Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 30.08.10 |
von Lisz Hirn
Antonin Artaud kommt 1896 in Marseille zur
Welt. Er erwirbt sich im Laufe seines Lebens einen Ruf als Regisseur,
Schauspieler und Theatertheoretiker. Ein Interview
über die wuchernde Theaterunkultur, gesellschaftlichen Ausstoß und die
postmoderne Obszönität der Kunst.
Lisz Hirn: Herr
Artaud, wenn Sie sich mit wenigen Worten beschreiben müssten, was sagten Sie
über sich? Wer „ist“ Antonin Artaud?
Antonin Artaud:
(schmunzelt) Wie oft ich das schon gefragt wurde? Ich bin froh, es nicht zu
wissen.
LH: Da entsprechen Sie keineswegs
den Tendenzen des allgegenwärtigen „gnothi séauton“…
AA: Ich habe es nie als
bewundernswert empfunden, alle seine Abgründe und Gründe in ein einziges Wort, „Ich“,
zu zwingen. Was, wenn nicht das, ist körperliche Vergewaltigung des Individuums
durch die „Gesellschaft“?
LH: Wollten Sie dieser
„Vergewaltigung“ entfliehen? War dies der Antrieb für Ihre Reise?
AA: Tatsächlich haben nur wenige das Ziel
meiner Reise nach Mexiko begriffen. Es ging nicht darum, das Leben zu verändern
und aus Frankreich zu fliehen, wo ich keinen Platz mehr finden konnte. Ich bin
also nach Mexiko gekommen, um die Kraft zu finden, und die Kräfte, um auf diese
Veränderung zu drängen.
LH: Auch durch den gezielten Gebrauch von Drogen?
AA:Das Peyotl führt
das Ich an seine wahren Quellen. Aus dem Zustand einer solchen Vision
hervorgegangen, kann man nicht mehr wie vorher die Lüge mit der Wahrheit
verwechseln. Man hat gesehen, woher man kommt und wer man ist, und man zweifelt
nicht länger daran, was man ist. Es gibt weder ein Gefühl noch einen
äußerlichen Einfluss der einen davon noch abbringen könnte.
LH: Niemanden?
AA:(schmunzelt) Man, die Gesellschaft, hat es
versucht. Derart
hat die Gesellschaft in
ihren Asylen all jene erdrosselt, die sie loswerden wollte oder vor denen sie
sich schützen wollte, denn sie weigerten sich, mit ihr bei bestimmten erhabenen
Schweinereien gemeinsame Sache zu machen.
Jenen, den die Gesellschaft nicht hören wollte und den sie daran hindern
wollte, unerträgliche Wahrheiten zu äußern.
LH: Sie meinen, dass die Gesellschaft die Menschen, die sie nicht
hören will zu…
AA: (nickend) Ich bin ein Ausgestoßener.
LH: Meinen Sie das in Bezug auf Ihre mehrjährige Therapie in der
Psychiatrie? Man hat Sie schon oft als „verrückt“ deklariert…
AA:Was heißen soll,
dass ich, der Verrückte und der Momo, 9 Jahre lang wegen Ausübung von
Exorzismus und Magie in der Irrenanstalt festgehalten, und weil ich mir
angeblich vorstellte, eine Magie gefunden zu haben, und das verrückt war.
LH: Und waren Sie es?
AA: Man muss glauben, dass das stimmte, denn
keinen einzigen Tag während der 3 Jahre meiner Internierung in Rodez, Aveyron,
hat Dr. Ferdiére versäumt, um halb 11 morgens, zur Zeit der Visite, zu kommen
und mir zu sagen: Herr Artaud, alles was sie wollen, aber die Gesellschaft kann
nicht akzeptieren, und ich bin hier der Vertreter der Gesellschaft.
Wenn ich verrückt war, bei meinen magischen Praktiken, was kümmerte es dann die
Gesellschaft, die sich doch weder betroffen noch verletzt fühlen konnte und die
mich nur zu verachten und zu vernachlässigen brauchte.
LH: Die Gesellschaft hat Sie ganz
offensichtlich als Bedrohung empfunden.Sehen Sie sich als Kulturzerstörer wie Ihnen vorgeworfen wurde?
AA: Kultur ist wie Sprache,
Denken, Subjekt, Körper nur ein Begriff. Die
Sprache zerschlagen, um das Leben zu ergreifen, heißt Theater zu machen oder
erneut zu machen. (lächelt) In diesem Sinne bin ich ein bekennender Zerstörer.
Die Sprache ist neben Literatur und Schrift ein Verbündeter des bürgerlichen
Kulturbegriffs und dieser legt dem vitalen Theater die größten Fesseln an.
LH: Und wenn man Sie zwingen
würde, „Kultur“ und „Kunst“ zu definieren? Was würden Sie denen antworten?
AA: Denen? - Man soll mich doch in
Ruhe scheißen lassen.
LH: Auch
die Ausscheidung gehört zur Existenz, ist eine Seite des Lebens…
AA: Kunst und Kultur sind nicht
eine Seite des Lebens. Kultur gibt es nicht ohne das Leben. Sie ist untrennbar
mit dem Leben verbunden. Aber was weiß man heute schon von wahrer Kultur?
LH: „Wahrer“ Kultur?
AA: Ja, das möchten Sie jetzt
wissen, nicht wahr? Nun, wahre Kultur vermittelt uns eine Lebenspraxis,
vermittelt uns, wie wir das Leben verstehen und ausüben können.
LH: Ist das Ihr künstlerischer Ehrgeiz,
Ihre Vision von Theater – die Vermittlung von Leben?
AA: Ich
höre immer, dass das Theater eine Repräsentation der Realität und des Seins
ist. Schwachsinn. Das Theater, um das ich mich bemühe, setzt die Energien des
Seins direkt um. Es ist nicht-repräsentativ, es „ist“.
LH: Aber die Etablierung Ihres
Theaters der Grausamkeit ist in Paris gescheitert… Wie gehen Sie damit um?
AA:Mir ist plötzlich klar geworden, dass die Zeit vorbei war,
Menschen in einem Theater zu versammeln, selbst um ihnen Wahrheiten zu
sagen und dass man mit der Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit keine andere
Sprache mehr sprechen kann als die der Bomben, der Maschinengewehre, der
Barrikaden und allem, was daraus folgt.
LH: Dieser Misserfolg hat Ihr
Engagement für Ihre Vorstellung von Kultur und Kunst nicht gemindert. Warum
nehmen Sie diese Mühe dennoch auf sich? Was möchten Sie vermitteln?
AA:Man muss aufhören. Man muss endlich mit dieser Welt brechen.
LH: Es klingt, als ob die Welt
unser größtes Unglück wäre, mit der wir brechen müssten. Gibt es kein irdisches
Glück, nach dem wir streben können oder bleibt uns am Ende immer nur
Verzweiflung und Tod?
AA:Es ist ein wahrhaft Verzweifelter, der zu Ihnen spricht und
der das Glück, auf der Welt zu sein, erst jetzt erkannt hat, da er diese Welt
verlassen hat und da er von ihr absolut getrennt ist.
Tot sind die anderen nicht getrennt. Sie kreisen noch um ihre Kadaver. Ich bin
nicht tot, aber ich bin getrennt.
Antonin Artaud wird am 5. März 1948 tot in seiner Wohnung in Ivry-sur-Seine
aufgefunden.
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