Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Heike Geilen
„Alles
Geschriebene ist Schweinerei.
Die Leute, die
das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgend etwas von dem, was in ihrem
Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine.
Das ganze
Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit.“
Dieses
Zitat des französischen Künstlers Antonin Artaud (1896 - 1948) stellt der in
Chile geborene, in Mexiko aufgewachsene und in Spanien zu literarischem
Weltruhm gelangte Roberto Bolaño seinem letzten, kurz vor seinem Tode
geschriebenen Buch voran. Es scheint wie ein Signal, wie ein Omen zu fungieren,
denn über dem nur 110 Seiten langen Text (spanischer Originaltitel: „Una
novelita lumpen“), der eher als Novelette als ein Roman avanciert, schwebt
etwas latent Unbestimmtes. Schon der erste Satz offenbart eine diffuse Aussage:
„Jetzt bin ich Mutter und auch eine
verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle“.
Seine Protagonisten zeichnet Bolaño gleichfalls in einer schwammigen, schwer
greifbaren Konsistenz und auch das Ende lässt freien Assoziationsspielraum.
„Zusammenstöße
verformen die Farbe oder verformen die Art, wie wir Farbe wahrnehmen.“ Einen
dramatischen Zusammenstoß gab es. Die Eltern von Bianca - der Ich-Erzählerin -
und ihrem Bruder kommen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. „Von dem Moment an veränderten sich die
Tage. Oder vielmehr, es veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das,
was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze
zwischen beiden zieht.“ Die zwei jungen Menschen geraten aus der Spur ihres
bis dato bürgerlich geordneten Lebens. Sie gehen nicht mehr in die Schule,
vertreiben sich ihre Zeit mit Quizshows im Fernsehen und Pornos aus der
Videothek. Um „die wenigen Dinge zu
vergessen, die ich wusste“, stellt Bianca fest. Mit billigen Hilfsjobs
überleben beide mehr recht als schlecht.
„Zusammenstöße
verformen die Farbe oder verformen die Art, wie wir Farbe wahrnehmen.“ Biancas Tage
haben ihre Helligkeit und Farbe verloren, die Handlungsräume erscheinen
abgedunkelt und verwischt. Die Nacht jedoch empfindet die junge Frau als
Dauerzustand von Sonne und Licht. Diese Gestimmtheit ändert sich auch nicht,
als ihr Bruder eines Tages zwei nebulöse Typen anschleppt, die sich fortan in
der Wohnung einquartieren und abwechselnd das Bett mit der apathischen jungen
Frau teilen. Eine Wendung nimmt das Geschehen, als die Drei einen perfiden Plan
aushecken, um zu Geld zu kommen. Bianca soll als Gespielin eines
abgehalfterten, blinden Bodybuilding-Weltmeisters dessen Anwesen nach einem
angeblich versteckten Tresor ausspionieren, um „das Glück zu wenden“. Nur kann
man das Glück einfach so wenden? „,Das
Glück wenden‘, eine Redensart, die für mich keinen Sinn ergab, so sehr ich mir
auch darüber den Kopf zerbrach, denn das Glück lässt sich nicht wenden,
entweder ist es da oder es ist nicht da, und wenn es da ist, gibt es keinen
Weg, es zu wenden, und wenn es nicht da ist, geht es uns wie den Vögeln in
einem Sandsturm, wir wissen es nur nicht...“
„Als stiege
aus der Tiefebene Nebel auf und hüllte den ganzen Bahnhof ein, ohne dass es
jemand merkte“, so wirkt auch Roberto Bolaños „Lumpenroman“ auf den Leser.
Sein nüchterner Duktus, die beinahe emotionslose, registrierende und nicht
wertende, fast staccato-artige Sprache mit von Zeit zu Zeit eingestreuten
blumigen Umschreibungen, verdeutlichen die Diskrepanz der morbiden Gesellschaft
und lassen die Situation der jungen Menschen auf drastische Art und Weise
lebendig werden. Nicht ohne Grund scheint Bolaño sein Geschehen in Rom
angesiedelt zu haben, obwohl der Ort beliebig austauschbar wäre. Meisterlich
versteht er es, scheinbar merkwürdige Dinge auftauchen zu lassen, „wenn man am wenigsten damit rechnet, und
die in Wirklichkeit immer Vorwände für etwas anderes sind, für andere Dinge
(für durchführbare, nicht für undurchführbare Dinge)...“
„Bücher sind
Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um
sich zu verirren und wieder zu finden oder um etwas zu finden, was auch immer,
ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgendetwas, vielleicht eine
Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.“, schrieb der
Autor in seinem hellsichtigen Essay "Literatur+Krankheit=Krankheit".
Bolaño zu lesen ist mit Sicherheit immer wieder ein brillantes Abenteuer, weil
es keinen typischen Bolaño-Ton gibt, weil er formale Offenheit praktiziert,
erwartete Begegnungen stets ausbleiben und klug ausgelegte Spuren ins Nichts
führen.
Roberto Bolaño
Lumpenroman
Originaltitel: Una novelita lumpen
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Carl
Hanser Verlag, München (August 2010)
112
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3446235469
ISBN-13:
978-3446235465
Preis:
14,90 EURO
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