Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
von Thomas Rießinger
Obwohl vermutlich jeder Leser im
Laufe seines Lebens mehr als einmal mit Mathematik konfrontiert wurde – sei es
als Schüler, der sich mit mehr oder weniger Begeisterung an mathematischen
Aufgaben abmüht, oder als Benutzer von Technik, bei deren Entwicklung ein gewisses
Maß an Mathematik unverzichtbar ist –, so kann doch kaum jemand auf die Frage,
was Mathematik eigentlich sei, eine klare und möglichst überschaubare Antwort
geben. Selbst eine von Mathematikern verfasste Arbeit wie das „Lexikon der
Mathematik“ beginnt den Artikel über die Mathematik selbst mit dem Satz: „Der
Versuch, das Wesen der Mathematik im Rahmen eines Lexikon-Stichwortes zu
definieren, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“[1]
Während man die Mathematik in früheren Zeiten gern als die Wissenschaft von
Zahlen und Figuren bezeichnet hat, reicht schon ein Blick auf beliebige
mathematische Veröffentlichungen der letzten einhundert Jahre, um zu sehen,
dass diese Beschreibung längst an der Realität vorbeigeht. Die abstrakten
Strukturen, mit denen sich Mathematiker oft und gerne befassen, sind sowohl von
Zahlen als auch von Figuren häufig weit entfernt, weshalb man beispielsweise im
ZEIT-Lexikon die Definition findet, Mathematik sei die „Wissenschaft von den
abstrakten Strukturen und logischen Folgerungen.“[2] Das
ist sicher nicht falsch, aber bestenfalls die halbe Wahrheit, was man schon
daran sehen kann, dass auch die Autoren dieses Lexikon-Artikels ihre Definition
durch anschließende Erläuterungen genauer zu fassen suchen, um so das
eigentliche Wesen der Mathematik präziser zu beschreiben. Immerhin gibt es
abstrakte Strukturen nicht nur in der Mathematik, sondern auch in den Natur-
und den Geisteswissenschaften, und auch logische Folgerungen sind kein Privileg
der Mathematiker, weshalb eine Beschreibung dieser Art die Mathematik nicht
umfassen kann.
Das ist aber weder ein Wunder
noch eine spezifische Eigenart der Mathematik, wie man recht schnell sieht,
wenn man nicht nach dem Wesen der Mathematik, sondern nach dem Wesen der
Physik, der Philosophie oder der Geschichtsschreibung fragt. Jede
essentialistische Frage dieser Art führt in die altbekannten Schwierigkeiten,
die mit dem Essentialismus generell verbunden sind, denn eine Frage wie „Was
ist Mathematik ihrem Wesen nach?“ kann nur durch Sätze beantwortet werden, die
ihrerseits natürlich wieder andere Begriffe verwenden, bei denen ebenfalls nach
ihrem eigentlichen Wesen gefragt werden kann. Bei den oben angeführten
essentialistisch orientierten Definitionen der Mathematik würden sich
beispielsweise sofort die Fragen nach dem Wesen von Zahlen und Figuren bzw. von
abstrakten Strukturen und logischen Folgerungen ergeben, deren Beantwortung
dann wieder zu dem analogen Problem führt. Offenbar muss also die Frage nach
dem Wesen der Mathematik oder auch von irgend etwas anderem in die Situation
von Hans Alberts Münchhausen-Trilemma[3]
führen, bei dem man nur die Wahl zwischen einem unendlichen Regress von
Definitionen, einem willkürlichen Abbruch des Definierens und einer
zirkelhaften Definition hat, bei der – unter Auslassen der Zwischenschritte –
nur noch gesagt wird, dass Mathematik eben Mathematik sei.[4]
All das ist nichts Neues, und ich
führe es hier nur auf, um zu verdeutlichen, dass die Frage nach dem
eigentlichen Wesen der Mathematik genauso wenig beantwortet werden kann wie die
nach dem tieferen Wesen der Physik oder einer anderen Wissenschaft. Dennoch ist
es auch bezüglich der Mathematik möglich, Fragen von eher philosophischer Art
nachzugehen, sofern sie sich nicht auf die essentialistische Problemstellung
beschränken. Man kann beispielsweise die Methodologie der Mathematik
untersuchen, man kann sich fragen, mit welchen Problemen und Objekten man es in
der Mathematik im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zu tun hat und ob hier
überhaupt ein Gegensatz besteht, oder man kann, sofern man den angesprochenen
Gegensatz zwischen Mathematik und Naturwissenschaften akzeptieren will, die
Frage untersuchen, wie es möglich ist, dass mathematische Ergebnisse
erfolgreich auf die Realität anwendbar sind.
Probleme dieser Art sind vor
allem im Verlauf des Grundlagenstreits der Mathematik im zwanzigsten
Jahrhundert behandelt worden, und ich werde später auf verschiedene Ansätze zur
Lösung der Probleme eingehen. Ausgangspunkt meines Aufsatzes ist dabei ein
Beitrag von Bernulf Kanitscheider im Rahmen einer neunteiligen Reihe über
Mathematik in der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“[5], den
er zwar mit dem Titel „Was ist Mathematik?“ versehen, aber von
essentialistischen Problemen frei gehalten hat. Abgesehen von einem Punkt, auf
den ich gleich kommen werde, will ich Kanitscheiders Beitrag keineswegs
kritisieren, sondern die dort referierten Positionen einer Prüfung unter
bestimmten Gesichtspunkten unterwerfen und anschließend eine alternative
Auffassung vorstellen.
