Erschienen in Ausgabe: No 53 (7/2010) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
von Jochanan Trilse-Finkelstein
Vorstellung des
gleichnamigen Buches auf der Frühjahrestagung der Anna Amalia und Goethe Akademie
zu Weimar am 1. Mai 2010
»GOETHES ERSTESWEIMARER JAHRZEHNT«
Ilse Nagelschmidt/Stefan Weiß/Jochanan
Trilse-Finkelstein (Hrsg.) Interdisziplinäres Symposium anlässlich des 270.
Geburtstags von Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach am 24.
Oktober 2009
Tagungsband mit weiteren Forschungsergebnissen, 464
Seiten, Format 24 x 16 cm, Broschur, Weimar 2010, ISBN
978-3-936177-15-2
Sehr
geehrte Damen und Herren, Liebe Freunde von Goethe und Anna Amalia,
einerseits gibt es
eine nahezu unüberschaubare Goethe-Literatur, also Literatur über Literatur,
die zuweilen auch eigenen Literatur-Wert hat, vor allem, wenn sie von Dichtern
bzw. großen Literaten geschrieben worden ist: etwa von den Schlegels oder gar
Heinrich Heine, von Gerhart Hauptmann oder gar Thomas Mann, den Zweigs, Joh.
Robert Becher, Louis Fürnberg oder gar Bertolt Brecht geschrieben ward, weniger
Martin Walser, umso lieber Peter Hacks!
Die
germanistisch-philologische Wissenschaft tat das ihre, zumindest seit der
großen Weimarer- oder Sophien-Ausgabe vor und nach der Wende der Jahrhunderte
um 1900. Da gab es wahre Literatur-Schübe und etliche große Biografien.
Stellvertretend sei der Name des nationalbürgerlichen, doch eher positivistisch
denkenden Gelehrten Erich Schmidt genannt.
In eine eher
idealistische Richtung trieben Georg Simmel und Housten Stewart Chamberlain
(beide um 1913) ihre Interpretation des großen Weimaraners, die darnach
freilich fatale Züge durch Friedrich Gundolf angenommen hatte. Sie lieferte
Ansatzpunkte für eine Umdeutung in eher nordisch-rassische, für den kommenden
NS-Faschismus brauchbare Variante, die selbst Hitler ertrug. Freilich: dies
konnte bei Goethe niemals aufgehen.
Die zwanziger Jahre
brachten im Gefolge der Schlachten und Einbrüche, der Leichenberge, der Opfer,
der materiellen und geistigen Schäden neue Sichten, wie sie vor allem in den
Ausgaben der originalen Jugendschriften durch Hans Gerhard Gräfe und in großen
Biografien von jüdischen Autoren Gestalt bekommen hatten: etwa Emil Ludwig
(eigentl. Cohn) und Albert Bielschowski. Ludwigs „Goethe. Geschichte eines
Menschen“ (3 Bde) kam 1920 heraus und hatte großen Erfolg, trotz etlicher
sachlicher Unangemessenheiten. Bielschowskis „Goethe“ war zwar bereits 1896
erschienen, ebenfalls mit großem Erfolg, doch als Standardwerk galt er erst
durch Walter Lindens Neufassung von 1928.
Seine Leistung liegt
vor allem in tieferer Durchdringung des Philosophischen und in seinen
ästhetischen Bewertungen. Die historischen Untersuchungen, Beschreibung und
Analyse des Goetheschen
Umfeldes, des Höfischen wie der Bürgerlichkeit blieben weitgehend auf der
Strecke. Goethes politische Tätigkeit wirkt hier recht harmlos. Anna Amalia
erhält zwar eine ganze Anzahl von – durchaus würdigenden – Seiten, doch über
allgemein Bekanntes geht es nicht heraus. Auffällt lediglich ihr Brief an
Minister Fritsch vom Mai 1776, in welchem sie ihre Sympathie für den Dichter
unverhohlen bekennt, Fritsch hält und bereits im Juni dem Dichter zum
Minister-Posten verhilft. Neben Friedrich II. von Preußen Carl August zum
zweitbedeutenden Monarchen und Staatsmann Deutschlands zu erklären, scheint mir
übertrieben. Freilich: allzu große Konkurrenz unter deutschen Monarchen hatte
er nicht, doch lebten noch Maria Theresia und Joseph II., Kaiser in Wien.
