Erschienen in Ausgabe: No. 15 (1/1999) | Letzte Änderung: 26.01.09 |
Das Mitsein in Heideggers Daseinsanalysen und die Kritik durch Lévinas
von Matthias Nöther
"Jeder ist der Andere und Keiner er selbst." M.Heidegger, "SEIN UND ZEIT" 1 "Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen läuft nicht immer auf die Erkenntnis des Anderen durch das Selbe hinaus, ja nicht einmal auf die Offenbarung des Anderen für das Selbe..." E. Lévinas, "TOTALITÉ ET INFINI"2 "Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen läuft nicht immer auf die Erkenntnis des Anderen durch das Selbe hinaus, ja nicht einmal auf die Offenbarung des Anderen für das Selbe..." E. Lévinas, "Totalité et Infini" 2
*
Das Problem der Intersubjektivität, also der Wahrnehmung, Erkenntnis
des Anderen durch das Subjekt und seiner Beziehung zu ihm, spielt in
der phänomenologischen Forschung seit ihrem Begründer Edmund Husserl
(zuerst in den "LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN", 1901) eine Rolle wie in der
abendländischen Philosophie nie zuvor. Vor allem in den Werken neuerer
französischer Philosophen wie Sartre, Merleau-Ponty und Lévinas, die
sich der Phänomenologie Husserls bzw. Heideggers verpflichtet fühlten,
nimmt dieses Thema mitunter eine zentrale Stellung ein. Eine wichtige
Voraussetzung für die Erkenntnisse dieser Denker über die
Intersubjektivität bilden jene phänomenologischen Erkenntnisse über das
Selbstbewußtsein, das in den zuerst von Husserl durchgeführten
neuartigen Untersuchungen nicht mehr traditionell als Subjekt oder
Selbst interpretiert werden soll, sondern über das zunächst nicht mehr
feststehen darf, als daß es einen Erlebnismittelpunkt darstellt.
Eine scheinbar völlige Auflösung des Selbst geschieht allerdings erst
in Martin Heideggers "SEIN UND ZEIT" (1927). In seinem frühen Hauptwerk
setzt sich Heidegger von seinem Lehrer Husserl ab, der in seiner
sogenannten "transzendentalen" Spätphase ein dem Subjekt vergleichbares
Ego einsetzte, wodurch die Setzung des Anderen als "alter ego" kein
grundsätzliches Problem mehr darstellte. Heideggers sehr eigener Weg
der Phänomenologie dagegen, der gerade in den Daseinsanalysen aus "SEIN
UND ZEIT" sichtbar wird, macht es, wenn man sich ausschließlich im
heideggerschen "System" bewegt, sehr schwer oder sogar unmöglich, eine
Wahrnehmung des anderen Menschen im landläufigen Sinne überhaupt zu
denken. Durch die - gewissermaßen - Auflösung des Selbst nämlich
erscheinen die Bedingung der Möglichkeit dieser Wahrnehmung elementar
verändert.
Gegenstände der vorliegenden Arbeit sind sowohl
die Rolle des Selbst und der Anderen ("SEIN UND ZEIT", Abschnitt 1, 4.
Kapitel, §§25-27) in Heideggers sogenannter, in den Daseinsanalysen
grundlegend entwickelter "Fundamentalontologie" als auch die Kritik
dieses Intersubjektivitätsbegriffs durch den Heidegger-Schüler Emmanuel
Lévinas. Lévinas (Hauptwerk "TOTALITÉ ET INFINI", 1961) äußert seine
wesentlichen Einwände innerhalb eines ganz eigenen Systems
intersubjektiver Beziehungen. Die Untersuchung seiner Thesen wird
vorzüglich anhand der Schrift "IST DIE ONTOLOGIE FUNDAMENTAL?" (1967)
durchgeführt werden.
In der Seminararbeit, die der vorliegenden Veröffentlichung zugrunde
lag, nahm die Ausführung und Erläuterung der unkonventionellen
"SEIN-UND-ZEIT"-Terminologie breiten Raum ein. In diesem Text mußte ich
aus Platzgründen darauf verzichten, um nicht die durch den Titel
benannte Thematik des Anderen zu vernachlässigen. Falls also die für
Heideggers Denken so wichtigen Begriffe wie "Dasein", "Weltlichkeit",
"Existentialien", "In-der-Welt-sein", Zuhandenheit", "Zeug",
"Jemeinigkeit" usw. nicht genügend bekannt sein sollten, bitte ich, sie
in "SEIN UND ZEIT" oder in der einschlägigen Heidegger-Literatur
nachzulesen.
Die Frage nach dem Wer des Daseins nach dem Verlust des Selbst
"Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Dasein ist je
meines."3 Diese Feststellung hatte Heidegger in "SEIN UND ZEIT" bereits
in "§9: Das Thema der Analytik des Daseins" getroffen, muß er am Beginn
des ersten von drei Paragraphen zum Thema der "Anderen" wiederholen.
