Erschienen in Ausgabe: No. 15 (1/1999) | Letzte Änderung: 26.01.09 |
von Mike Sandbothe
(1)
Meine Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Im ersten Teil werde
ich zeitphilosophische Implikationen von Ilya Prigogines Thermodynamik
fern vom Gleichgewicht, im zweiten Teil einige Grundgedanken von Martin
Heideggers Zeitlichkeitsanalyse darstellen. Aufgabe des dritten Teils
wird es sein, die Zeittheorien von Prigogine und Heidegger zueinander
ins Verhältnis zu setzen. Zu diesem Zweck werde ich die beiden Theorien
im Kontext einer für das Zeitdenken des 20. Jahrhunderts
charakteristischen Tendenz zur Verzeitlichung der Zeit situieren. Dabei
handelt es sich um eine Tendenz, welche die "zwei Kulturen"
wissenschaftlichen Forschens - die naturwissenschaftliche und die
geisteswissenschaftliche - miteinander vereint, für die Ilya Prigogine
und Martin Heidegger als prominente Repräsentanten gelten dürfen. (2)
Zeitphilosophische Implikationen von
Prigogines Thermodynamik fern vom Gleichgewicht
Im Zentrum von Prigogines Thermodynamik fern vom Gleichgewicht steht
der Versuch, eine Vermittlung zwischen dem entropischen Zeitkonzept der
klassischen Thermodynamik (Boltzmann) und dem kreativen,
negentropischen Zeitbegriff der Evolutionstheorie (Darwin)
herzustellen. Entscheidend ist dabei der Sachverhalt, daß multipel
verzweigte Systeme fern vom Gleichgewicht eine "historische" Dimension
entfalten können. (3)
Durch Prigogines Theorie der dissipativen Eigenzeitlichkeit offener
Systeme wird die klassische Thermodynamik so transformiert, daß aus der
Physik heraus die evolutionäre Ausdifferenzierung von Leben und Natur
verständlich wird und nicht mehr - wie noch bei Boltzmann - mit einer
vermeintlich entropischen Grundausrichtung der physikalischen Systeme
kollidiert.
Prigogines Transformation der Thermodynamik setzt voraus, daß in das
physikalische Zeitverständnis Struktureigenschaften integriert werden,
die zuvor allein der lebens- und weltgeschichtlichen Zeiterfahrung
menschlicher Individuen zugeordnet wurden. Die Zeit ist dabei nicht
länger nur Parameter. Es tritt vielmehr eine "zweite Zeit" in das
System der Physik ein. Sie fungiert als prozessualer Operator, mit
dessen Hilfe die strukturierende und evolutive Dimension irreversibler
negentropischer Prozesse computertechnologisch simulierbar und
erforschbar gemacht wird. Interessant an diesen nicht-linearen
Prozessen ist, daß sie nicht nur durch einen asymmetrischen Bruch
zwischen Zukunft und Vergangenheit, sondern darüber hinaus durch
vielfältige, auf kontingente Weise ineinander verwobene geschichtliche
Ereignis- und Kohärenzstrukturen charakterisiert sind. (4)
In ihrem Buch Dialog mit der Natur leiten Prigogine/Stengers daraus die
Hoffnung ab, daß aus dem alten Streitpunkt 'Zeit' ein neuer
archimedischer Punkt werden könnte, mit dessen Hilfe sich die Kluft
zwischen den "zwei Kulturen" durch Perfektionierung und
Flexibilisierung der mathematisch-physikalischen Instrumentarien
aufheben ließe. In diesem Sinn hat Prigogine bereits 1973 mit Blick auf
seine Zeittheorie herausgestellt: "Whatever the future of these ideas,
it seems to me that the dialogue between physics and natural philosophy
can begin on a new basis. I don't think that I exaggerate by stating
that the problem of time marks specifically the divorce between physics
on one side, psychology and epistemology on the other. (...). We see