Kanitscheider beginnt seinen
Aufsatz mit einem Hinweis auf den Sonderstatus der Mathematik. Sie sei
"exakt, klar, sicher, objektiv und fortschreitend in der Erkenntnis, mit
wenig Krisen und Rückschritten" und daher "der Prototyp einer
kumulativen Disziplin, die der Idee des Erkenntnisfortschrittes in vollem Maße
gerecht wird."[6] Es sind vermutlich die
Mathematiker selbst – und ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung als
Mathematiker –,die dieses Bild einer
Wissenschaft mit Sonderstatus gerne pflegen, um sich von den anderen Wissenschaften
abzuheben. Es dürfte aber kaum gerechtfertigt sein. Der
Wissenschaftstheoretiker und Mathematikphilosoph Imre Lakatos hat überzeugend
nachgewiesen[7], dass die Auffassung der
Mathematik als einer kumulativen Disziplin, bei der einmal gewonnene Einsichten
für immer gültig bleiben, nicht der Realität entspricht. Auch die
mathematischen Sätze und Theorien entwickeln sich aus Problemen und
Vermutungen, aus der „Hitze von Argument und Gegenargument“, auch dort gibt es
den „Zweifel, der der Gewissheit weicht, und diese erneutem Zweifel.“[8] Auch
die Mathematik pflegt in ihrer Praxis keine sicheren Erkenntnisse zu liefern,
und ein Beweis, der lange Zeit als korrekt galt, kann zu jeder Zeit widerlegt
werden. Man kann nicht davon ausgehen, dass eine mathematische Theorie völlig
frei ist von Mehrdeutigkeiten, von unklaren Begrifflichkeiten, die unter
Umständen für lange Zeit unbemerkt bleiben, aber irgendwann für das Aufkommen
von Gegenbeispielen sorgen. Kanitscheiders Auffassung "Dagegen gilt ein
gelungener mathematischer Beweis für immer"[9], mit
der er die Mathematik in Kontrast zu den Naturwissenschaften setzt, ist sicher
richtig, aber nur deshalb, weil sie nichts Nennenswertes behauptet: ein Beweis
ist dann gelungen, wenn er den behaupteten Sachverhalt tatsächlich beweist,
fehlerfrei und unzweifelhaft. Also sagt Kanitscheiders Satz nur aus, dass
ein fehlerfreier Beweis ein fehlerfreier Beweis ist, und das ist keine Begründung
für einen wie auch immer gearteten Sonderstatus der Mathematik. Das Problem in
der mathematischen Praxis besteht ja gerade darin, dass die Fehlerfreiheit nur
schwer in den Griff zu bekommen ist und wie in jeder anderen Disziplin auch
erstens Fehlergemacht und auch veröffentlicht werden und man zweitens
keineswegs sicher sein kann, dass sie einer bemerkt. Mathematische Sätze werden
zwar bewiesen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie deshalb gesichert
wären. Im Übrigen zeigt die Arbeit von Lakatos auch, dass sich die Meinungen
über die Art eines zulässigen und befriedigenden Beweises mit der Zeit ändern
können: was in der Vergangenheit als annehmbares Argument galt, muss heute
nicht mehr unbedingt akzeptabel sein, da sich die Vorstellungen der handelnden
Personen ändern oder aber bisher unentdeckte Schwierigkeiten in bisher
eingesetzten Methoden zu Tage treten.
Nun kann man Lakatos natürlich
vorwerfen, er habe seine Auffassungen über den Fortschritt in der Mathematik an
einem einzigen Beispiel entwickelt, nämlich an dem Beweis der so genannten
Eulerschen Polyederformel, aber das sei eben nur ein Einzelfall gewesen, den
man so nicht verallgemeinern dürfe. Das ist in doppelter Hinsicht falsch. Wenn
man für einen Sonderstatus der Mathematik gegenüber den Naturwissenschaften
plädiert und meint, sie sei eine kumulative Disziplin, bei der einmal
durchgeführte Beweise für immer feststehen, so genügt schon ein einziges
Gegenbeispiel, das Lakatos in seiner Arbeit geliefert hat, um von dieser
Auffassung Abstand zu nehmen. Aber selbst der Vorwurf, es handle sich um einen
Einzelfall, entspricht nicht den Tatsachen. Wie sehr sich die akzeptablen
Standards ändern können, nach denen man einen Beweis beurteilt, sieht man am Beispiel
von computerunterstützten Beweisen. Während es nach der traditionellen
Auffassung möglich sein muss, einen Beweis prinzipiell von einem menschlichen
Leser mit entsprechender Fachkompetenz überprüfen zu lassen, ist es im Verlauf
der Mathematikgeschichte vorgekommen, dass ein Problem nur durch den Einsatz
eines Computers gelöst werden kann. Standardbeispiel hierfür ist das berühmte
Vierfarbenproblem: kann man in einer Landkarte die vorkommenden Staaten so
farblich markieren, dass erstens direkt aneinander angrenzende Länder nicht mit
der gleichen Farbe markiert werden und zweitens nicht mehr als vier Farben für
die gesamte Landkarte benötigt werden? Ein entsprechender Fünffarbensatz ist
vergleichsweise einfach mit graphentheoretischen Mitteln zu beweisen, und so
lag der Gedanke nahe, es auch mit vier Farben zu versuchen. Gelöst werden
konnte dieses Problem erst 1976, indem es auf Tausende von einzelnen Fällen reduziert
wurde, die zwar für sich genommen keine ernsthaften gedanklichen
Schwierigkeiten mehr boten, aber sowohl durch ihre schiere Menge als auch durch
die Kompliziertheit ihrer Struktur nur mithilfe eines Computers bearbeitet
werden konnten. Sollte man den Vierfarbensatz nun als bewiesen betrachten? W.
Haken und K. Appel, die den Beweis entwickelt hatten, vertraten die Auffassung,
dass jeder „auf jeder Stufe und überall die Einzelheiten einsetzen und
überprüfen“ könne, weshalb ein gültiger Beweis vorliege.[10] Das
kann man so sehen, aber dennoch ist es im Rahmen der menschlichen Vernunft
nicht mehr möglich, den gesamten Beweis zu überblicken und ein Urteil über
seine Korrektheit abzugeben. Zwar kann jeder, der sowohl über die
mathematischen Fähigkeiten als auch über die nötigen Programmierkenntnisse
verfügt, das für den Beweis verwendete Computerprogramm überprüfen, aber das
alleine reicht nicht, da ein solches Programm sowohl ein gewisses Maß an
Systemsoftware wie beispielsweise einen Compiler als selbstverständlich auch
die nötige Hardware benutzen muss, und beide Komponenten sind als Fehlerquellen
nicht zu unterschätzen. Die Frage, ob ein solcher computerunterstützter Beweis
akzeptabel ist oder nicht, muss ich hier zum Glück weder näher erörtern noch
entscheiden, aber das pure Auftauchen der Frage zeigt deutlich, dass auch in
unseren Tagen die Standards für die Annehmbarkeit eines Beweises Wandlungen
unterworfen sind.
Das ist aber nicht alles. Selbst
wenn man den Einsatz von Software klaglos akzeptiert, so besteht noch immer das
Problem, dass jedes Programm nicht nur eine Funktion im Sinne der Mathematik
beschreibt, sondern auch gleichzeitig einen konstruktiven Beweis für die Existenz
dieser Funktion liefert. Warum ist das ein Problem? Eine Funktion oder auch
Abbildung liegt dann vor, wenn zu einer Eingabe aus einem bestimmten Bereich
eine klar definierte Ausgabe bestimmt werden kann, und genau das ist es, was
ein Programm liefern sollte. Nun kann man über viele Dinge behaupten, dass sie
existieren, und insbesondere kann man natürlich immer sagen, man könne diese
oder jene Ausgabe aus dieser oder jener Eingabe in endlich vielen Schritten
berechnen. Verfügt man aber über den Quelltext des entsprechenden Programms,
der ja nichts anderes macht als die nötigen Verarbeitungsschritte in einer
formalisierten Sprache zu beschreiben, so kann man zumindest im Prinzip
überprüfen, ob das vorliegende Programm bei gegebener Eingabe die gewünschte
Ausgabe liefert. Der Quelltext liefert daher einen konstruktiven Existenzbeweis
für die behauptete Funktion. Die Beschreibung der programmierten Funktion
stellt somit im Zusammenspiel mit dem Quelltext des Programms ein Stück
Mathematik dar: es wird behauptet, dass man etwas berechnen kann, und es wird
vorgeführt, dass und wie es tatsächlich geht. Nun geht man aber üblicherweise
davon aus, dass in einem etwas längeren Computerprogramm im Durchschnitt nach
jeweils etwa eintausend Zeilen ein Fehler vorkommen wird. Ob es nun aber
eintausend oder zehntausend oder fünf Zeilen sind, ist völlig unerheblich, denn
es kommt hier nur darauf an, dass in einem Stück moderner Mathematik, die auch
noch direkt überprüfbar ist, auf jeden Fall mit Fehlern gerechnet werden muss.
Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Fehler überhaupt entdeckt werden: es kann
jederzeit vorkommen, dass bestimmte Teile des Programms in der Praxis niemals
benutzt werden, sodass auch eventuelle Fehler nicht in den Blick des Anwenders
geraten, oder dass die fehlerhaften Teile zwar zum Einsatz kommen, die
produzierten Fehler aber nicht so gravierend sind, dass sie auffallen würden.
Die Entwickler der Programme haben dann zwar ebenso wie die Benutzer allen
Grund, ihre Arbeit für einwandfrei zu halten, das Programm kann durchaus als
gelungen gelten – aber falsch ist es trotzdem. Man muss sich jetzt nur noch
daran erinnern, dass der Quelltext eines Programms einen konstruktiven Beweis
für die Existenz und Berechenbarkeit einer bestimmten Funktion darstellt, um zu
bemerken,. dass man einen „gelungenen mathematischen Beweis“ keineswegs „für
immer“ als gelungen betrachten kann. Wie man diesen Beispielen entnehmen kann,
sind Lakatos‘ Auffassungen nach wie vor aktuell, und es erscheint etwas gewagt,
der Mathematik einen Sonderstatus in Bezug auf die „Idee des
Erkenntnisfortschritts“[11]
einzuräumen.
Natürlich war Imre Lakatos nicht
der erste, der sich mit philosophischen Problemen der Mathematik befasst hat.
Vor allem in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in der
Mathematik der so genannte Grundlagenstreit ausgetragen (wobei man sich darüber
streiten kann, ob er tatsächlich bis zum Ende ausgetragen wurde), der auf der Grundlagenkrise der Mathematik
beruhte. Diese Krise war dadurch entstanden, dass man im späteren neunzehnten
und im frühen zwanzigsten Jahrhundert im Rahmen der aktuellen Mathematik auf
Sachverhalte gestoßen war, die der Intuition klar widersprachen oder gar zu
logischen Widersprüchen führten. Ich will hier nicht auf die mathematischen
Details eingehen und nur erwähnen, dass Ungereimtheiten der verschiedensten Art
sowohl in der Analysis als auch in der Geometrie und vor allem der Mengenlehre
auftraten, die Georg Cantor vorangetrieben hatte. Gerade die Idee der Menge als
einer Ansammlung beliebiger Objekte erschien intuitiv zunächst so klar, dass
nichts vernünftiger erschien als die Mathematik auf der Grundlage der
Mengenlehre aufzubauen, um über einen sicheren Grund zu verfügen. Leider
stellte sich heraus, dass dabei annähernd unüberwindbare Schwierigkeiten
auftauchten, die sich vor allem in der Gestalt des 1902 von Bertrand Russell
entdeckten Russell-Paradoxons bemerkbar machten. Die Konstruktion dieses recht
einfach zu verstehenden und wohl deshalb so berühmt gewordenen Paradoxons muss
uns hier nicht interessieren; wichtig ist nur der Umstand, dass man, sobald es
in der Welt war, die Grundlegung der Mathematik mithilfe der bisherigen Mengenlehre
nicht mehr ohne Weiteres vornehmen konnte.
Die nun aufgetauchte Frage nach
der Grundlegung der Mathematik war nicht mehr so leicht aus der Welt zu
schaffen, und in ihrer Folge wurden verschiedene philosophische Positionen
entwickelt, von denen man sich eine Lösung versprach. Ich werde nun die
Positionen des Platonismus und den Logizismus sowie den Formalismus und den
Intuitionismus schildern, und sie unter bestimmten Gesichtspunkten kritisieren.
All diese Auffassungen versuchen zu erklären, womit sich die Mathematik und die
Mathematiker befassen, und dieser Umstand erlaubt es, sie zu beurteilen. Sofern
eine philosophische Theorie nämlich „als Vorschlag zu einer Lösung eines
Problems“ betrachtet werden kann, „gibt es unmittelbar Möglichkeiten für eine
kritische Diskussion. ... Denn wir können fragen: Löst die Theorie ihr Problem?
... Verschiebt sie es vielleicht nur? Ist sie fruchtbar?“[12] Auch
eine philosophische Theorie ist diskutierbar, und „man kann rational und
objektiv entscheiden, welche ... akzeptabel ist und welche nicht.“[13] Ich
behaupte nicht, dass so etwas immer durchführbar ist, zumal viele – und wohl zu
viele – philosophische Theorien so vage und inhaltsleer formuliert sein
dürften, dass es gar nicht möglich ist, ihre zugrunde liegenden Probleme zu
identifizieren. Falls aber eine Problemsituation erkennbar ist, zu deren
Klärung oder gar Lösung eine Theorie aufgestellt wurde, so kann man sie auch
nach den oben aufgestellten Kriterien beurteilen.
Offenbar bestand ein Problem der
Mathematik darin, dass sie ihren Anspruch auf absolute Sicherheit ihrer
Erkenntnisse zu verlieren drohte oder sogar bereits verloren hatte. Eine Disziplin,
deren Aussagen mit vollständiger Gewissheit wahr sein sollte, wie man es
Jahrhunderte lang gern geglaubt hatte, konnte sich Antinomien wie das
Russellsche Paradoxon nicht leisten, ohne deutlich an Glaubwürdigkeit
einzubüßen. Jeder Lösungsansatz musste daher eine Antwort auf die Frage bieten,
woher mathematische Erkenntnisse ihren Anspruch auf Sicherheit beziehen.
Darüber hinaus treten aber auch Probleme auf, die mit der Grundlagenkrise nur
wenig zu tun haben, ohne deshalb von geringerer Bedeutung zu sein. Selbst wenn
man Gewissheit gewährleisten könnte: worüber besteht dann eigentlich diese
Gewissheit? Welcher Art sind die Objekte, über die in der Mathematik gesprochen
wird, welchen Objektbereich untersuchen die Mathematiker? Diese Frage ist nicht
erst im zwanzigsten Jahrhundert aufgetaucht, sondern wurde bereits in der
Antike behandelt und sollte von einer philosophischen Betrachtung der Mathematik
untersucht werden. Und schließlich: wie kommt es eigentlich, dass man die
mathematischen Erkenntnisse, die doch zunächst einmal mit der physischen
Wirklichkeit nichts zu tun haben, so hervorragend auf eben diese Wirklichkeit
anwenden kann?