Das nur aus der
Politik zu erklären, lässt sich auch Bielschowski nicht einfallen, auch
interpretiert er es nicht, lässt es stehen. Noch war auch 1928 die Zeit nicht
reif, da ganz offen zu werden.
In der Folge-Zeit kam
über lange Zeit dem Bielschowski-Linden keiner mehr so nahe. Seit 1940 stand
die deutsche Goethe-Forschung und Deutung vorrangig im Zeichen von August
Hermann Korff ( bis 1963), dessen vierbändiger „Geist der Goethezeit“ sich
wenig im biografischen Bereich aufhielt, Klassik und Romantik als Epochen
zusammenfasste und interpretierte, dies freilich nach streng idealistischen
Prinzipien, ins Irrationalistische tendierend und nahezu jeden historischen
Bezug vermissen lassend. Das ist Literatur an und für sich, eine Literatur, die
jeden Bezug zur Realität verloren hat, sowohl in ihren Entstehungsbedingungen
wie auch den Wirkungsmöglichkeiten. Das hat ihn auch für eine NS-Kulturpolitik
erträglich, ja hoffähig gemacht. In seiner Allgemeinheit hat ihn sogar die DDR
ertragen. Ich war sehr verblüfft, als ich ihn – aus Exil und anderen Ländern
kommend – in den fünfziger Jahren in Leipzig hörte. Immerhin: Ich war vom
Wiener Heinz Kindermann, einst hier in Weimar Mitglied des „Kampfbundes für
deutsche Kultur“ des Alfred Rosenberg, einiges gewöhnt, auch über
Goethe. Das aber in Leipzig, an einer Universität, die damals den ehrenvollen Namen
eines Karl Marx getragen hatte, war mir unerklärlich! Zum Glück gab es dort
Gegengewichte: den Philosophen Ernst Bloch, den Historiker Walter Markow, vor
allem aber den Literaten Hans Mayer. Hatte Bloch den Denker Goethe auf die
höchste Ebene gehoben, auf die er gehört; Markow den Geschichts- und auch
Politik-Sinn des Ministers erkannt,
auch dort, wo der irrte, etwa in seiner frühen Einschätzung der Französischen
Revolution, so pries Mayer den Dichter ersten Ranges, den Schriftsteller der
Weltliteratur, einen Menschen von Renaissance-Charakter. Auch der Hof in Weimar
ward in seinem reformfreudigen, doch sehr beschränktem Rang erkannt. Doch das
Verhältnis Anna Amalia und Goethe nicht, weder als Liebespaar noch in deren
politischer wie sozialer Bedeutung.
Überblickt man die
deutschen Literaturgeschichten und entsprechenden Lexika etwa von Fritz Martini
(1948/ 1957), Elisabeth Frenzel (1962/63), Gero von Wilpert (1955-1979), also
Bereich West, oder das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ von Albrecht,
Böttcher u.a. (1968 – 1974) oder gar die 12bändige „Geschichte der deutschen
Literatur“ (seit 1960), also Bereich Ost, sind keine grundsätzlichen
Entdeckungen besonders zur Klassik zu vermerken, es sei denn, die
materialistische Betrachtungsweise und der andere Kanon im Osten.