that physics is starting to overcome these barriers." (5)
Und im 1984 geschriebenen Schlußkapitel seines Buchs Vom Sein zum
Werden heißt es weiter: "Es ist bemerkenswert zu erkennen, wie weit
einige neuere Ergebnisse [der Naturwissenschaft - M.S.] von Philosophen
wie Bergson, Whitehead und Heidegger vorweggenommen worden sind, wobei
der Hauptunterschied darin besteht, daß sie nur im Gegensatz zur
Naturwissenschaft zu solchen Folgerungen gelangen konnten, während wir
jetzt beobachten, daß diese Einsichten sozusagen aus der
naturwissenschaftlichen Forschung heraus erwachsen". (6)
Prigogines Sicht der Dinge ist in der aktuellen Zeitdebatte nicht nur
von Naturwissenschaftlern, sondern auch von Philosophen bestätigend
aufgegriffen worden. So hat der deutsche Zeit- und Geschichtsphilosoph
Hermann Lübbe 1990 in seinem Buch Im Zug der Zeit herausgestellt, "daß
sogar für die Temporalstruktur der Geschichtlichkeit, die nach
Heidegger und nach der ihm folgenden hermeneutischen Theorie sich
exklusiv aus dem sinnkonstituierenden Selbstverhältnis von Subjekten
ergibt, gilt, daß sie in Wahrheit eine sachbereichsindifferente
Struktur aller offenen und dynamischen Systeme ist." (7)
Um zeitphilosophisch detailscharf in den Blick bringen zu können, was
in den Bemerkungen von Prigogine und Lübbe zum Ausdruck kommt, ist es
hilfreich, sich einige Grundgedanken von Heideggers
Zeitlichkeitsanalyse zu vergegenwärtigen.
Grundgedanken von Heideggers Zeitlichkeitsanalyse
Als existenziale Grundstruktur unseres In-der-Welt-seins hat Martin Heidegger 1927 in Sein und Zeit die "Zeitlichkeit" (8) menschlichen Daseins untersucht. Im Rückgriff auf Kierkegaard beschreibt er die "Doppelbewegung" (9),
in der sich das Dasein in sein 'Da' bringt, also für sich selbst und
die Welt öffnet, als ein in sich gedoppeltes temporales Geschehen. Die
erste Teilbewegung dieses Geschehens besteht im Vorlaufen in die
Zukunft. Die zweite Teilbewegung im Zurückkommen auf die Gegenwart als
einer von der Vergangenheit bzw. - wie Heidegger sagt - der
"Gewesenheit" (10)
her bestimmten Offenheit für die begegnende Welt. Beim Vorlaufen in die
Zukunft, von dem Heidegger auch als von unserem "Sein zum Tode"
spricht, handelt es sich auf der existenzialen Ebene nicht um konkrete,
durch bestimmte inhaltliche Ziele bestimmte Zukünfte, sondern um
Zukunft schlechthin. Damit meint Heidegger die im Sein zum Tod
antizipierte Möglichkeit der Unmöglichkeit aller Möglichkeiten. Erst
durch das Vorlaufen in diese grundlegendste aller Möglichkeiten wird
der Horizont menschlichen Daseins als eines Seins eröffnet, das sich zu
sich selbst verhält.
Der sich im Vorlaufen in die Zukunft vollziehenden "eigentliche(n) Zeitlichkeit" (11) setzt Heidegger als Negativbild das von ihm sogenannte "alltäglich-vulgäre Zeitverständnis" (12)
entgegen. Heideggers Vorstellung ist die, daß wir uns in der
eigentlichen Zeitlichkeit als dem entschlossenen Vorlaufen in den Tod
immer nur vorübergehend, d.h. in ausgezeichneten Augenblicken unseres
Daseins, halten können. Im Normalfall laufen wir in eine Zukunft vor,
die wir durch unsere konkreten Bedürfnisse und Pläne inhaltlich
bestimmen und aus der wir den Letzthorizont des Todes gerade
ausklammern. Diese reduzierte, alltagspraktisch übliche und bequemere
Form der Doppelbewegung nennt Heidegger die "uneigentliche
Zeitlichkeit" (13).