Beginnen will ich mit den
Vorstellungen der Platonisten, die auf Platons Ideenlehre beruht. Platon hatte
gelehrt, dass beispielweise ein physisch vorhandener Stuhl, der sich natürlich
von einem anderen Stuhl zumindest ein wenig unterscheiden muss, nur eine Art
von Widerschein eines idealen Stuhl ist, der in einer Welt der Ideen lebt und
daher auch nur durch die Vernunft betrachtet werden kann. Aussagen über
physisch vorhandene Stühle können immer nur Meinungen beinhalten, während
sichere Erkenntnis nur durch die reine Vernunftbetrachtung des idealen Stuhls
zu erreichen ist. Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Mathematik, auf die
man dieses Konzept leicht anwenden kann. Will man zum Beispiel den Satz des
Pythagoras über rechtwinklige Dreiecke beweisen, so steht man in der uns
umgebenden physischen Welt vor dem Problem, dass ein echtes rechtwinkliges
Dreieck sich kaum auftreiben lassen wird. Die gezeichneten Linien sind in
Wirklichkeit sehr dünne Flächen, der Winkel wird in aller Regel ein wenig vom
rechten Winkel abweichen und die verwendeten Strecken sind vermutlich nicht
wirklich gerade, sondern enthalten leichte Unebenheiten. Nur in der
nicht-physischen Welt der Ideen gibt es das ideale rechtwinklige Dreieck, für
das sich der Satz des Phytagoras problemlos beweisen lässt, weshalb er auch für
alle Zeiten als ideale Erkenntnis feststeht und absolut sicher ist. Für den
Platonisten sind mathematische Objekte also völlig real, wenn sie auch in einer
nicht-physischen Realität der Ideen existieren, die kein Teil der physischen
Welt ist. „Sie existieren außerhalb des Raums und der Zeit ... wurden weder geschaffen,
noch werden sie sich je verändern oder auflösen.“[14]
Folglich sind mathematische Entdeckungen tatsächlich Entdeckungen und keine
Erfindungen, der Mathematiker hat es genau wie der Physiker mit realen
vorgegebenen Objekten zu tun, nur dass seine Objekte einer anderen Realität
entstammen.
Wie kann man nun den
mathematischen Platonismus im Hinblick auf die drei oben angeführtenProbleme beurteilen? Was die Sicherheit der
mathematischen Erkenntnis angeht, so bietet er nur eine Scheinlösung.
Sicherheit, so sagt der Platonist, liegt deshalb vor, weil die mathematischen
Objekte im Reich der Ideen ewig und unantastbar sind und daher nichts Falsches
herauskommen kann. Selbst wenn man die Ewigkeit der mathematischen Objekte
zugestehen will, bleibt aber immer noch das nicht zu unterschätzende Problem,
wie der arbeitenden Mathematiker an diese Objekte herankommen soll. Der Hinweis
auf die Vernunft oder auch die Intuition hilft nicht sehr viel weiter, da beide
fehlgeleitet werden können und vielleicht gar nicht die ewigen Wahrheiten
erkennen, sondern nur irrige Meinungen über die physische Realität produzieren.
Der berühmte Logiker Kurt Gödel war der Meinung, wir würden die Objekte der
Mengenlehre wahrnehmen, weil sich ihre Axiome als Wahrheiten aufdrängen, und
man könne dieser Art der Wahrnehmung ebenso vertrauen wie der
Sinneswahrnehmung. Leider weiß man aber, dass man der Sinneswahrnehmung
keineswegs unkritisch vertrauen sollte, weil sie oft der korrigierenden
Vernunft bedarf, um unvermeidbare Fehler auszugleichen, weshalb Gödels Argument
eher gegen den Platonismus verwendet werden kann als für ihn. Indem wir
mithilfe einer nicht näher beschreibbaren Intuition Kontakt zur Welt der Ideen
aufnehmen müssen, weil wir sonst nichts über sie wissen könnten, schaffen wir
eine Verbindung zwischen den sicheren Wahrheiten und der unsicheren physischen
Wirklichkeit. Aber wie sicher ist diese Verbindung? Um die Wahrheit sicher
übertragen zu können, müsste auch der Verbindungsweg von gleicher Qualität sein
wie die reinen Ideen selbst und somit wohl eher der Ideenwelt angehören als
eine Verbindung zwischen ihr und uns darzustellen. Durch die Postulierung von
Sicherheit wird noch lange keine Sicherheit garantiert.
Ähnlich sieht es beim dritten
Problem aus, also der Frage, warum man die Mathematik auf die physische
Realtität anwenden kann. Nach Ansicht der Platonisten dürfte das nicht
funktionieren, da beispielsweise ein physisch vorhandenes rechtwinkliges
Dreieck nicht übermäßig viel mit dem idealen rechtwinkligen Dreieck zu tun hat,
auf das allein sich der Satz des Pythagoras bezieht. Mathematische Aussagen
sind echte Erkenntnisse über die Welt der Ideen, während man über die physische
Welt immer nur Meinungen äußern kann, weshalb die mathematischen Sätze auch
nichts mit der physischen Welt zu tun haben können. Zur Frage der Anwendbarkeit
hat der Platonismus nichts beizutragen. Dagegen scheint das Problem des mathematischen
Objektbereichs eine klare Antwort zu erfahren: mathematische Objekte sind reale
Objekte, die außerhalb unserer physischen Realität eine ideale Existenz
pflegen. Aber wie viele Objekte versammeln sich dort? Gibt es nur ein ideales
rechtwinkliges Dreieck oder eines für jede mögliche Kombination von Längen und
Winkeln? Da ein Dreieck drei Seiten hat, muss es wohl mindestens drei ideale
Geraden geben, und diese Anzahl lässt sich beliebig hochschrauben, indem man
von Dreiecken zu Vielecken übergeht.[15] Es
ist also durchaus nicht von vornherein klar, welche Objekte in den zeitlosen
Himmel der Mathematik aufgenommen werden sollen – und völlig unklar ist es, von
wem. Sie existieren einfach zeitlos und raumlos, wurden anscheinend nicht
geschaffen und wirken auf unsere physische Realität. Will man nicht gerade die
Existenz eines mathematikfreundlichen Gottes postulieren, so ist durchaus nicht
zu sehen, warum ein solches ewiges Universum der Ideen existieren sollte und
warum die endliche menschliche Vernunft Zugang zu ihr findet.
Es stellt sich also heraus, dass
der Platonismus keines der betrachteten Probleme lösen kann. Dennoch dürfte er
– als eine Art von impliziter Arbeitshypothese – von vielen aktiven Mathematikern
bevorzugt werden, weil er immerhin eine Vorstellung davon vermittelt, was der
forschende Mathematiker eigentlich macht: er arbeitet an Problemen, deren
Entitäten er sich der Bequemlichkeit halber als reale Objekte vorstellt, weil
es schließlich irgendein Objekt geben muss, das er als das Objekt seines
Nachdenkens bezeichnen kann. Bei der praktischen Arbeit, solange er nicht über
die damit verbundenen Probleme nachdenkt, wird der Mathematiker oft
platonistische Vorstellungen hegen, und in diesem Sinne ist die Ideenwelt des
Platonismus auch heute noch aktuell.