Dieser §25 trägt den Titel:
Nachdem dieser Gedanke in §9 von "Sein und Zeit" erstmals formuliert
wurde, wird er erst in "§25: Der Ansatz der existentialen Frage nach
dem Wer des Daseins"4näher ausgeführt, weil sein ursprünglicher Zustand
entscheidende Fragen offenläßt, die im folgenden zwangsläufig zu
Fehlschlüssen führen müssen. Die Feststellung in §9, daß "das Sein
dieses Seienden [des Daseins][] je meines" 5 ist, läuft noch im
gleichen Paragraphen hinaus auf: "Das Seiende, dem es in seinem Sein um
dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten
Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit und es 'hat' sie nicht nur
noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes."6 "Jemeinigkeit", wie
Heidegger die Setzung, daß das Dasein je meines ist, substantiviert,
ist hiermit indirekt als Existential (als Seinsweise des Daseins)
festgestellt. Und daß es ein solches ist, könnte im Grunde schon vor
dem Mißverständnis bewahren, daß sich dennoch in §25 aufdrängt: Führt
diese Setzung der Jemeinigkeit, also daß das Dasein sich selbst
übereignet ist, nicht implizit die These mit sich, daß da ein Ich
selbstbewußt handelt? Die grundlegende Differenz zwischen den so
ähnlich scheinenden Aussagen einerseits vom Dasein, das je meines ist
und andererseits der von einem Subjekt, das sich selbst setzt, wird
verdeutlicht durch den Begriff der Alltäglichkeit.
In der phänomenologischen, vortheoretischen Einstellung geben sich uns
die Dinge zunächst (und auch zumeist) als Zuhandenes. Das Zuhandene
konstituiert die Welt 7. Dazu analog erfahren wir unser Dasein zunächst
und zumeist in der Weise der Alltäglichkeit. Es geht nicht etwa um ein
bestimmtes Existieren, von dem das "eigentliche", "unverhüllte" Dasein
in einem theoretischen Vorgang abdifferenziert werden müßte; vielmehr
ist die Alltäglichkeit vom Dasein indifferent. Sie ist ein Existential
und kann sich beispielsweise als Selbstvergessenheit oder als
Selbstverlorenheit äußern. Auf der Hand liegt, daß gerade in diesen
beiden Modi der Alltäglichkeit jenes Subjekt, das sich selbst setzt,
nicht denkbar ist, weil es sein Selbst zeitweilig verloren hat.
Trotzdem, und das ist entscheidend, befindet sich das Dasein unbedingt
gleichzeitig in diesen Modi und in der Weise der Jemeinigkeit. Aus der
Jemeinigkeit folgt also nicht zwangsläufig, daß sich das Dasein als Ich
versteht.
Die Frage nach dem Wer des Daseins, die §25
formuliert, ist mit der Jemeinigkeit des Daseins nicht beantwortet. Und
aus dem Vorigen ist leicht zu ersehen, daß sie schon gar nicht
beantwortet ist durch das faktische Wissen des Daseins um sein Selbst,
denn das Selbst hält sich nicht durch, sondern kann, wie gesagt,
verloren oder vergessen werden. Deswegen ist es, laut Heidegger,
unbedingt notwendig, "die phänomenologische Interpretation des Daseins
bezüglich der jetzt zu stellenden Frage" - eben die nach dem Wer des
Daseins - "vor einer Verkehrung der Problematik [zu] bewahr[en]" 8-
nämlich daß jenes vermeintlich fundamentale Selbst als Prämisse an den
Anfang der Untersuchung gestellt wird. Nicht zuletzt mit diesem
Problembewußtsein läßt Heidegger die Phänomenologie Husserls hinter
sich, bei der immer ein gewisser, methodischer Solipsismus 9
unüberwindlich schien. Denn das transzendentale Ego, von Husserl so
benannt, dessen Ort die phänomenologische Einstellung ist, mit der man
dem Bewußtseinsprozeß zusieht10, muß Erlebnismittelpunkt bleiben und
ist damit sicher: Es konnte und mußte also von Husserl als Prämisse
gesetzt werden. So räumt Heidegger in §25 auch durchaus die Evidenz der
Setzung eines Ich ein für die "'formale Phänomenologie des
Bewußtseins'"11, was aus seiner Sicht von Husserl betrieben worden war.
In der Fundamentalontologie Heideggers wird diese Setzung wie gesagt
unmöglich: Immer wieder betont Heidegger in "SEIN UND ZEIT", daß Dasein
einem Ich in keiner Weise wesensgleich ist, was am deutlichsten daran
zu sehen ist, daß das Dasein niemals Eigenschaften besitzt, die von ihm
selbst herausstellbar wären, sondern Seinscharaktere (Existentialien),
auf die hin es durchsichtig zu machen ist. "Wenn das 'Ich' eine
essentielle Bestimmung des Daseins ist, dann muß sie existential
interpretiert werden." 12 Eine solche Bestimmung ist es, denn rein
faktisch sieht das Dasein - von Descartes wurde es eloquent formuliert
- seine sichere Grundlage in seinem Ich. Vom Standpunkt der
Phänomenologie aus heißt das: Das Ich gibt sich dem Dasein als
Phänomen; wenn das Ich dem Dasein als Phänomen verständlich wird bzw.
im Vorhinein immer schon verständlich ist, legt dies nahe, daß das Ich
von einer bestimmten Seinsweise des Daseins, einem Existential
abzuleiten ist. Denn das Dasein muß ja offen sein für ein Verstehen des
Ich. Das würde uns auf eine andere Weise als zuvor auf die Frage nach
dem Wer des Daseins führen: "Das Wer ist dann nur zu beantworten in der
phänomenalen Aufweisung einer bestimmten Seinsart des Daseins."13
"Die Klärung des In-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zunächst 'ist' und
auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende
ebensowenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen." 14
Hier ergibt sich eine bemerkenswerte Kongruenz
der Anderen zum Zuhandenen, denn beide begegnen als solche in der Welt.