Die uneigentliche Zeitlichkeit unterscheidet sich noch einmal von dem, was Heidegger das "vulgäre Zeitverständnis" (14)
nennt. Während in der uneigentlichen, alltäglich-praktischen
Zeitigungsform noch ein "Widerschein der ekstatischen Verfassung der
Zeitlichkeit" (15)
zu spüren bleibt, ist im vulgären Zeitbegriff die Herkunft der Zeit aus
der Zeitlichkeit menschlichen Daseins ausgeblendet. Während sich in der
vulgären Zeit der jeweilige Jetztpunkt allein aus der immanenten
Relation zu anderen Jetztpunkten, also in der abstrakten Relation des
früher/später definiert, ist das Jetzt des alltäglichen Besorgens immer
in die konkreten Bezüge der alltäglichen Verrichtungen integriert, zu
deren Datierung es dient: es ist ein "Jetzt, da..." (16)
Zusammenfassend läßt sich sagen: In Heideggers Unterscheidung zwischen
eigentlicher Zeitlichkeit, uneigentlicher Zeitlichkeit und vulgärer
Zeitauffassung vollzieht sich eine doppelte Relativierung des
traditionellen Zeitverständnisses. Zum einen relativiert Heidegger die
objektiv-physikalische Zeitauffassung, die dem vulgären Zeitverständnis
zugrundeliegt, im Rekurs auf den pragmatischen, in
Besorgungszusammenhänge eingerückten Zeitumgang der uneigentlichen
Zeitlichkeit. Zum anderen relativiert Heidegger aber auch zugleich die
pragmatische Zeitauffassung, die sich aus der uneigentlichen
Zeitlichkeit ergibt, im Rekurs auf die ausgezeichnete und seiner
Ansicht nach fundamentale Zeitigungsform der eigentlichen Zeitlichkeit.
Die Verzeitlichung der Zeit bei Prigogine und Heidegger
Will man Heideggers Zeitlichkeitsanalyse zu Prigogines Zeittheorie in
Beziehung setzen, ist es hilfreich eine Passage heranzuziehen, die sich
in Heideggers frühem Vortrag Der Begriff der Zeit (1924) findet. In
dieser Passage setzt Heidegger selbst sein Konzept der Zeitlichkeit
menschlichen Daseins zu dem Konzept der irreversiblen Zeit ins
Verhältnis. Dabei ordnet er das Konzept der irreversiblen Zeit der
alltäglichen Zeitvorstellung zu, die er hier als "'Man'-Zeit" (17) bezeichnet.
Im Rahmen der 'Man-Zeit', so Heidegger, "(...) ist das nËn das
m°ree;tron für Vergangenheit und Zukunft. Dann ist die Zeit
schon als Gegenwart ausgelegt, Ver-gangenheit ist interpretiert als
Nicht-mehr-Gegenwart, Zukunft als unbestimmte Noch-nicht-Gegenwart:
Vergangenheit ist unwiederbringlich, Zukunft unbestimmt. (...). Die
Geschehnisse sind in der Zeit, das heißt nicht: sie haben Zeit, sondern
vorkommend und daseiend begegnen sie als durch eine Gegenwart
hindurchlaufend. Diese Gegenwartszeit wird expliziert als Ablaufsfolge,
die ständig durch das Jetzt rollt; ein Nacheinander, von dem gesagt
wird: der Richtungssinn ist ein einziger und nicht umkehrbar. Alles
Geschehende rollt aus endloser Zukunft in die unwiederbringliche
Vergangenheit." (18)
Und im selben Zusammenhang fährt Heidegger interpretierend fort: "An
dieser Auslegung ist ein Doppeltes charakteristisch: 1. die
Nicht-Umkehrbarkeit, 2. die Homogenisierung der Jetztpunkte. Die
Nicht-Umkehrbarkeit begreift in sich, was diese Explikation noch von
der eigentlichen Zeit erhaschen kann. Das bleibt übrig von der
Zukünftigkeit als Grundphänomen der Zeit als Dasein. Diese Betrachtung
sieht von der Zukunft weg in die Gegenwart, und aus dieser läuft die
Betrachtung der fliehenden Zeit in die Vergangenheit nach. Die
Bestimmung der Zeit in ihrer Nicht-Umkehrbarkeit gründet darin, daß die
Zeit vorher umgekehrt wurde. Die Homogenisierung ist eine Angleichung
der Zeit an den Raum, an schlechhinnige Präsenz; die Tendenz, alle Zeit
in eine Gegenwart aus sich fortzudrängen. Sie wird völlig
mathematisiert, zu der Koordinate t neben den Raumkoordinaten x,y,z.