Aus dem Bedürfnis, die Gewissheit
der mathematischen Erkenntnisse zu sichern ist auch der vor allem von Bertrand
Russell und Alfred North Whitehead entwickelte Logizismus entstanden. Russell
war zur Zeit der Arbeit an den „Principia Mathematica“ in Bezug auf die Mathematik
sehr stark platonistisch orientiert: „Ich erachte alle Erkenntnis, die sich mit
den tatsächlich existierenden Dingen befasst ... für recht geringwertig im
Vergleich zu der Erkenntnis, die, wie Philosophie und Mathematik, sich mit den
geistigen, ewigen Objekten befasst –und sich gelöst hat von der jämmerlichen
Welt, die Gott geschaffen hat.“[16] Das
ist offenbar purer Platonismus: die physische Welt liefert keine ernst zu
nehmenden Erkenntnisse, die dagegen in der ewigen Welt der Ideen aufzufinden
sind. Im Gegensatz zum bisher besprochenen allgemeinen Platonismus versuchten
Russell und Whitehead aber, ihr Sicherheitsbedürfnis zu konkretisieren und sich
nicht auf einen Hinweis auf eine Welt ewiger Wahrheiten zu beschränken. Die
Grundidee erschien zunächst durchaus überzeugend: man kann sich auf den ersten
Blick kaum etwas vorstellen, das an Sicherheit die Prizipien der Logik
übersteigt oder an intuitiver Klarheit den schlichten Begriff der Menge hinter
sich lässt. Auf beidem sollte die gesamte Mathematik aufgebaut werden. Die
Logik bot die fundamentalen Gesetze des Denkens und der Vernunft wie zum
Beispiel das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, und die Mengenlehre im Sinne von
Cantors intuitiv klarem Mengenbegriff, deren Konstruktionen eng mit denen der
Logik verwandt waren, sicherte die Rückführung auf ein festes und unbezweifelbares
Fundament. Auf diese Weise sollten die unbezweifelbare Gewissheit der Logik und
die intuitive Einsichtigkeit der Mengenlehre auf die Mathematik in ihrer
Gesamtheit übertragen und so endlich eine sichere Grundlage der Mathematik
erreicht werden.
Russell und Whitehead konnten
dieses ansprechende Programm nicht in der gewünschten Weise erfüllen. Schon das
oben angesprochene Russellsche Paradoxon zeigte, dass die Mengenlehre im Sinne
Georg Cantors eben nicht die selbstverständliche Klarheit und intuitive
Sicherheit aufwies, die man von ihm erwartet hatte, sondern zu unangenehmen
Antinomien führen musste. „Ich gab mir die größte Mühe, die oben erwähnten
Widersprüche zu lösen. Jeden Morgen setzte ich mich vor ein unbeschriebenes
Blatt Papier. Den ganzen Tag über, nur kurz durch das Mittagessen unterbrochen,
stierte ich auf den leeren Bogen. Oft war er am Abend ebenso leer.“[17] Zwar
stellte es sich heraus, dass man die aufgetretenen Schwierigkeiten lösen oder
doch zumindest umgehen konnte, aber um welchen Preis! Von einer intuitiv klaren
Mengenlehre, die doch wenigstens einen Teil des festen Fundaments der
Mathematik bilden sollte, konnte keine Rede mehr sein, da man aufgrund der
aufgetretenen Probleme zu deutlich komplizierteren Konstruktionen hatte greifen
müssen, die alles andere als intuitiv klar waren. So etwas konnte nicht mehr
als Grundlage einer Logik dienen, die den Grundgesetzen des Denkens und der
Vernunft entsprechen sollte. Immerhin war es ja das Ziel des Logizismus
gewesen, die platonistische Auffassung vom Kopf wieder auf die Beine zu
stellen, indem nicht mehr nur auf eine ominöse Welt der Ideen verwiesen wurde,
sondern mithilfe von Mengenlehre und Logik klar gemacht wurde, wie man die
platonistische Ideenwelt konkretisieren könne, sodass jedem der sichere Grund
der Mathematik ersichtlich werden sollte. Im Zuge der Arbeit brach aber der
sichere Grund weg und es stellte sich heraus, dass weder die Mengenlehre noch
die Logik geeignet waren, ein standfestes Fundament der Mathematik zu bilden,
dessen Sicherheit über jeden Zweifel erhaben war.
Offenbar war also auch der
Logizismus nicht in der Lage, das Problem des sicheren Fundamentes zu lösen.
Wie sieht es nun mit den beiden anderen aufgeworfenen Problemen aus, also mit
der Frage nach dem Objektbereich der Mathematik und der Frage nach der Anwendbarkeit
auf die Realität? Da es sich hier um eine – wenn auch konkretisierte – Version
des Platonismus handelt, unterliegt natürlich der Logizismus den gleichen
Problemen wie der Platonismus auch. Immerhin wurde die Natur der mathematischen
Objekte genauer bestimmt, denn nach der Auffassung des Logizismus handelt es
sich dabei um nichts anderes als logische Konstruktionen, und die Logik selbst
gilt objektiv und unzweifelhaft. Da aber die Logik und die mit ihr verbundene
Mengenlehre sich selbst in Schwierigkeiten verwickelt hatten, ist diese
Auffassung nicht aufrecht zu erhalten; auch der Logizismus kann nicht erklären,
mit welcher Art von Objekten sich die Mathematik befasst. Im Übrigen ist auch
aus logizistischer Sicht durchaus nicht klar, wie man wohl als Mathematiker auf
den autonom existierenden Bereich der Logik zugreifen mag. Ohne einen solchen
Zugriff auf die eigentlichen Objekte der Mathematik ist es schließlich
unmöglich, Mathematik zu betreiben, und die Existenz mathematischer Aussagen
zeigt, dass dieser Zugriff in irgendeiner Weise möglich sein muss. Aber wie?
Hier bleibt am Ende wieder nur das von Gödel propagierte Vertrauen auf die
Wahrnehmung der logischen Objekte, eine Art von logischer Intuition, wodurch
aber selbst dann, wenn man einen autonom existierenden logischen Bereich
akzeptieren wollte, sich das Problem nur verschieben könnte: an die Stelle der
ungeklärten Frage nach der Natur mathematischer Objekte tritt in diesem Fall
die erst recht ungeklärte Frage nach der Natur der logischen Intuition. Das
zeigt auch schon, dass der Logizismus keine Lösung des Problems der
Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Realität bietet. Es mag ja eine
ideale Welt der Logik geben, aber wie hängt sie denn mit der physischen Welt
der Dinge zusammen? Besteht eine logische Beziehung zwischen rein logischen
Entitäten und physischen Gegenständen, die es rechtfertigen könnte,
mathematische Erkenntnisse auf physische Gegenstände anzuwenden? Eine solche
logische Beziehung müsste aber wieder eine Art von Wanderer zwischen den Welten
sein, wie ich es schon im Zusammenhang mit dem reinen Platonismus beschrieben
habe, und könnte eben nicht mehr der unverfälschten Welt der Logik angehören.
