Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
von Heike Geilen
Peter
Suhrkamp hatte von seiner ersten Begegnung mit Max Frisch im Jahr 1950 folgenden
Eindruck: „unbedingt ein Dichter - was
daraus werden mag, muss sich zeigen.“ Nicht nur einen Schriftsteller sah
der deutsche Verleger in dem damals 39-jährigen Schweizer, sondern einen
Dichter! Ingeborg Gleichauf, die u. a. bereits über Simone de Beauvoir und
Hannah Ahrendt zwei wundervolle Biografien geschrieben hat, ergänzt: „der mit den Augen schreibt, dessen
Beschreibungen so sinnlich sind, dass einem beim Lesen die Augen aufgehen, dass
man das Gefühl bekommt, nicht selbst sehen zu müssen, um eine Vorstellung zu
bekommen. Die Sprache macht sichtbar.“ Schreibt sie wirklich über Max
Frisch?
Max
Frisch, der Name begegnete einem bereits in der Schulzeit. Sein „Homo faber“
war vielerorts Pflichtlektüre, vielleicht auch seine Theaterstücke „Andorra“
oder „Biedermann und die Brandstifter“. Doch wie so oft galt es damals einen
Text zu analysieren und auszuinterpretieren: Was wollte uns der Schriftsteller
damit sagen? Welche versteckte Botschaft ruht in seinen Werken? Selbstständige
Herangehensweisen und individuelles Lesen waren nicht gefragt. Max Frisch bekam
den Nimbus des Uncoolen, des ungeliebten Schulbuchklassikers: „unbeweglich, verstanden, eingeordnet.“,
schreibt Ingeborg Gleichauf. Doch in seinem Tagebuch bemerkte die Autorin auf
einmal einen ganz anderen Frisch, einen blumigen, bilderreichen Autor, einen
Poeten: „Drunten, hinter einem Gitter von
Reben, glimmert der See. Die Sonne verrostet schon im Dunste des mittleren
Nachmittags, und dann der Heimweg ohne Mantel, die Hände in den Hosentaschen,
das feuchte Laub, das nicht mehr rascheln will, die Gehöfte mit einer Trotte,
die tropfenden Fässer in der Dämmerung, die roten Laternen einer Schifflände im
Nebel -.“
Ingeborg
Gleichauf entdeckte den Schweizer neu für sich. Sie schaut ins Innere der
Person Max Frischund kommt ihr damit
sehr nahe. „Das ist wichtig!“, hört
sie ihn immer wieder sagen. „Damit ja
nicht vergessen wird, das aufzuschreiben, was wirklich wichtig ist.“ Die Annäherung an Frisch gestaltet sie
sehr persönlich, der wissenschaftliche Anspruch steht nicht an erster Stelle.
Gleichauf erzählt dem Leser die Lebensgeschichte des Schweizers chronologisch
und beleuchtet erklärend. Schlaglichtartig treten einzelne Facetten seiner
Persönlichkeit hervor: Seine Kindheit wird nur kurz angeschnitten. Er beginnt
ein Gemanistikstudium, wechselt jedoch zur Architektur. „Ihn interessiert die Spannung zwischen dem eher Berechenbaren, der
Arbeit am Reißbrett, und dem eher Unberechenbaren, der Arbeit am Roman.“ Aber
das Schreiben gewinnt letztendlich doch die Oberhand. Nach seinem Romanerfolg
„Stiller“ wird es gelebte Berufung.
Gedanken in
Worte zu fassen bedeutet für Max Frisch mit dem Seltsamen des Lebens umzugehen,
„sich vor allem sprachlich damit
auseinanderzusetzen.“ Auf „Seltsamkeiten“ wird er fortwährend treffen.
Bedingt vielleicht ob seiner eigenen Zerrissenheit und Sehnsucht. Zeitlebens
bleibt er ein Zweifelnder und Suchender: Vom ersten journalistischen Schreiben
bis hin zur künstlerischen Unabhängigkeit, vom Ausbruch aus der bürgerlichen
Kulisse seiner ersten Ehe, über die Beziehung mit Ingeborg Bachmann bis hin zu
seiner zweiten Ehe mit Marianne Oellers, die auch nicht halten wird. Als ein
ständiges Suchen nach sich selbst, ein Finden des eigenen Sprachrhythmus,
könnte man seine Biografie bezeichnen. Auch seine vielen Reisen zeugen davon. „Nichts ist dem Menschen so fern wie das
eigene Ich, er ist sich selbst das Fremde, und daher kommt er sich gerade dann
näher, wenn er in einen großen Abstand zu sich tritt. Reisen in entfernte
Gegenden können diesen Prozess begünstigen.“, schreibt die Biografin. Sein
Blick für gesellschaftliche Veränderungen, für politische Ereignisse und
Entwicklungen wird dabei immer wacher.
Max
Frisch in eine Schublade zu stecken fällt schwer. Seine Arbeit hört nie auf,
vielfältig zu sein, experimentell und nicht festgelegt auf ein Thema oder eine
Gattung. Prosa, Theater, Film, Essay, Tagebuch... der Schweizer bewegt sich
zeitlebens geradezu mäandrierend zwischen den Genres. Vor allem seine
Bühnenfiguren üben eine besondere Faszination aus, weil sie in ihren Rollen
nicht aufgehen und immer ein Rest, etwas Ausgespartes bleibt. Der Schweizer
wehrt sich dagegen, festgenagelt zu werden, einen „Standbildcharakter“ zu
bekommen. „Aber für Frisch gilt wie für
jeden Autor, jede Autorin von Rang: Das Poetische entzieht sich, zeigt die
Rückseite bekannter Bilder, verzerrt sie, gibt sie aus dem ihnen zugedachten
Rahmen, durchkreuzt die Schrift, lässt Buchstaben verschwinden, setzt an ihre
Stelle andere Buchstaben.“ Die letzten Worte am Sarg, gesprochen von Peter
Bichsel, seinem langjährigen Freund, sprengen noch einmal den Rahmen, in dem
Frisch bereits fest zu ruhen schien: „Wir
wollen versuchen, es denen schwer zu machen, die dich als Klassiker ablegen
möchten. Komm, bleib bei uns. - Wir werden dich lesen. Aber Max ist tot. Jetzt
nur nicht die Wut verlieren.“
Das
Buch - ergänzt durch zahlreiche Fotos - liest sich leicht, fast wie ein Roman,
und ist doch sehr detailgenau und differenziert. Es spricht daher ganz konkret auch jugendliche
Leser an. Gewissermaßen erlebt man Frischs Leben - jede Reise, jede Beziehung,
jede neue Erfahrung, jedes literarische Projekt - noch einmal mit seinen eigenen
Augen. Es ist Ingeborg Gleichauf ohne waghalsige Spekulationen, aber durchaus
mit kritischem Abstand, gelungen, Frischs einzelne Lebensabschnitte mit seinen
jeweiligen Romanen, Theaterstücken oder Schriften zu verzahnen: eine
durchgehend geschickte Verflechtung von Beschreibung und Analyse, ein
authentisches Werk, das sich stellenweise wie eine Autobiografie liest. „Das ist wichtig!“, hört nun auch der Leser Max Frisch
sagen. „Damit ja nicht vergessen wird,
das aufzuschreiben, was wirklich wichtig ist.“
Ingeborg
Gleichauf
Jetzt nicht die Wut verlieren.
Max Frisch - Eine Biografie
Nagel
& Kimche Verlag, (August 2010)
271
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3312009898
ISBN-13:
978-3312009893
Preis:
18,90 EURO
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