Sie ist nicht umkehrbar. Das ist das einzige, worin sich die Zeit noch
zu Worte meldet, worin sie einer endgültigen Mathematisierung
widersteht." (19)
Um diese Stellen angemessen zu interpretieren, ist es notwendig, sich
die Unterscheidungen ins Gedächtnis zu rufen, die Heidegger in der
gegenüber dem frühen Vortrag ausgebauten Zeitlichkeitsanalyse von Sein
und Zeit zwischen dem vulgären Zeitverständnis, der uneigentlichen und
der eigentlichen Zeitlichkeit macht. Ich werde diese Unterscheidungen
im folgenden neutral, d.h. ohne die bei Heidegger üblichen pejorativen
Akzente verwenden. Das kommt terminologisch darin zum Ausdruck, daß
anstelle der normativ aufgeladenen Termini, die Heidegger gebraucht,
von den folgenden drei Zeitgestalten die Rede sein wird: Erstens von
der linearen B-Reihe, die der Zeitmessung mit der Uhr zugrundeliegt,
zweitens von der pragmatischen Zeitlichkeit der A-Reihe, die sich aus
dem konkreten Horizont unserer Besorgungen und Projekte ergibt, sowie
drittens von der Zeitigungsstruktur der formalen Doppelbewegung, die es
uns erlaubt, uns von diesen Projekten zu distanzieren und sie reflexiv
zu relativieren und zu historisieren. (20)
Wie stellt sich das Verhältnis von Prigogines irreversibler Zeit und
Heideggers Zeitlichkeit auf diesem Hintergrund dar? Untersucht man die
Zeitstruktur, die Heidegger in der zitierten Passage beschreibt, näher,
so wird deutlich, daß es sich dabei um eine Gestalt der pragmatischen
Zeitlichkeit handelt, die sich selbst nicht genuin als pragmatische
Zeitlichkeit versteht. Das sich in dieser Zeitgestalt auslegende
Subjekt legt sich selbst nicht primär von den zeitlichen Dimensionen
der A-Reihe her aus, die den individuellen Entwurf seiner jeweiligen
Lebensform von der Zukunft her konstituieren. Es versteht die
zeitlichen Dimensionen vielmehr als fixe Strukturen, die in die lineare
B-Reihe auf eine vorgegebene Weise eingeschrieben sind: die offene
Zukunft als das, was später ist als die Gegenwart, die unabänderliche
Vergangenheit als das, was früher ist als die Gegenwart. Stellt man von
hier aus den Bezug zur Verzeitlichung der Zeit her, wie sie sich
innerhalb der modernen Physik vollzogen hat, so zeigt sich, wie aus der
charakteristischen Asymmetrie zwischen Zukunft und Vergangenheit, die
sich aus der Einschreibung der A-Reihe in die B-Reihe ergibt, die
Struktur der zeitlichen Irreversiblität resultiert, die bei Boltzmann
physikalische Bedeutsamkeit erlangt.
Damit ist freilich noch keinesfalls diejenige Grundstruktur der
pragmatischen Zeitlichkeit getroffen, die den alltäglichen Umgang mit
unseren vielfältigen, variierenden, sich immer wieder verschiebenden
und auf komplexe Weise miteinander verknüpfenden Welt- und
Selbstentwürfen faktisch bestimmt. Diese plurale Form des Zeitumgangs,
die unsere Alltagswelt heute zunehmend charakterisiert (21),
spannt die zeitlichen Dimensionen der A-Reihe nicht in den fixen Rahmen
einer vermeintlich objektiv vorgegebenen B-Reihe ein, sondern versteht
die A-Reihe flexibel aus ihrer Einbettung in die Zeitigungsstruktur der
formalen Doppelbewegung, in deren Vollzug wir in unserem kulturellen,
technischen und historischen Kontext gelernt haben, uns zu zeitigen. Es
ist dieses offene und kreative Verständnis der Zeit, welches das
Zeitkonzept, das Prigogines Theorie dissipativer Strukturen zugrunde
liegt, von dem rigiden Zeitpfeilmodell unterscheidet, das die
klassische Thermodynamik in die Physik eingeführt hat. Im Rahmen von
Prigogines Zeitkonzept ist nicht nur die Zukunft als offene Struktur zu
beschreiben, sondern auch die Rekonstruktion der Vergangenheit des
Systems auf die unterschiedlichen bifurkativen Zukunftspfade zu
relativieren, in die sich das System einschreiben kann und zwischen
denen es Verknüpfungen, Übergänge und plötzliche Synthesen herstellt.