Als philosophisches Programm ist auch der Logizismus gescheitert.
Man kann den vor allem auf
Brouwer und Weyl zurückgehenden Intuitionismus als Gegenbewegung zur
platonistischen Auffassung im Allgemeinen und zur Mengenlehre Cantors im
Besonderen betrachten. Eine mathematische Entität wie eine Menge mit unendlich
vielen Elementen, die man nicht durch einen konstruktiven Prozess explizit
erzeugen konnte, war den Intuitionisten zutiefst verdächtig, da es ihrem
Grundprinzip widersprach: was wir kennen, sind die natürlichen Zahlen, die uns
durch eine Urintuition des Zählens vertraut sind, und jede mathematische
Erkenntnis muss sich auf diese Urintuition des Zählens zurückführen lassen.
Sofern es also möglich ist, ein mathematisches Objekt durch eine Konstruktion
aufzubauen, die bei den natürlichen Zahlen beginnt und nach endlich vielen
Schritten bei dem gewünschten Objekt ankommt, ist alles in Ordnung, dieses
Objekt existiert. Und das Gleiche gilt natürlich für Beweise, die nur dann akzeptabel
sind, wenn sie sich konstruktiv auf der Basis der natürlichen Zahlen aufbauen
lassen.
Die Konsequenzen dieser
Auffassung sind schwerwiegend, da sie die Mathematik auf eine Weise einengt,
die ihren Wirkungsbereich deutlich verkleinert. Es ist beispielsweise nicht
mehr möglich, den eher schlichten Satz, dass eine Zahl entweder positiv oder
negativ oder gleich Null sein muss, aufrecht zu erhalten, weil man – ausgehend
von den natürlichen Zahlen – in der Lage ist, eine Zahl zu konstruieren, deren Vorzeicheneigenschaft
nicht konstruktiv nachgewiesen werden kann. Hat man sich aber einmal darauf
eingelassen, nur konstruktive Beweise zu akzeptieren, so muss man auch
hinnehmen, dass für diese Zahl keine der drei üblichen Vorzeichenmöglichkeiten
gültig ist. Tatsächlich gehen die Probleme noch weiter, denn offenbar darf der
Intuitionist keinen Beweis als gültig akzeptieren, der auf dem Prinzip des
ausgeschlossenen Dritten beruht, weil dieses Prinzip keine konstruktiver
Grundlage aufweist, die sich auf die Urintuition des Zählens zurückführen
ließe. Es ist daher kein Wunder, dass sich die intuitionistische Richtung unter
Mathematikern keiner großen Beliebtheit erfreut: sie erklärt zu vieles für
unzulässig und schränkt die Möglichkeiten der Mathematik zu stark auf das rein
Konstruktive ein, weshalb bedeutende Teile der in der Mathematik bereits
erreichten Erkenntnisse für den Intuitionisten keine Gültigkeit haben.
Nun ist aber der Umstand, dass
eine philosophische Auffassung unbequeme Konsequenzen hat, noch kein Argument
für ihre Unhaltbarkeit. Welche Antworten hat der Intuitionismus auf die drei
Probleme, mit deren Hilfe ich bereits den allgemeinen Platonismus und den
Logizismus untersucht hatte? Was das Sicherheitsproblem angeht, so scheint er
eine klare Antwort zu liefern. Die Mathematik hat eine Sonderstellung, weil sie
ausschließlich auf der Urintuition des Zählens beruht, die allen Menschen
gemeinsam ist und daher keine Probleme aufwirft. Es hat sich aber schon bei den
Platonisten und den Logizisten gezeigt, dass der Rekurs auf Intuitionen gleich
welcher Art problematisch ist. Warum sollte die auf das Zählen bezogene Intuition
sicherer sein als die logische Intuition Russells? Und warum handelt es sich
hier um eine Urintuition? Im antiken Griechenland wäre kaum jemand auf die Idee
gekommen, dem Zählen einen derart hohen Status einzuräumen, während die
geometrische Intuition des Raumes einen deutlich höheren Stellenwert hatte.
Überdies weiß man, dass in bestimmten Kulturen die Urintuition des Zählens in
der von Brouwer gewünschten Weise nicht existiert, da man dort nur wenige
Zahlworte kennt und dann auf vage Begriffe wie „viele“ zurückgreifen muss. Wie
sieht es in diesem Falle aus mit der sicheren Urintuitionund der Konstruktion der mathematischen
Objekte? Offenbar ist also die Urintuition des Zählens alles andere als unproblematisch
und daher keine sichere Grundlage für mathematische Konstruktionen. Auch die
Frage nach dem Objektbereich der Mathematik findet keine befriedigende Antwort.
Soweit es sich um die konstruktiv aus den natürlichen Zahlen konstruierten
Objekte der Intuitionisten handelt, muss man die eben besprochenen Probleme in
Kauf nehmen, die den Status der Objekte zumindest zweifelhaft erscheinen
lassen. Es kommt aber noch eine Schwierigkeit hinzu. Immerhin ist auch der
Intuitionismus angetreten, um eine brauchbare Auffassung von der Mathematik zu
entwickeln, und seine Lösung läuft daraus hinaus, all die Objekte und Konstruktionen
aus der Mathematik zu entfernen, die ihm nicht ins Konzept passen. Die tatsächlich
vorhandene Mathematik lässt sich von der intuitionistischen Philosophie nicht
erfassen, weil sie von vornherein einen recht engen Bereich auszeichnet,
innerhalb dessen sich die Mathematik zu bewegen habe, und jedes Bemühen,
außerhalb dieses vorgegebenen Bereichs Ergebnisse zu erzielen, ganz einfach als
nicht mathematisch kennzeichnet. Damit kann man aber keine Theorie der
Mathematik aufbauen, die das Phänomen Mathematik einigermaßen treffend
beschreiben kann. Das intuitionistische Programm ist, so weit es konstruktiv
durchgeführt wurde, nichts anderes als ein bestimmter Zweig der Mathematik, der
sich auf gewisse vorgegebene Methoden beschränkt, aber als philosophische
Auffassung zur Grundlegung der Mathematik muss es wegen seiner Enge scheitern.