Sie sind Momente der Welt und konstituieren sie gleichzeitig.(siehe
Anmerkung15) Nun würde Heidegger starke Ablehnung provozieren, wenn er
versuchte, die Anderen als nicht daseinsmäßiges, in der Welt Seiendes
zu charakterisieren, das sich dem Dasein ebenso gibt wie Zuhandenes
oder Vorhandenes. Diese kann das Dasein durch seine Weltlichkeit
erfahren. Doch die Anderen sind nicht etwa zuhanden; ihr Phänomen
erfährt das Dasein durch sein Existential des Mitseins, dort, wo die
Weltlichkeit allein keine Erklärungsmöglichkeit des Verstehens von
Anderen mehr bietet. "Die Aufgabe ist, die Art dieses Mitdaseins in der
nächsten Alltäglichkeit phänomenal sichtbar zu machen und ontologisch
angemessen zu interpretieren." 16
Letztendlich wird in §27 eine gültige Antwort auf die Frage nach dem
Wer des Daseins gegeben: Das "Man" wird als eine seiner Seinsweisen
herausgestellt. Daß vielmehr dies das Existential ist und das Selbst
dann nur ein Modus seiner, nicht etwa umgekehrt, wird schon im vorigen
Paragraphen, eben dem über das Mitsein, einleuchtend.
Vielleicht bleibt gerade dadurch, daß alles in diesem gedanklichen
Abschnitt auf die Feststellung des Man hinausläuft, die Analyse
speziell des Anderen relativ unbefriedigend, also jene der
Fremdwahrnehmung explizit, welche eigentlich von einem Phänomenologen
wie Heidegger in gründlichster Weise zu erwarten wäre. Und selbst in
der schon erwähnten Herausstellung des Mitseins als Existential bleiben
Fragen offen, wenn wir die Untersuchung mit bestimmten
Problemstellungen konfrontieren.
Zuerst zur bereits angesprochenen Kongruenz von In-der-Welt-sein und
Mit-sein:
Das innerweltlich Seiende begegnet dem Dasein in der Seinsweise des
Zuhandenen. Dadurch, daß die Zuhandenheit als Seinsweise des
innerweltlich Seienden herausgestellt wird und nicht einfach als
Eigenschaft, die wir subjektiv und immer an ihm erkennen, erhält es
Unabhängigkeit und kann auf diese Weise auch an sich sein. Im
Vergleich: Der Andere oder die Anderen (analog zum innerweltlich
Seienden) begegnen dem Dasein in der Seinsweise des Mitseins (analog
zum Zuhandenen). Durch dieses Existential sind die Anderen dem Dasein
im Vorhinein auf ein Verstehen freigegeben. Worauf es Heidegger mit
dieser These vor allem ankommt: "Das Mitsein und die Faktizität des
Miteinanderseins gründet daher nicht in einem Zusammenvorkommen von
mehreren 'Subjekten'." 17 Durch sein wesenhaftes Mitsein verschmilzt
das Dasein vor allem Verstehen mit den Anderen, deren faktisch
verstandene Vorhandenheit ist nur eine Folge des Mitseins.
Zunächst begegnen die Anderen durch Zuhandenes, das auf sie verweist.
Hier werden in der Analyse die Anderen dem Zuhandenen, welches ja
selbst ständig gegenseitig auf sich verweist, sehr ähnlich. Ich meine,
daß die Begründung einer Vorgängigkeit des Verstehens von Anderen durch
ein angenommenes Mitsein den Autor nicht der Erlärung entheben kann,
wodurch sich das Phänomen des Anderen von dem des Zuhandenen
unterscheidet. Eher drängt sie sich auf, und zwar durch eine Reihe von
Behauptungen wie dieser: "Die Welt des Daseins gibt (...) Seiendes
frei, das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist,
sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des
In-der-Welt-seins 'in' der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich
begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist
so, wie das freigebende Dasein selbst - es ist auch und mit da." 18
Müßte nicht der phänomenale Unterschied zwischen Zuhandenem und Anderen
herausgestellt werden, sogar bevor die Behauptung des Existentials
"Mitsein" erfolgen kann, welchem ja schon die Feststellung der
Verschiedenheit von einerseits sowohl Vor- als auch Zuhandenem,
andererseits von Anderen vorausgehen muß? Diese Feststellung von
Verschiedenheit erfolgt jedenfalls nicht durch die Erklärung, daß auf
das eine wie auf das andere durch Zuhandenes verwiesen wird. Zur
Anschaulichkeit: Ein konkretes Beispiel wäre das Boot am Strand, das
durch seine Zuhandenheit auf seinen Besitzer, egal ob an- oder
abwesend, verweist. Wir erinnern uns an den Seinsmodus der
Selbstverlorenheit in Gegenüberstellung zu dem des bewußten Ich; wer
sagt uns, daß wir - zu einem anderen Zeitpunkt als dem der Betrachtung
- das Boot nicht selbst uns zuhanden machen und verwenden, zu welchem
Zeitpunkt wir nicht im Seinsmodus des Ich, sondern in jenem der
Selbstverlorenheit uns befinden?