Es ist diese bewegliche Zeitstruktur, die in den reflexiv
verzeitlichten Gestalten menschlicher Lebensformen zum Ausdruck kommt
und sich mit den Mitteln von Heideggers Zeitlichkeitsanalye beschreiben
läßt. Prigogines Übertragung dieses flexiblen Zeitkonzepts auf den
naturwissenschaftlichen Bereich hat den Blick für die plurale
Temporalität chemophysikalischer Prozesse geschärft und diese
mathematisch modellierbar gemacht. Dieser Erfolg wird von
Prigogine/Stengers im Dialog mit der Natur als Beleg für die Entdeckung
einer tiefgehenden, intrinsischen Koinzidenz von Mensch und Natur
gewertet. Einer solchen Auslegung ist von Heidegger her
entgegenzuhalten, daß die physikalische Operationalisierung desjenigen
Zeit-Vokabulars, das uns bisher nur zur Selbstbeschreibung gedient hat,
nicht als objektive Bestätigung seiner Fundamentalität und
Universalität gelten darf. Die Etablierung dieses Vokabulars in der
Physik, genauer: die geschickte Übertragung eines Vokabulars, das sich
in einem Bereich praktisch bewährt hat, auf einen anderen Bereich,
verweist vielmehr nur auf die historische Wandlungsfähigkeit, innere
Flexibilität und kontextuelle Rückgebundendenheit auch so ausgefeilter
Vokabulare wie desjenigen der Physik. In dieser Sicht der Dinge kommt
der spezifische Grundzug von Heideggers Verzeitlichung der Zeit zum
Ausdruck, der diese von Prigogines Zeitverständnis bei aller Nähe
zugleich unterscheidet.
Abschließend ist herauszustellen, daß sich die Verzeitlichung der Zeit
bei Heidegger nicht als Verwesentlichung der Zeit vollzieht. Heidegger
setzt nicht ein wahres und unhintergehbares, also ewiges Wesen der Zeit
an die Stelle eines defizienten und verfehlten Zeitverständnisses. Es
tritt auch nicht einfach ein graduell zeitlicheres Zeitverständnis an
die Stelle eines weniger zeitlichen Zeitverständnisses, sondern die
Spirale der Verzeitlichungsprogression wird bei Heidegger durch den
Übergang von einem theoretischen Zeitverständnis, das Zeit als
gegenständliche Struktur auffaßt, zu einem praktischen Zeitverständnis,
das Zeit als Vollzugsform des menschlichen Sichzusichverhaltens
beschreibt, durchbrochen. Hier liegt - bei aller Gemeinsamkeit - eine
entscheidende Differenz zwischen Heidegger und Prigogine.
Fußnoten
1 Dieser Text geht auf einen Vortrag zurück,
der im Rahmen des internationalen Symposions Séminaire Ilya Prigogine:
"Facing the Uncertain" (13.-15. November 1997) an der Université Libre
de Bruxelles gehalten wurde. Die Veranstaltung fand aus Anlaß des 20.
Jahrestages der Nobelpreisverleihung an Ilya Prigogine statt.