Da mussten noch die
Scholz-Schule kommen und schließlich die Anna-Amalia-Goethe-Akademie mit dem
deutsch-italienischen Juristen und Schriftsteller Ettore Ghibellino sowie
dessen Mitstreitern, also uns, die wir hier stehen, reden und neue Bücher mit
neuen Entwürfen vorstellen. Ein Name muss allerdings hier noch genannt werden,
zumal sein Träger Weimaraner war: Hans Wahl. Der umtriebige Mann, der über die
NS-Zeit und Krieg rettete, was zu retten war – geistige wie seelische Trümmer –
wusste so ziemlich alles, was sich in Weimar begeben hatte. Über unser Thema
hatte er nichts gesagt, was heute nutzbar wäre, Zumindest habe ich nichts
darüber gefunden. War er wie Wolfgang Vulpius, der viel wusste, es mir gesagt
hatte, mit der flehentlichen Bitte, es nicht weiterzugeben (s. Beitrag von
2008, hier in diesem Band)? Wusste Wahl auch und behielt es bei sich? Oder
wusste er nichts, wollte nichts wissen? Hatte ihn damals niemand gefragt? Er
war 1948 verstorben.
Neue und sehr
wichtige, realistische Fragen hatte wirklich erst die Gruppe um Gerhard Scholz
gestellt, die meisten jüdische Remigranten, von mir in meinen Beiträge zum
Thema bereits genannt.
Sie stellten
soziologische Grundfragen – nach der sozialen Basis von Literatur und ihrer
gesellschaftlichen Wirklichkeit, besonders zur Klassik. Gerhard Scholzens Faustgespräche“, Edith Braemers Buch über „Prometheus“, Ursula Wertheims
Untersuchungen zum „West-östlichen Divan“ sind unschätzbar gewesen, wie Lore
Kaim-Kloocks Arbeiten zum Sturm und Drang - z.T. sind sie es heute noch. Doch
unsere Fragen nach dem widersprüchlich-produktiven Verhältnis zum Herrscherhaus
überhaupt, zum Verhältnis Goethe-Anna Amalia waren damals offenbar noch nicht
in den Sinn gekommen – die ideologische Konfrontation zum Feudalabsolutismus
bzw. die Auseinandersetzung damit waren noch zu schroff.
Nun sind sie gestellt, liegen
offen vor uns, erste Antworten hat es gegeben.
2003 brachte Ettore
Ghibellino seinen Aufsehen erregendes Buch “Eine verbotene Liebe?“, 2008 gab Ilse
Nagelschmidt den Sammelband mit Konferenzbeiträgen des 1. Interdisziplinären
Symposions von 2007 heraus; in der Folge erschienen in der kleinen Reihe
etliche Aufsätze, Essays, Stellungnahmen von Gabriele von Trauchburg, Stefan
Weiß, JTF. Heute stellen wir vor:
„Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt – Anna Amalia und Goethe“, hg. von Ilse Nagelschmidt,
Stefan Weiß und JTF, mit 15 Beiträgen von 10 Autoren (neben den Hg. mit z.T.
mehreren Beiträgen außerdem von Jan Ballweg, Gabriele von Trauchburg, Ettore
Ghibellino, Hubert Speidel, Gisela Kahl, Detlev Forst, Rolf Hochhuth).
Die meisten der
genannten Kollegen sind anwesend und werden ihre Positionen selbst vertreten.
Darum will ich die Beiträge nur anreihen, um die gedanklichen Linien
hervortreten zu lassen, die den Band bestimmen. Der Kürze wegen nenne ich nur
die Nachnamen, weder Vornamen noch akademische Titel, freilich die Titel der
Texte. In zwei Fällen bin ich gebeten worden, Inhalte und Konzepte
ausführlicher widerzugeben, da die Kollegen nicht anwesend sein können.