Wir sehen, was hier die Auflösung eines Selbst als vorauszusetzendem
Erlebnismittelpunkt bewirkt: Dadurch, daß das Dasein wesenhaft Mitsein
ist, also indifferent von ihm, wird eine Erklärung des eigentlichen
Phänomens des Anderen völlig unmöglich, während dieses naturgemäß
weiter im Raum steht. Und doch erklärt Heidegger die Anderen und das
Zuhandene als teilweise verschiedenartig (wovor natürlich dann auch die
vermißte Erklärung hätte erfolgen müssen). So steht der Andere in
folgender Hinsicht bei Heidegger auf einer "höheren" Stufe als das
Zuhandene.
"Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat aber
nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses
Seiende wird nicht besorgt, sondern steht in der Fürsorge."19 Die
Fürsorge kann sich äußern einerseits in den positiven Modi der
"Rücksicht" und der "Nachsicht" (kongruent zur "Umsicht" beim
Zuhandenen)20. Heidegger hält es für notwendig, andererseits auch
sogenannte defiziente Seinsmodi der Fürsorge zu erwähnen (z.B. "das
Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das
Einander-nichts-angehen"21) Jede erdenkliche Beziehung zum Anderen kann
nach Heidegger als Modus der Fürsorge erklärt werden. Das ist deshalb
bemerkenswert, weil es beim Zuhandenen zumindest jene defizienten Modi
nicht ausdrücklich gab. Zuhandenes, das nicht begegnet und damit auch
nicht irgendwie verstanden werden kann (Damit wäre es dann doch auch
kein Zuhandenes!), wird lediglich benannt "als unverstandenes Zeug, als
Zuhandenes, mit dem man bislang 'nichts anzufangen' wußte, was sich
demnach der Umsicht noch verhüllte."22 Auch im folgenden Satz laviert
er sich geschickt an der Benennung des "unverstandenen Zeugs" vorbei:
"Man darf auch hier wieder nicht die umsichtig noch unentdeckten
Zeugcharaktere von Zuhandenem interpretieren als bloße Dinglichkeit,
vorgegeben für ein Erfassen des nur noch Vorhandenen."23
Mit der Nennung der defizienten Modi der Fürsorge (s.o.) wird,
jedenfalls was den Anderen betrifft, eine Vorentdecktheit ausdrücklich.
Denn auch im Ohne-einandersein oder im Aneinandervorbeigehen ist der
Andere vorgängig erschlossen. Die Vorentdecktheit wird dann
selbstverständlich beinhaltet im Existential des Mitseins, Dasein ist
Mitsein. Diese Erklärung, bei der wir offensichtlich immer wieder
ankommen, macht es dem Autor bequem, sich eine echte Analyse des
Phänomens des Anderen zu ersparen. Er wird sich fragen lassen müssen,
was denn rein phänomenal verhindert, daß sich mir ein Stein in der
Seinsart des Mitdaseins gibt? Um nur kurz zu demonstrieren, wie auch
unter Berücksichtigung phänomenologischer und ontologischer
Problemstellungen das Problem des Anderen auf stimmige Art und Weise zu
lösen wäre, auch damit schon hier einen Ausblick gegeben wird auf die
weiter unten zu besprechende Infragestellung der Fundamentalontologie
Heideggers durch Emmanuel Lévinas, sei hier auf dessen Grundansatz
verwiesen. Lévinas zieht seine Folgerungen aus der These, daß der
Andere eben nicht vorgängig in seinem Sein verstanden ist. "Vom
Verstehen des Anderen ist seine Anrufung [!] untrennbar." 24
In Heideggers Fürsorge-System allerdings findet gerade die Sprache
keinen Platz. Der Versuch, sie als Seinsmodus des Existentials Fürsorge
zu denken, über das in "SEIN UND ZEIT" jegliches Miteinandersein läuft,
kann nicht vollends gelingen, wenn man den Fürsorge-Begriff im
heideggerschen Sinne beibehalten will. Er kann nicht gelingen, auch
wenn gerade die positivsten Modi der Fürsorge, darunter die "Fürsorge"
im gebräuchlichen Sinne des Wortes, nur in beschränktem Maße
vorstellbar sind ohne die Sprache. Vielleicht wird die Sprache nicht
zuletzt aus dem Grund, daß sie unter besagtem Existential keinen Platz
finden würde, in diesem Zusammenhang (§§26,27) bei Heidegger überhaupt
nicht erwähnt.
Doch all diese Einwände, von denen keiner wirklich "Fehler im System"
Heideggers herausstellt, können und sollen nicht vom Gedankengang des
vierten Kapitels aus "SEIN UND ZEIT" ablenken, das in §27 auf die
Herausstellung des Man als Seinsweise des Daseins hinausläuft. Hierzu
sind §25 - mit seiner Klärung des Unterschiedes zwischen Jemeinigkeit
und Selbst - und §26 - mit der Vorstellung der Existentiale Mitsein und
Fürsorge - nur die notwendige Einleitung.
