Vgl. WA 56, 304,25-29 und WA 56, 355,28-356,6.
[27] BSLK 560f.
[28] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung,
München 19556 , 210
29 Bonhoeffer, a.a.O., 242.
[30] Bonhoeffer, a.a.O., 240f.
[31] Traugott Koch, Zehn Gebote für die Freiheit.
Eine kleine Ethik, Tübingen 1995, 34f.
[32] "Der Protestant weiß, daß der Mensch zwar zur
Gemeinschaft berufen, aber kein kollektives Wesen ist." (Helmut Hild,
Protestantismus - seine Verantwortung für morgen, in: Gustav A.
Benrath, Roman Roessler, Helmut Hild, Der Protestantismus als kritische Kraft,
Göttingen 1979, 41-60, hier: 51) Der Mensch ist nicht primär und
nicht nur wie Marx in seiner bekannten 6. Feuebachthese urgiert "das ensemble
der gesellschaftlichen Verhältnisse"(Marx/Engels, Werke, Bd. 3,
Berlin 1958, 6), sondern er ist dieses auch.
[33] "Ein Christ ist eine Person für sich selbst,
er glaubt für sich selbst und sonst für niemand". (WA 19,
648,19f.). Wir haben "in jeder für sich selbst alleine" zu glauben.
(WA 10 II, 90,21f.).
[34] G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie. Bd. III, Leipzig 1971, 223.
[35] "Wenn wir von den Dingen sagen, sie sind
endlich, so wird darunter verstanden, daß sie nicht nur eine Bestimmtheit
haben, die Qualität nicht nur als Realität und
ansichseiende Bestimmung, daß sie nicht bloß begrenzt sind, - sie haben so
noch Dasein außer ihrer Grenze, - sondern daß vielmehr das Nichtsein ihre
Natur, ihr Sein, ausmacht. Die endlichen Dinge sind... Sie sind,
aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende. Das
Endliche...vergeht; ...das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den
Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben: die Stunde ihrer Geburt ist die
Stunde ihres Todes." (G. F. W. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil,
Leipzig 1951, 116f.).
[36] So Hans-Martin Saß in einem Gespräch mit
mir.
[37] WA 39 I, 175,9-16.
[38] Auf die ratio evidens beruft sich Luther auf dem
Wormser Reichstag. (Vgl. WA 7, 838,4).
[39] Paul Althaus (a.a.O., 66) sagt zurecht, daß im Sinne
Luthers die Vernunft "im `weltlichen Regiment'...allein die letzte Instanz
(ist) und die Normen zum Urteilen und Entscheiden über die rechte
Ordnung und Verwaltung der irdischen Dinge, in /konomie und Politik, in sich
selbst (hat)."
[40] Vgl. WA 39 I, 175,18f.
[41] WA 51, 126,7ff.
[42] WA 40, III, 51,8f.
[43] Als solcher ist Kant u.a. von Julius Kaftan, Friedrich
Paulsen, Heinrich Scholz und Werner Schulz bezeichnet worden. Dem
näher nachzugehen ist hier nicht der Ort.
[44] Paul Tillich, Der Protestantismus als Kritik und
Gestaltung, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. VII, Stuttgart 1962, 36.
[45] Odo Marquard, Apologie des Zufälligen,
Stuttgart 1986, 6f.
[46] "Denn der Zweifel ist ein spezieller Fall der
Gewaltenteilung, auf die es dem Skeptiker generell ankommt: auf die Teilung
jeder Alleingewalt in Gewalten, die Teilung der Geschichte in Geschichten, die
Teilung der sozialen und ökonomischen Macht und in Mächte, die
Teilung der Philosophie in Philosophien, und so fort." (Marquard, a.a.O.; 7).
[47] "Skepsis ist Usualismus, der Sinn für das
Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der
[48] "Der Skeptiker nun meint: in unserem Leben sind die
Schicksalzufälle untilgbar prägend; zu ihnen
gehören auch unsere
[49] Gerhard Stammler, Erkenntnis und Evangelium.
Grundzüge der Erkenntnistheorie als Lehre vom Sachgehalt, Göttingen
1969, 208 Anm. 20.
[50] Stammler, a.a.O., 202.
[51] Stammler, a.a.O., 202.
[52] Stammler, a.a.O.;401. Vgl. auch Udo Kern, Zum Charisma
der Rationalität, in: Theol. Literaturztg. 112 (1987) 865-882,
hier: 871f.
[53] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie, Bd. III, Leipzig 1971, 172.
[54] Hegel, ebd., 171.
[55] Hegel, ebd., 173.
[56] Hegel, ebd., 174f.
[57] "... cum contra conscientiam agere neque tutum neque
integrum sit." (WA 7, 838,8).
[58] Die Hölle ist nichts anderes "als das böse Gewissen
selbst (ipsa conscientia mala). Wenn der Teufel nicht das schuldverhaftete
Gewissen hätte, dann wäre er im Himmel (Si Diabolus
non haberet ream conscientiam, esset in coelo). Dieses aber entzündet
die Flammen der Hölle und weckt die furchtbaren Matern und die Erinnyen im
Herzen...Der Zorn Gottes ist die Hölle des Teufels und aller Verdammten." (WA
44, 617,30-35).
[59] "Conscientia vincit, ubi Christus iuvat, cum est gratia
et victoria in nobis." (WA 39 II, 170,8f.).
60 Von der Freiheit eines Christenmenschen in: Martin Luther, Studienausgabe
hg. v. Hans Ulrich Delius, Berlin 1979ff. (= StA), Bd. II, 265.
[61] Calvin, Institutio III, 19, 12: "Nihil iam hac regula
(sc. 1. Korinther 10,23) expeditius, quam utendum libertate nostra, si in
proiximi nostri aedifcationem cedat: sin ita proximo non epediat, ea tunc
abstinendum."
[62] Helmut Hild, Protestantismus - seine Verantwortung
für morgen, in: Gustav A. Benrath, Roman. Roessler, Helmut Hild
[Hgg.], Der Protestantismus als kritische Kraft, Göttingen 1979, 41-60, hier:
53f.
[63] Carl Frd. von Weizsäcker, Die Tragweite
der Wissenschaft, I, 1966, 2.A., 178.
[64] Vgl. Udo Kern, Die durch Barmen definierte
Zweireichelehre, in: Theolog. Zeitschr. hg. v. d. Theol. Fak. d. Uni. Basel 42
(1986) 237-254.
[65] H. Hild, a.a.O., 52.
[66] Dieses Gedicht von Günther Eich ist zitiert
bei Roman Roessler, Protestanten - ihre Aufgabe heute, in: G. A. Benraht, R.
Roessler, H. Hild, a.a.O.;27-40, hier: 37.
[67] H. Hild, a.a.O., 52.
[68] Das wird in der bekannten Stuttgarter
Schulderklärung des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland vom 19.10.1945 klar bekannt: "...wir klagen uns an, daß wir (sc.
in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft) nicht mutiger
bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender
geliebt haben."
[69] Vgl. Günter Jacob, Weltwirklichkeit und
Christusglaube. Wider eine falsche Zweireichelehre, Stuttgart 1977.
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