2 Vgl. hierzu ausführlich Sandbothe, 1998.
3 Prigogine/Stengers, 1990, S. 14. Vgl. hierzu Prigogine/Stengers, 1981, S. 166f und Prigogine, 1988, S. 120.
4 Prigogine/Stengers, 1988, S. 45ff.
5 Prigogine, 1973, 590f.
6 Prigogine, 1979, 262. Vgl. hierzu Sandbothe, 1998.
6 Lübbe, 1992, 30.
7 Heidegger, 1979, 326.
8 Kierkegaard, 1993, 34.
9 Heidegger, 1979, 326.
10 Heidegger, 1979, 329.
11 Heidegger, 1979, 235.
12 Heidegger, 1979, 329.
13 Heidegger, 1979, 17.
14 Heidegger, 1979, 408.
15 Heidegger, 1979, 408.
16 Heidegger, 1989, S. 22.
17 Heidegger, 1989, S. 23.
18 Heidegger, 1989, S. 22ff. Eine direkte
Auseinandersetzung Heideggers mit Bergson findet sich in: Heidegger,
1976, S. 249ff, 267f sowie in: Heidegger, 1979, insbes. S. 333 und
432f.
Die Unterscheidung
zwischen A- und B-Reihe übernehme ich von dem Begründer der
analytischen Zeitphilosophie John M. E. McTaggart, 1993.
20 Vgl. hierzu die Studie von
Hörning/Gerhardt/Michailow, in deren Zentrum die sich aus dem
"reflexive[n] Zeitbewußtsein" (Hörning/Gerhardt/Michailow, 1990, S.
161) ergebende "plurale Orientierung" (ebd., S. 174) der neuen
"Zeitumgangsstile" (ebd. S. 157) steht.
Literatur:
Heidegger, Martin (1976): Logik - Die Frage nach der Wahrheit, in:
ders., Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 21,
Frankfurt a.M., Klostermann.
Heidegger, Martin (1979): Sein und Zeit, 15. Auflage, Tübingen,
Niemeyer (zuerst in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
Forschung, Bd. 8, hrsg. v. E.Husserl, 1927).
Heidegger, Martin (1989): Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der
Marburger Theologenschaft (Juli 1924), hrsg. v. H.Tietjen, Tübingen,
Niemeyer .
Hörning, Karl H. / Gerhardt, Anette / Michailow, Matthias (Hrsg.)
(1990): Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten - neuer Lebensstil,
Frankfurt a.M, Suhrkamp.
Kierkegaard, Sören (1982): Die Krankheit zum Tode, in: ders.,
Gesammelte Werke, hrsg. v. E.Hirsch/H.Gerdes, 24. und 25. Abteilung, 2.
Auflage, Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus (zuerst dänisch: Kopenhagen
1849).
Kierkegaard, Sören (1993): Furcht und Zittern, in: ders., Gesammelte
Werke, hrsg. v. E.Hirsch/H.Gerdes, 4. Abteilung, 3. Auflage, Gütersloh,
Gütersloher Verlagshaus (zuerst dänisch: Kopenhagen 1843).
Lübbe, Hermann (1992): Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/Heidelberg/New York, Springer.
Prigogine, Ilya (1973): Time, Irreversibility and Structure, in:
Physicist's Conception of Nature, ed. by Jagdish Mehra, Dordrecht u.a.,
D. Reidel Pub., 1973, S. 561-593.
Prigogine, Ilya (1988): Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in
den Naturwissenschaften, Überarbeitete Neuausgabe, München, Piper
(zuerst: München, 1979).
Prigogine, Ilya / Isabelle Stengers (1981): Dialog mit der Natur.
Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München, Piper (German
translation of La Nouvelle Alliance. Les Métamorphoses de la Science,
Paris, Gallimard, 1979)
Prigogine, Ilya / Stengers, Isabelle (1988): Entre le temps et l'éternité, Paris, Fayard.
Prigogine, Ilya / Stengers, Isabelle (1990): Entwicklung und
Irreversibilität, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in
den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. 1, S. 3-18.
McTaggart, John M.E. (1993): Die Irrealität der Zeit, in: Klassiker
der modernen Zeitphilosophie, hrsg. von Walther Ch. Zimmerli und Mike
Sandbothe, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 67-86
(zuerst in: Mind, Bd. XVII, 1908)
Sandbothe, Mike (1998): Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen
der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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