Im Zusammenhang mit dem Weltbegriff und dem In-der-Welt-sein ist bei
Heidegger die Rede von der Verwiesenheit: Ein Zuhandenes verweist durch
sein "Wozu" auf ein anderes Zuhandenes. Das Verweisungsganze mündet
letztendlich in ein "Worum-willen" in Bezug auf das Dasein, dem es
wesenhaft immer um sich selbst geht. Diese Verweisungen sind kein
Bewußtseinsprozeß, sondern machen die Welt aus (siehe Anmerkung25), die
dem Dasein durch seine Weltlichkeit vorgängig erschlossen ist. Noch
nicht erwähnt wurde, daß sich auch hier wieder eine Kongruenz ergibt
zwischen der Sorge um das Zuhandene und der Fürsorge um die Anderen. In
der Weise des Mitseins, in der sich das Dasein befindet, ist das Dasein
Um-willen Anderer. Das heißt, der Charakter der Verwiesenheit besteht
bei den Anderen nicht in einem "Wozu", sondern in einem "Worum-willen",
und zwar, weil auch sie sich in der Seinsart des Daseins befinden.
Warum das Dasein wesenhaft zugleich um seiner selbst willen und um
Anderer willen sein muß, wird in "§27: Das alltägliche Selbstsein und
das Man" 26 in seiner Zwangsläufigkeit deutlich - es besteht einfach
kein Unterschied zwischen dem Dasein "Anderer" und dem "eigenen": Sie
verschmelzen zum Man. Warum Heidegger im vorigen Paragraphen die
phänomenologische Untersuchung der Fremdwahrnehmung eher oberflächlich
betrieb (was nicht heißt, das diese überflüssig gewesen wäre), kann die
Beschreibung des Man deutlich machen: "Diese Anderen sind dabei nicht
bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten.
Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein
unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört
zu den Anderen und verfestigt ihre Macht." 27 (siehe Anmerkungen)
"Zunächst 'bin' nicht 'ich' im Sinne des eigenen Selbst, sondern die
Anderen in der Weise des Man." 28 Da es deswegen zwangsläufig im
alltäglichen Dasein weder bestimmte Andere noch ein bestimmtes Selbst
gibt, befindet sich das Dasein zunächst in der Weise des Man-selbst.
"Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so." 29
Das Man wird als das große, nicht faßbare, nicht-gegenständliche
Neutrum beschrieben, das (dies nur als Beispiel) gleichzeitig das Wesen
der Öffentlichkeit und der Grund für ihre Anonymität ist. Im
Zusammenhang mit der Öffentlichkeit zeigt sich das Existential Man in
seinem Seinsmodus der Einebnung, die zum Beispiel dafür sorgt, daß
Dinge sowie Sachverhalte in das Gewöhnliche, alles Relativierende
eingebettet werden. Vermutlich ist von Heidegger diese These dermaßen
prinzipiell verstanden, daß selbst schon durch bloßes Benennen das so
Benannte, welches dann durch die alltägliche Sprache erschlossen ist,
eingeebnet und damit in seinem Sein undurchsichtig wird und bleibt.
"Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten." 30
Heidegger selbst hat bekanntlich nie eine explizite ethische Abhandlung
verfaßt, für die seine "Fundamentalontologie" eine Grundlage gebildet
hätte (und er hat auch sonst keine verfaßt). Ethik aus einem komplexen,
einheitlichen philosophischen System zu entwickeln, wie es im obigen
Versuch in Anlehnung an das System Heideggers andeutungsweise probiert
wurde, ist in der neuzeitlichen Philosophie, insbesondere bei Kant und
im Idealismus, nichts ungewöhnliches. Diese Moralphilosophie läuft,
wenn auch nicht auf einen ausdrücklich formulierten kategorischen
Imperativ, so doch meistens auf ein nicht zu verhehlendes "du sollst"
hinaus. Davon verschieden wäre eine Ethik des anderen Menschen, die,
von dessen Phänomen ausgehend, kein ontologisches System benötigt. Weil
sie dies nicht tut, würde diese Ethik eine "Fundamentalontologie", die
dem Anspruch ihres Namens gerecht werden wollte, in ihre Schranken
verweisen.
Gezeigt worden war, daß das Phänomen des anderen Menschen in Heideggers
"SEIN UND ZEIT"-Systematik keine Rolle spielt. Eine Ethik jedoch
beruht, das würde auch Heidegger nicht leugnen, zu einem grundlegenden
Teil auf der "Einfühlung"46 in den Anderen. "Was so phänomenal
'zunächst' eine Weise des verstehenden Miteinanderseins darstellt [die
Einfühlung, M.N.], wird aber zugleich als das genommen, was
'anfänglich' und ursprünglich überhaupt das Sein zu Anderen ermöglicht
und konstituiert." 31 Das ist nach seiner Meinung natürlich eine nicht
zu billigende Tendenz, die, aufgrund ihrer Konfrontation von Ich und
Anderem, aus phänomenologischer Sicht in den Bereich der
Subjektphilosophie zu verbannen ist. Hier richtet sich Heidegger in
bester phänomenologischer Tradition gegen die "empirische Psychologie",
die am Ende des 19. Jahrhunderts Blüten trieb; die Phänomenologie kann
zwar die Einfühlung, das "Verstehen 'fremden Seelenlebens'" 32, als
reines Phänomen akzeptieren, doch als wissenschaftliches, gar
philosophisches Fundament ist sie inakzeptabel. Aber wie wir bereits
gesehen haben, kann das Phänomen des Anderen, das zur Erklärung der
"Einfühlung" unzweifelhaft notwendig wäre, mit Heidegger nicht auf eine
direkte Art untersucht werden. Im Man ist "jeder [...] der Andere und
Keiner er selbst". 33 Das Dasein ist wesenhaft Mitsein und das Man
somit eine Sackgasse, weil es eine phänomenologische Erforschung des
anderen Menschen unmöglich macht.