Man sollte allerdings zugeben, dass innerhalb der intuitionistischen Mathematik
– aber auch nur dort – der Intuitionismus eine Lösung des Problems liefert,
warum die Mathematik auf die Realität anwendbar ist. Noch einmal: Grundlage ist
die Urintuition des Zählens, und auch wenn sie wie jede Intuition mit Problemen
behaftet ist, so beruht das Zählen doch auf menschlichen Erfahrungen mit der
physischen Realität, mit der verfließenden Zeit und der Existenz einer
dinglichen Welt. Da also die menschliche Erfahrung stark in die Grundlage der
intuitionistischen Konstruktionen mit einfließt, ist es auch kein Wunder, dass
sie auf die Erfahrung anwendbar sind. Das gilt jedoch nur für den engen Bereich
der intuitionistisch-konstruktiven Mathematik. Dass auch die Teile der
Mathematik, die der Intuitionist gar nicht als Mathematik akzeptiert,
erfolgreich auf die physische Realität angewendet werden, kann der
Intuitionismus nicht erklären, sie kommen in seiner Welt nicht vor.
Es ist leicht nachzuvollziehen,
dass gerade die Einengung der Mathematik auf die von den Intuitionisten für
unproblematisch gehaltenen Teile unter den Mathematikern nicht nur zu einem
gewissen Unbehagen, sondern auch zu Gegenreaktionen führte, vorwiegend in
Gestalt des formalistischen Programms David Hilberts. Er hatte durchaus nicht
die Absicht, sich von den Intuitionisten „unsere Wissenschaft zerstückeln und
verstümmeln zu lassen“,[18]
sondern wollte den Reichtum der Mathematik gegen das Brouwersche Reinheitsgebot
verteidigen, ohne dabei in die alten Schwierigkeiten zu geraten. Auch Hilbert
suchte nach einer sicheren Grundlage, aber von anderer Art. Ausgehend von
Axiomen, also von ersten Grundsätzen, über die man nicht mehr diskutieren muss,
wollte er durch klar definierte formale Schlussregeln, deren korrekte Anwendung
im Prinzip von einer Maschine überprüft werden konnte, formale Herleitungen der
mathematischen Sätze erstellen. Die angewendeten Methoden sollten dabei als
rein formale Regeln zum Umgang mit Formeln verstanden werden, ohne jede inhaltliche
Interpretation, sodass von vornherein jede Belastung der Sätze mit inhaltlichen
Problemen vermieden werden konnte. Auch das System der Axiome erhob dabei
keinen Wahrheitsanspruch: worauf es ankam, war vor allem der Nachweis der
Widerspruchsfreiheit und der Vollkständigkeit des Axiomensystems, kein Axiom
durfte einem anderen logisch widersprechen und keines durfte fehlen, um alle
gewünschten Sätze einer mathematischen Theorie aus den Axiomen ableiten zu
können. Sobald man auf diese Weise mithilfe der formalen und inhaltsfreien
Schlussregeln aus einem widerspruchsfreien Axiomensystem neue Objekte
konstruiert und neue Erkenntnisse gewonnen hatte, war die Sicherheit der Mathematik
und die Existenz ihrer Objekte garantiert.
Man kann sich die Grundidee vorstellen,
indem man sich das Prinzip des Schachspiels vor Augen hält. Die Figuren auf dem
Brett erheben nicht den Anspruch, irgend etwas zu bedeuten, sie sind einfach
nur Figuren mit bestimmten Bezeichnungen an bestimmten Positionen des Bretts,
die im Laufe des Spiels verwendet werden sollen. Die Art ihrer Verwendung legen
die Spielregeln fest, die ohne jede inhaltliche Bedeutung sind, aber
ausnahmslos eingehalten werden müssen; jede Abweichung von den Regeln bedeutet
ein Ausscheiden aus dem Schachspiel. Und so betrachtet der Formalist die
Mathematik. Ob man nun in der Geometrie von Punkten und Geraden oder von
Schreibtischen und Staubsaugern redet, ist völlig gleichgültig, es kommt nur
darauf an, dass die Beziehungen zwischen diesen Objekten durch die Axiome festgelegt
sind. Auf dem Schachbrett bedeutet das beispielsweise, dass man weiß, auf
welchen Positionen die Figuren zu stehen haben; die Axiome legen hier die
Grundpositionen der Figuren fest. Dass die Axiome nicht widersprüchlich sein
dürfen, heißt hier, dass keine zwei Figuren auf einer Stelle stehen können, und
ihre Vollständigkeit läuft darauf hinaus, dass die nötigen Felder alle mit
Figuren besetzt sind und keine Figur fehlt. Ähnlich wird man daher bei den
geometrischen Axiomen festlegen, wie sich die grundlegenden Objekte zueinander
verhalten, aber diese Festsetzungen sind völlig unabhängig davon, ob man sich
nun Punkte und Geraden vorstellt oder Schreibtische und Staubsauger. Axiome
haben keinerlei inhaltliche Bedeutung. Und Schlussregeln natürlich auch nicht,
denn so wie sie beim Schachspiel in Form der Spielregeln nur festlegen, auf
welche Weise man welche Figur ziehen darf, stellen sie in der formalistischen
Mathematik Vorschriften dar, nach denen Formeln umgeformt werden dürfen. Jeder
Zug in einem Schachspiel kann – unabhängig davon, ob man die Figur des Pferdes
nun wirklich als Pferd betrachtet, als einen Punkt in der Landschaft oder als
gar nicht real vorhanden – anhand der vorgegebenen Spielregeln auf seine
Korrektheit überprüft werden, und ebenso kann jede im Rahmen einer
mathematischen Konstruktion oder eines Beweises vorgenommene Manipulation
aufgrund der formalen Schlussregeln auf ihre Zulässigkeit überprüft werden,
ohne dass man sich um inhaltliche Fragen noch Gedanken machen müsste.
Hilberts Programm war vor allem
ein mathematisches. Er glaubte keineswegs daran, dass die Mathematik ein
inhaltsleeres Spiel sei, sondern wollte mit seiner formalistischen Interpretation
der Mathematik die Sicherheit zurückgeben, die sie im Zuge der Grundlagenkrise
verloren hatte. Man kann ihn also als überzeugten Platonisten und als
notgedrungenen Formalisten bezeichnen, sein Formalismus war eine Methode, um
einen realistischen Standpunkt für die Mathematik zu retten. Sein
mathematisches Programm ist allerdings daran gescheitert, dass Kurt Gödel 1930
nachwies, dass kein hinreichend komplexes System seine eigene Widerspruchsfreiheit
beweisen kann. Es ist also beispielsweise nicht möglich, innerhalb der Arithmetik
der natürlichen Zahlen die Widerspruchsfreiheit eben dieser Arithmetik zu
beweisen, womit die gewünschte Grundlegung der Mathematik wieder einmal
zusammenbricht. Schließlich sollte die Sicherheit der mathematischen Methode
primär darauf beruhen, dass man die Widerspruchsfreiheit des jeweiligen
Axiomensystems demonstrierte, und wenn schon das nicht ging, dann konnte es mit
der Sicherheit nicht weit her sein.