Als Gruppe 1 die vorwiegend
personenbestimmten, als da sind: Weiß, Ballweg, von Trauchburg und
Trilse-Finkelstein befassen sich mit historischen Persönlichkeiten wie dem
genius loci und seinen Geliebten, der realen selbst wie der vermeintlichen, mit
beiden Steins, mit beiden Görtzens; Nagelschmidt mit „Literatur und
Geschlechterkonstellationen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“, also
vorwiegend historischen Gegebenheiten und dem entsprechenden Material;
Ghibellino und Speidel eher mit methodischen Fragen, dem Material beizukommen;
wobei ich der psychoanalytischen (psychogrammatischen: „Psychogramm“ betonend)
besonderen Rang einräume, wenn sie die Historie, genauer: Geschichtlichkeit nicht draußen vorlässt); in der dritten Gruppe
geht es dann um Kunst, um klassische Werke und ihre Umsetzung, das betrifft die
von Kahl und Forst sowie die zweite von mir; dazu gehören dann auch im
weiterwirkenden Sinne Deutungsversuche von Kunst (Ghibellino „Hacks und Goethe“
- man höre auf die Reihenfolge, sie hätte Peter Hacks sehr gefallen) – den
Schluss des Bandes bilden zwei Gedichte von Hochhuth. Zu erwähnen sei indes
auch eine Polemik: die von Weiß und Ghibellino gegen die „Stellungnahme der
Klassik Stiftung Weimar zu den Hypothesen Ettore Ghibellinos“.
Ein stattliches
Programm, ein Konzept ausdrückend. Nun noch einige Sätze zu den beiden Texten
von Kahl und Forst.
Kahl geht auf zwei
bedeutende Inszenierungen des Stückes ein: auf die von Peter Stein von 1969 in
Bremen, die später auch in die Berliner Schaubühne aufgenommen ward, mit Bruno
Ganz in der Titelrolle, sowie auf die von Claus Peymann 1980 in Bochum mit
Branko Samorowski. Ich habe beide Inszenierungen gesehen und kann den von Kahl
abgedruckten Kritik-Auszügen nur begrenzt zustimmen: der Henselschen über
Steins Aufführung eingeschränkt, der von Melchinger über Stein gar nicht.
Melchinger mochte den rebellischen Impetus der Schaubühne unter Stein überhaupt
nicht, er passte nicht in sein konservatives Konzept von Theater wie überhaupt
in sein Weltenbild: „Dieser Tasso widersetzt sich nicht, er leistet sich nur
Fauxpas.“ (1969). Das sah ich gänzlich anders. Dieser Tasso leistete
erstaunlichen Widerstand, auch hinter der Maske eines höfischen Clowns. Ganz
gewiss nicht als einen mit äußerlich heroischen Mitteln. Nein, mit
künstlerischen unter immerhin höfischen Bedingungen, eben auch denen eines
Goethe. Masken gehörten dazu (Goethe hatte bekanntlich auch Maskenspiele
geliebt, gefördert, genutzt.) Vor wenigen Jahren hatte ich anlässlich der
Aufführung des ungekürzten Berliner „Faust“ in einer Art Sommertheater, die
Gelegenheit, in einer Probenpause Bruno Ganz zu sprechen. Es war kein
Interview, sondern ein Gespräch, bei einem kleinen Essen. Alles, was zu Faust
kam, sei hier beiseite gelassen. Ich hatte ihn einiges zu früheren
Bühnen-Rollen gefragt, etwa zu „Peer Gynt“, zum „Prinzen von Homburg“, zu
Pentheus („Bacchen-Troerinnen“ und Prometheus, eben auch zum „Torquato Tasso“.
Wen habe er sich unter oder hinter Tasso vorgestellt? Der Künstler sah mich mit
erstaunten Augen an und meinte dann: „Wollen Sie mich reinlegen, narren? Sollte
ich den alten Tasso aus dem 16. Jahrhundert verkörpern? Obwohl auch der
kräftige sinnlich-oppositionelle Züge hatte! Nein, natürlich Goethe! Aber ich
wollte und sollte keine fotografisch-bildliche Gestalt darstellen, sondern eben
einen Künstler in all seinen Widersprüchen spielen.“ (Aus dem Gedächtnis und
kurzen Notizen zitiert!)