Es ist mit Emmanuel Lévinas (1913-95) wiederum ein Phänomenologe, der
den Daseinsanalysen aus "SEIN UND ZEIT" eine gewisse
Traditionsgebundenheit nachweisen kann, nichtsdestoweniger er selbst
natürlich, wie die ganze phänomenologische Schule Frankreichs, in der
Tradition Husserls und Heideggers steht. Diese Nachweisung ist deshalb
äußerst bemerkenswert, weil sie genau an dem Punkt ansetzt, wo
Heidegger beanspruchte, absolutes Neuland erschlossen zu haben:
Er untersuchte das Seiende vor dem Horizont des Seins. Gerade in dieser
Aufgabenstellung, die als Fundamentalontologie ein nötiges Erfassen
jenes Horizontes in Anspruch nimmt, sieht Lévinas, daß sich Heidegger
"der großen Tradition der westlichen Philosophie anschließt"34.
Auch wenn Heidegger in "SEIN UND ZEIT" vorausschickt und immer wieder
betont, daß "das Wesen des Daseins in seiner Existenz"35 liege und man
es deswegen nicht auf bestimmte wesentliche "Eigenschaften" hin
untersuchen könne, benennt er doch die Weisen, auf die das Dasein ist:
die Existentialien. Mit der "Fundamentalontologie", aus deren
Perspektive diese Benennung nach Heidegger erst möglich wird,
verschafft dieser sich (aus der Sicht von Lévinas) die gleiche
Meta-Ebene, von der aus die ganze Philosophie der abendländischen
Tradition das Wesen des Menschen gedeutet hatte. (siehe Anmerkung36)
Das Traditionelle beruht, so Lévinas, eben darin, daß Heidegger ein
Besonderes, nämlich das Verstehen des Seienden als Seiendes, vor den
Hintergrund eines Allgemeinen stellt, nämlich die Erkenntnis des Seins.
Sie macht möglich, daß das Seiende erschlossen und dadurch vorgängig
verstanden ist. Das Erkennen des Seinshorizontes führte implizit mit
sich, daß das Sein (genauer: das Dasein) auf seine Seinsweisen hin
durchsichtig zu machen war. Die Erkenntnis, die das Dasein hat/ist und
von der Heidegger lediglich beansprucht, sie durch die Festmachung von
Seinsweisen, den Existentialien, formuliert zu haben, macht das Dasein
ontologisch. So wie es die Dinge als Zuhandenes versteht durch sein
vorgängiges Verstehen von Welt, eben durch seine Erkenntnis
(Weltlichkeit ist Erkenntnis), so versteht es den Anderen vorgängig
durch die Seinsweise/Erkenntnis des Mitseins. Letzteres wird von
Lévinas bestritten.
Er bestreitet es nicht nur in der kleinen Schrift, die hier untersucht
werden soll, sondern dieses Bestreiten ist geradezu Essenz und Methode
seines 1961 erschienenen Hauptwerks, das bezeichnenderweise schon in
seinem Titel ("TOTALITÉ ET INFINI") eine elementare Konfrontation
verrät: Das Seiende vor dem Horizont des Seins (die Totalität) wird
gegen ein Seiendes gestellt, das durch seine Unendlichkeit nicht
zusammen mit seinem Horizont gefaßt werden kann und das so als Seiendes
nicht verstehbar ist - das Antlitz des anderen Menschen.
Bei Heidegger beinhaltet der Begriff Dasein ein Vermögen: Der Terminus
"zuhanden machen" assoziiert, nicht unbedingt gewollt, daß Dasein es
vermag, die Dinge für sich zu ergreifen, sie "als Seiendes zu
begreifen", sie "als Seiendes" aus dem Horizont "herauszulösen", sie
"sein zu lassen"37. Nun ist die Jemeinigkeit, also daß das Dasein sich
selbst gegeben ist, daß es "da" ist, eine ebensolche Seinsweise des
Daseins wie das Mitsein, das ja im folgenden als unplausibel
aufgewiesen werden wird. Was passiert, wenn das Dasein in seinem Wesen,
das ja gleichzeitig seine "Möglichkeit" 38, sein Vermögen ist, als
nicht zu erkennen ausgewiesen wird? Mit der Aufweisung, daß auch nur
eine einzige Seinsweise unplausibel ist, werden auch alle anderen
hinfällig. Dann kann vom Dasein nicht mehr gesprochen werden. Zurück
bleibt das nicht verstehende Selbst, der unvermögende Mensch. Und so
scheut sich Lévinas nie, sozusagen "schlicht und ergreifend", eher vom
Menschen als vom Dasein zu sprechen.
Die weiter oben eher polemisch gestellte Frage, wie denn Heidegger mit
Mitteln der Fundamentalontologie verhindern will, daß zum Beispiel ein
Stein im Mitsein und somit möglicherweise auch als Anderer begegnet,
kann mit Lévinas durchaus beantwortet werden. Einen Unterschied
zwischen dem Verständnis von Seiendem von der Seinsart des Zuhandenen
und Seiendem von der Seinsart des Daseins hatte Heidegger ohne weiteres
eingeräumt. Umso merkwürdiger erschien es deshalb, daß sich dann das
Mitsein nur in unwesentlichen Punkten von der Weltlichkeit abhob.