Auch der Tasso von
Samorowski war nicht viel anders, wendiger, vielleicht windiger; seine
weiblichen Gegenspielerinnen. (So bedeutende Schauspielerinnen wie Kirsten Dene
und auch Barbara Nüsse hatten es dem zarten Samorowski, später Peymanns
spielgescheiter Mephisto, einem exzellenten Gegenentwurf zu Gründgens Mephisto,
schwer gemacht.) Doch auch bei ihm war Goethe zu erkennen, nur schwächer.
Vorteilhaft: Es war vornehmlich der Spieler und Taktiker, oft zurückweichende
Goethe erkenn-, ja sichtbar.
Solche genialen wie
gebildeten Regisseure wie Peymann und Stein hatten wie ihre herrlichen
Schauspieler ein Gespür für Wahrheit: Nicht nur für die Wahrheit der Bühne,
sondern auch für die
gesellschaftlich-historische. Auch wenn diese höfische von Weimar noch nicht
klar im Bild war dank
wettinischer und anderer Retuschen - sie spürten etwas von der echten lebenden
Frauengestalt höheren Ranges wie vom echten Goethe, der als politischer Mensch
cleverer Taktiker, als Künstler Wahrheitsfanatiker war - künstlerischer
Wahrheit! Insofern sollten diese Inszenierungen nicht als Gegen-Entwürfe
dargestellt werden, sondern als Vorwegnahme, was nur große Künstler können.
Ich muss dabei an eine
ebenfalls ältere Inszenierung des „Tasso“ im DT erinnern, die von Frido Solter
aus dem Jahre 1975 (lange gespielt) mit Christian Grashof als Tasso, Dieter
Mann als Antonio und Fred Düren als Herzog. Auch darin war Goethes Stück
deutlich (bis ins Kostüm): Goethe biografisch - und daher – in doppeltem Sinne
- echt zeitgenössisches Künstler- und Liebesdrama, doch historisch wahr.
Prinzessin Leonore sah wie Anna A. auf zeitgenössischen Stichen aus und die
andere Leonore wie die Stein. Ob Solter, für exakte Studien und bedeutendes
Einfühlungsvermögen bekannt, bereits genauere Vorstellungen hatte, kann ich
hier nicht belegen. Aber er war der Wahrheit sehr nahe gekommen.
Vom Stand
zeitgenössischer Theaterpraxis her und vom heutigen historisch-wissenschaftlichen
betrachtet, liegen also zwischen diesen drei Aufführungen zwischen 1969 bis
1980 und dem „neuen
Inszenierungsansatz“ von Kahl keine großen Unterschiede. Man kann den ihren
annehmen. Zu ihrem Unglück führt sie leider eine offenbar total missratene, dem
Unfug des „neuen“ Regisseurstheaters geschuldete Inszenierung des Jahres 2007
aus Nürnberg durch einen sonst kaum
bekannten Regisseur namens Kusenberg an, die ich nicht gesehen habe, doch aus
beschreibenden Rezensionen zur Kenntnis genommen habe.
Hier wird jegliche
Wahrheit, die der Bühne wie die des Lebens, verletzt zugunsten eines albernen
Jokus und Publikumsheranschmeißerei, billiger Anbiederung um billigen Erfolgs
wegen. Zum Glück – so sagte ich – habe ich sie nicht gesehen, da ich derlei
gefährlich-dumme Possen leider zu oft wahrnehmen muss. Darum weiß ich, wie
derlei aussieht.
Obwohl ich das als
professioneller Kritiker nicht sagen dürfte – es ist Berufsethos, alles zur Kenntnis zu nehmen,
allerdings ebenso, kritisch unter die Lupe, was ich mir dann ebenso zur Pflicht
mache.
Und derlei Schwachsinn
kann freilich nicht ästhetische Norm werden. Normen sind künstlerisch ohnehin
fragwürdig, doch sog. „totale „Freiheit“, also anarchistische genauso. Chaos und Ordnung sind Lebensgesetz im
tiefsten Innern aller Natur wie Gesellschaft so auch in Kunst. Goethe selbst
war Lehrmeister darin. Und das gilt für „Torquato Tasso“ und dessen Ordnung,
dessen Wahrheit künstlerischer Wiedergabe historischer Wahrheit.
Selbstverständlich
bleibt Ghibellinos These, wie Kahl schreibt, Voraussetzung für „eine neue
Lesart“. Sie beschreibt die Fabelführung, die Handlung der fünf Akte und man
kann ihr – in Kenntnis der genannten bedeutenden Aufführungen – zustimmen,
„dass eine grundsätzlich neue, hochbrisante Lesart des TORQUATO TASSO möglich
ist, und zwar ohne äußere Eingriffe in den Text.“ Und anderer Stelle warnt sie
vor Historisierung (formal tue ich das auch) wie vor Aktualisierung – so platt
wie meist geht diese fast immer schief. Wie so oft gehabt: nur
anthropologisches Denken anstelle in disharmonischem Klang mit dem
historischem! Menschen des 16., 18. oder 20. Jh. sind nicht gleich, aber
vergleichbar – und an klassischen Stoffen und Texten ist immer das interessant,
was als nicht gelöste Widersprüche bzw. Konflikte wie unerledigte Forderungen
und weiterreichende Ideale bei uns ankommt bzw. über uns hinausgeht.
Was im Falle „Tasso“
nicht sein sollte: 1. Akt – Irgendein mittelstädtischer Vorgarten mit
Mülltonnen; 2. Akt – Hinterzimmer einer Berliner Kneipe, in Wien Beisel; 3. Akt
– Frauentoilette desselben Beisels (Berlinisch Kneipe); 4. Akt – Müllcontainer,
worin Tasso masturbiert und weint; 5. Akt – Müllberg hinter Oranienburg mit
Müllverbrennungsanlage: Tasso erschießt mit Kalaschnikow Antonio, pisst auf die
Leiche und vergewaltigt diese: „So klammert sich der Schiffer endlich noch/ am
Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“
Meine Damen und
Herren, Sie grauen sich, verteufeln mich oder lachen: Gehen Sie in diese sog. „modernen
Theater“, dieses Regisseurstheater, Theater mittlerer bis schwacher
Intelligenzen und sie werden ihr grautrübes Antiwunder hautnah erleben! Kein
Goethe noch Schiller, Sophokles oder Shakespeare, Ibsen noch Strindberg ist vor
ihnen sicher. Beckett hatte zwar die Mülltonne auf die Bühne gebracht, war
darüber, als er die Folgen gesehen hatte, recht unglücklich. So hatte er es
nicht gemeint. Brecht ist noch bis 2026 geschützt – ein Glück! Wenn auch nicht
völlig! Und so wird man die Wahrheit über diese großartige, deutschlandmögliche
Liebes- und Politik-Symbiose Anna Amalia – Goethe zumindest auf der Bühne nicht
sehen können. (Vom gutgewollten Senftenberger Beispiel einmal abgesehen!)
So weit – so schlecht,
was unser heutiges in seinem Mainstream betrifft! - So gut, wenn die Denkweise
Kahl gemeint ist. Ihr Vorschlag zur Parabel ist annehmbar!
Nun bleiben mir nur
noch einige Sätze zu Detlev Forst „Die ‚Wilhelm Meister‘-Lieder in der
Vertonung von Schubert – oder ‚Ein Eiertanz‘ “. So ein bescheidener Text mit
solcher Aufschlüssigkeit – das ist gekonnt und ich verneige mich! Zunächst hat
Forst recht, dass – so genial dieser Schubert seine Lieder gemacht hat – es
noch viel mehr gute Leute gibt, gute Komponisten, die diesen unergründlichen
Ocean Goethe durchtauchen und feststellen, dass es da Verbindungen zu anderen
Meeren gibt, nicht so groß vielleicht wie der pazifische Weimarer aus
Frankfurt, aber tief und ebenso unergründlich, mediterran und atlantisch
zugleich – amalienhaft eben!