(Allerdings muß bedacht werden, daß Heidegger ja sein System von
Existentialien völlig ausgehebelt hätte, wenn er einen wesenhaften
Unterschied zwischen Weltlichkeit und Mitsein zugegeben hätte: Dasein
ist wesenhaft Welt, Dasein ist wesenhaft Mitsein, also umschließt die
Welt auch wesenhaft das Mitsein.) Nach der Analyse des vorgängigen
Verständnisses von Welt über das Verweisungsganze des Zuhandenen waren
in "SEIN UND ZEIT" auch die Anderen anhand von Verweisungen durch
Zuhandenes als erschlossen vorgestellt worden. Warum es fraglich
bleibt, daß Zuhandenes in den von Heidegger genannten Beispielen
unbedingt auf Mitseiendes verweist, habe ich weiter oben erläutert. Die
Fraglichkeit ergibt sich einfach daraus, daß wie gesagt der Unterschied
zwischen dem Verständnis von Zuhandenem und Mitseiendem in Heideggers
System viel zu gering ist, wenn er überhaupt besteht.
Hier ließe sich mit Lévinas ansetzen. Eben dort geht Heidegger seiner
Meinung am Wesen der Fremdwahrnehmung und damit am Wesen des Menschen
vorbei, wo er versucht, ihn unterschiedslos wie anderes Seiendes als
ebenfalls seiend vor den Seinshorizont zu stellen, und das eben wegen
dem vermeintlichen Wissen um die "Natur" des Menschen: "Es handelt sich
nicht so sehr darum, [...] zu sagen, worin die Natur des Menschen
besteht. Es handelt sich vor allem darum, dem Menschen den Platz
ausfindig zu machen, wo er aufhört, uns vom Horizont des Seins her
anzugehen, d.h. sich unserem Können darzubieten." 39 Natürlich ist uns
auch der Andere wie ein Zuhandenes vorgängig erschlossen, denn er
begegnet ja wie Zuhandenes in der Welt. Aber aus der Sicht von Lévinas
macht es sich Heidegger leicht, indem er Zuhandenes - und damit auch
die Mitwelt - begegnen läßt. Er selbst meint, in diesem Zusammenhang
einen wesentlichen Unterschied feststellen zu müssen zwischen
Erkenntnis und Begegnung, was für Heidegger notwendig eins war.
Zuhandenes besagt implizit, daß Dasein es immer schon verstanden hat.
"Begegnen lassen" hieß bei Heidegger "vorgängig verstanden haben", was
wiederum gleichzusetzen war mit der Erkenntnis des Seinshorizontes.
Doch der andere Mensch, wie ihn Lévinas vorstellt, ist nicht vorgängig
verstanden, während er doch unzweifelhaft begegnet. "Der Mensch ist das
einzige Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung
selbst auszudrücken. Genau dadurch unterscheidet sich die Begegnung von
der Erkenntnis." 40
Dieser Ausdruck vollzieht sich als Sprache. "(...) die Person, mit der
ich in Beziehung bin, nenne ich Seiendes, aber während ich sie Seiendes
nenne, rufe ich sie an." 41 Hier ist es nicht etwa so, daß das
Ansprechen des Anderen voraussetzt, daß ich ihn zuvor schon verstanden
habe. Der Sprechakt ist kein Zeichen für ein Verständnis, sondern der
Sprechakt ist Verstehen. Diese Gleichzeitigkeit, die auf gegenseitiger
Immanenz von Ansprechen und Verstehen beruht, ist das Entscheidende.
Der Husserlsche Terminus der "überspringenden Intention" paßt wohl auf
nichts mehr als auf das Phänomen des Anderen. Dies wird deutlicher,
wenn man das Verhältnis Verstehen-Sprache so formuliert, daß Sprache
das "Verfahren des Verstehens" 42 sei. Nehmen wir einmal an, daß der
Andere, entsprechend einem Zuhandenen, vorgängig als Seiendes
verstanden ist (dadurch natürlich noch nicht verstanden im Sinne
Lévinas') und nehmen wir an, daß Sprache das "Besorgen" des Anderen
darstellt, dann wird der Andere, der bis dahin nur als Seiendes
verstanden ist, in diesem Ansprechen ständig überschritten - und so
erst eigentlich als anderer Mensch verstanden. "Sie [die Person, M.N.]
ist mein Teilhaber, sie teilt mit mir die Beziehung, durch die sie mir
nur gegenwärtig werden sollte. Ich habe mit ihr gesprochen, das heißt,
ich habe das universale Sein, das sie verkörpert, vernachlässigt, um
mich an das partikulare Seiende zu halten, das sie ist. Die Formel
'Bevor ich mit einem Seienden in Verbindung stehe, muß ich es als
Seiendes verstanden haben', verliert hier ihre strikte Anwendung: Indem
ich das Seiende verstehe, sage ich ihm gleichzeitig mein Verstehen." 43
Faszinierend ist es, nachzuvollziehen, wie Lévinas aus diesem
Unvermögen über den anderen Menschen die ethische Bedeutung des Anderen
gewinnt. Die Erkenntnis der Dinge ist eine Aneignung, gewissermaßen
eine Ausübung von Macht. Doch beim Ansprechen des Anderen tritt das
Verstehen als solches zurück hinter das Verstehen einer spezifischen
Gemeinschaft, "ohne daß diese Gemeinsamkeit sich auf irgendeine
Eigenschaft, die an dem Gegebenen hervortreten würde, zurückführen
ließe, ohne daß die Erkenntnis den Vorrang vor der Gemeinschaft
gewinnen könnte." 44 Wenn die Erkenntnis doch die Oberhand behält, tue
ich dem Anderen paradoxerweise die Gewalt des Nichtverstehens als
Teilhaber an. Und so verhindert der Anblick des menschlichen Antlitzes
und das daraus resultierende Ansprechen - auch in allen seinen
defizienten Modi, so dem Schweigen oder Wegsehen - das Töten, das ich
nur wollen kann, wenn mir zuvor das Teilhabende im anderen Menschen
verborgen blieb.
In seinem Gesamtwerk überträgt Lévinas das beim Anderen entdeckte
Antlitz in einer phänomenologischen Art und Weise auf die Gesamtheit
dessen, was in der Welt begegnet, das Zuhandene, die Dinge. Er schafft
ein System, ausgehend vom eigenartigen Charakter der Fremdwahrnehmung.
Doch schon allein in der Beschreibung der Fremdwahrnehmung weist
Lévinas mit dem Aufzeigen der mangelnden Allgemeingültigkeit von
Heideggers Daseins-analysen den Weg aus der Fundamentalontologie.
Dasein ist nicht wesenhaft Mitsein; aber, wenn Lévinas den Anderen dann
auch in den Dingen wiederfindet, die daraufhin auch nicht mehr eine
"Weltlichkeit" des Daseins rechtfertigen können - was ist Dasein dann
noch?
Anmerkungen
1) Martin Heidegger: "SEIN UND ZEIT", Tübingen 1993. S.128
2)Emmanuel Lévinas: "TOTALITÄT UND UNENDLICHKEIT", München 1997,
Übersetzung aus dem Französischen von Wolfgang Nikolaus Krewani. S.30
3) M.Heidegger: "SEIN UND ZEIT". S.114
4) ebd. S.114
5) ebd. S.41
6) ebd. S.42
7) siehe: §16,: "Die am innerweltlich Seienden sich meldende Weltmäßigkeit der Welt", §17:"Verweisung und Zeichen"
8) ebd. S.115
9) nach Maurice Merleau-Ponty: "KEIME DER VERNUNFT", Vorlesungen an
der Sorbonne 1949-52", München 1994, Übersetzung aus dem Französischen
von Antje Kapust. S.55
10) nach Rüdiger Safranski: "EIN MEISTER AUS DEUTSCHLAND. HEIDEGGER UND SEINE ZEIT", Frankfurt 1997. S.98
11) M.Heidegger: "SEIN UND ZEIT". S.115
12) ebd. S.117
13) ebd. S.117
14) ebd. S.116
15) Zum Verweisungscharakter des Zuhandenen siehe "§ 17: Verweisung
und Zeichen; §18: Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der
Welt"
16) ebd. S.116
17) ebd. S.120/21
18) ebd. S.118
19) ebd. S.121
20) ebd. S.123
21) ebd. S.121
22) ebd. S.81
23) ebd. S.81
24) E.Lévinas: "DIE SPUR DES ANDEREN". S.111
25) Das Verweisungsganze ist die Welt1
26) M.Heidegger: "SEIN UND ZEIT". S.126
27) ebd. S.126. Auch hier wird wieder, typisch für Heidegger, ein
Wort aus dem gebräuchlichen Wortschatz herausgerissen. Da das Dasein
sich "zunächst und zumeist" in der Weise der Alltäglichkeit befindet,
geschieht diese ungebräuchliche Wortwahl am wirkungsvollsten und der
Anlage von "SEIN UND ZEIT" am gerechtesten, wenn es sich um solche
Wörter handelt, die im alltäglichen Gebrauch in ihrer Bedeutung kaum
reflektiert werden und in umgangssprachlichen Sätzen die Rolle einer
nebensächlichen Selbstverständlichkeit spielen [wie zum Beispiel die
Wörter "Zeug" oder "Man]).
28) ebd. S.129
29) ebd. S.129
30) ebd. S.127
31) ebd. S.124
32) ebd. S.124
33) ebd. S.128
34) E.Lévinas: "DIE SPUR DES ANDEREN". S.109
35) M. Heidegger: "SEIN UND ZEIT". S.12
36) (Demgegenüber weist Heidegger - was ihn als Phänomenologen und
Existenzphilosophen ausweist - darauf hin, daß das Dasein "je meines"
ist, also nicht von sich abstrahieren kann und in allen seinen
Reflexionen immer auch von sich selbst betroffen ist. Dieser Aspekt,
der es schwieriger macht, Heidegger der Metaphysik zu verdächtigen,
findet zumindest in dieser Lévinas-Schrift keinen Raum.)
37) ebd. S.114
38) M.Heidegger: "SEIN UND ZEIT". S.42
39) E.Lévinas: "DIE SPUR DES ANDEREN". S.115
40) ebd. S.112
41) ebd. S.112
42) ebd. S.111
43) ebd. S.112
44) ebd. S.113/14
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.