Hermann Hesse hatte
seinen Spielmeister im „Glasperlenspiel“ Josef Knecht, in Verehrung des
Meisters, der seinen Helden in Lehr- und Wanderjahren Wilhelm Meister genannt
hatte. Sein Auto-Ich-Schöpfer war – wie ich an anderer Stelle gesagt hab, ein
Meister der Tarnung. Man braucht viel Zeit – die deutsche Kritik, die auch
„Wissenschaft“ genannt wird, was auch heißen kann, dass jede Wissenschaft mit
Kritik beginnt, bevor sie Entdeckungen macht oder gar Visionen hervorbringt,
hat sich jede Zeit genommen, Goethes Tarnungen zu enttarnen: so ganz rund
gerechnet (zwischen Tatgeschehen und Ruhmende des Weimaraners das halbe
Jahrhundert einbezogen, mitgerechnet) zwei Jahrhunderte.
Weniger deutsche
Forscher und Interpreten haben den deutschen Allgott der Literatur in seinem
Verhältnis zur deutschen und Weltrealität richtig gesehen – eher Dichter (wir
nannten eingangs einige), dazu Literaturfreunde von außen: Ärzte, Juristen,
Ökologen, Psychoanalytiker, Schriftsteller bzw. andere Dichter-Kollegen; anders
gesehen: Opfer, Remigranten, Verfolgte; oder: Italiener, Juden, Russen. Forst
ist von Hause aus Chemiker, heute als Emeritus ein wichtiger Ökologe. Just
dieser hat den „Wilhelm Meister“ zugänglicher gemacht. Und das will etwas
heißen bei dieser „unkalkulablen“ Produktion, an der sich Generationen so heiß
wie müd gelesen und gelangweilt haben. Und dabei ein erstklassiges Werk der
Weltliteratur! Das Werk eines „Eiertänzers“ – in bezug auf eine Art Volkstanz
der Geschicklichkeit, den ich in den fünfziger Jahren noch auf
Kleinstadtmärkten in Tirol gesehen habe, ziemlich weit im Süden. Der Eiertänzer
Goethe, der in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, hat auch hier wieder in den
verschlungenen Verhältnissen um Wilhelm, Mariane, Mignon, den Harfner (der
Künstler sui generis) Schleier gewoben, die der Menge oder den Herrschenden den
Blick versperren, aber den Sehenden, Wissenden ermöglichen soll, kann....
Goethe ist in fast jeder Figur wie Anna auch. Schuberts Musik klingt nach –
nachdenklich!?- Werden die „Lehrjahre“ zu LEHRJAHREN der Menschheit werden?
Zahnärzte werden, so
lange diese sonderbare Menschenwelt noch besteht, nicht arm werden. Wir werden
uns die Zähne brechen – sie haben zu tun. Aber das Gebiss retten? Die Menschen
werden sich wohl nicht mehr durch die von ihnen hervorgebrachten Nuklearwaffen
(aus den geheimsten Kräften der Natur geschaffen) vernichten – da hat die
Vernunft noch einmal gereicht. Wohl eher durch ihre fürchterliche, inzwischen
Angst gebietende Zeugungskraft! Das „Stirb und Werde!“ des Altmeisters vom
Frauenplan ist offenbar falsch angenommen worden. So haben Anna Amalia und ihr
großer Geliebter das Werden sicher nicht verstanden Da ist Kants und Lessings
Vernunft offenbar in der Allumarmung untergegangen – und selbst das
großangelegte Reformmodell des Kleinstaats hatte die gewünschte Strahlkraft
nicht. Das Prinzip Hoffnung und die Kraft von klassischer Literatur waren –
sind – an ihre Grenzen gekommen. Was gilt? Lassen Sie mich schließen mit einem
Satz des sozialistischen Neu-Klassikers Peter Hacks: „Ich hoff, die Menschheit
schafft es!“
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