Man kann aber jenseits des
mathematischen Programms Hilberts einen konsequenten Formalismus entwickeln,
indem man auf jeden platonistischen Anflug verzichtet und die Auffasssung von
Mathematik als Spiel ohne inhaltliche Bedeutung nicht mehr als Hilfsmittel zur
Gewinnung von Sicherheit begreift, sondern als wesentliches Charakteristikum
der Mathematik selbst. Ob die Axiome widerspruchsfrei sind oder nicht, ist dann
nicht mehr die zentrale Frage, sondern nur noch eine mögliche Frage unter
vielen. Die Axiome selbst werden, wie ich es am Beispiel des Schachspiels
erläutert habe, als Grundannahmen betrachtet, und die Mathematik besteht darin,
nach klar festgelegten Regeln Schlussfolgerungen aus diesen Axiomen zu ziehen.
Irgendwelche Bedeutungen, die man mit Objekten wie Punkten oder Geraden verbinden
könnte, spielen dabei nicht mehr die geringste Rolle, es kommt nur noch auf die
in den Axiomen definierten Grundstrukturen und auf das korrekte Anwenden der
vorgegebenen Schlussregeln an. Ein Beweis, der sich nicht auf die mechanische
Anwendung der Schlussregeln reduzieren lässt, ist kein gültiger Beweis. Auf
diese Weise wird die Mathematik zu einem Spiel, das nach festen Regeln gespielt
werden muss, jede Abweichung von den Regeln führt automatisch dazu, dass man
sich an dem Spiel Mathematik nicht mehr beteiligt. Und wie die Endstellung
einer Schachpartie nicht die mindeste inhaltliche Bedeutung hat, sondern nur
eine Stellung darstellt, die nach erlaubten formalen Operationen eingetreten
ist, kann man auch einem mathematischen Satz keinen echten Inhalt mehr
zuordnen. Beim Beweis eines Satzes sind ja nur inhaltslose Grundstrukturen nach
einmal festgesetzten Regeln manipuliert worden, und aus dem mechanischen
Manipulieren bedeutungsloser Strukturen entsteht kein bedeutungsvoller Satz.
Alles was man sagen kann, ist, dass ein mathematisches Ergebnis formal korrekt
aus diesem oder jenem Axiomensystem hergeleitet wurde; die Frage nach der
Wahrheit oder Falschheit des Ergebnisses stellt sich überhaupt nicht mehr, da
schon die Axiome nicht mit solchen Fragen belastet wurden. Es ist klar, dass
bei dieser Auffassung von Mathematik auch die Widerspruchsfreiheit der Axiome
keine besondere Bedeutung mehr hat, da nichts mehr eine Bedeutung hat. Stellt
sich im Verlauf einer korrekten formalen Herleitung heraus, dass das verwendete
Axiomensystem widersprüchlich war, so ist das wieder nichts anderes als ein
formal korrekt hergeleitetes Ergebnis, das vermutlich zu der Konsequenz führen
wird, dass man ein anderes Axiomensystem als Ausgangspunkt verwenden wird. Da
Axiome keine inhaltliche Bedeutung haben, ist ein System so gut wie das andere,
und die Wahl des passenden Axiomensystems verliert jede Dramatik.
Es ist dieser Standpunkt, auf den
sich viele Mathematiker auch heute zurückziehen dürften, sobald man sie mit
Fragen nach den Grundlagen der Mathematik behelligt. Und in der Tat scheint er
inmmerhin zwei meiner drei Probleme auf elegante Art zu lösen. Wie sieht es beispielsweise
mit dem Objektbereich der Mathematik aus, in welcher Weise existieren mathematische
Objekte? Ganz einfach: es gibt nur völlig bedeutungslose Axiome und ebenfalls
inhaltsleere Schlussregeln, an die man sich zu halten hat, und andere Objekte
kommen nicht vor. Der Formalist braucht keinen gesonderten Existenzbereich für
seine Objekte, weil er nichts anderes kennt als Zeichenketten, die bestimmten
Manipulationen unterworfen werden dürfen, wobei die Schlussregeln ebenfalls als
Zeichenketten dargestellt werden. Was braucht man mehr? Ein Schachspieler wird
ja auch keinen speziellen Teil der Welt für die Positionen der Figuren auf
seinem Schachbrett reservieren wollen, für ihn stellt sich die Frage nach einem
Objektbereich des Schachs nicht, weil er nur bedeutungslose Figuren und
erlaubte formale Manipulationen kennt. Und genauso sieht es der formalistische
Mathematikspieler. Er hat seine Grundfiguren und seine Spielregeln, alles liegt
in Form von Zeichenketten vor, und mehr wird nicht gebraucht. Die Frage nach
dem Objektbereich der Mathematik findet somit eine einfache Lösung: es gibt
keinen besonderen Objektbereich der Mathematik, und deshalb muss man ihn auch
nicht beschreiben.
Mit dem Problem der Sicherheit
sieht es nicht anders aus. Warum haben mathematische Objekte einen
Sonderstatus, warum ist mathematische Erkenntnis sichere Erkenntnis? Nach formalistischer
Auffassung gibt es überhaupt keine mathematische Erkenntnis, da Mathematik nur
ein inhaltsleeres regelbasiertes Spiel ist, bei dem man aus bedeutungslosen
Zeichenketten weitere bedeutungslose Zeichenketten generiert. Und wo es keine
Erkenntnis gibt, muss man auch nicht nach ihrer Sicherheit fragen, das Problem
verschwindet, bevor es überhaupt auftreten konnte. Nur auf die Frage nach der
Anwendbarkeit der Mathematik weiß der Formalist keine brauchbare Antwort. Er
manipuliert ja nur Bedeutungslosigkeiten: wie kann es dann sein, dass man diese
Bedeutungslosigkeiten mit großem Erfolg auf die physische Welt anwendet? Die
übliche formalistische Antwort ist die, dass man die durch rein formale Deduktion
erzielten, aber eigentlich inhaltsleeren Ergebnisse mit einer Interpretation
versieht und damit einen Bezug zur physischen Realität herstellt. Ein Punkt und
eine Gerade sind dann auf einmal nicht mehr nur inhaltlose Worte, sondern
sollen das darstellen, was man sich üblicherweise unter einem Punkt und einer
Geraden vorstellt. Aber warum sollten die vorher rein formal erzielten
Ergebnisse etwas mit einer Welt zu tun haben, die nicht unbedingt rein formal
ist? Wieso liefern nun völlig inhaltsleere Formeln, nur weil man ihren
Grundbegriffen eine Bedeutung verleiht, auch inhaltliche Ergebnisse, die allem
Anschein nach etwas über die physische Welt aussagen? Kann man dann überhaupt
noch die eigentlich inhaltsleeren Ergebnisformeln aufrecht erhalten, deren
Grundidee ja gerade darin bestand, dass es nur um die regelbasierte Herleitung
von Formeln ging und Inhalte keine Rolle spielen? Es käme auch kaum jemand auf
den Gedanken, aus der Endposition eines Schachspiels konkrete physische
Eigenschaften von lebendigen Pferden oder steinernen Türmen zu folgern, nur
weil man einige auftretende Figuren als Pferde oder Türme bezeichnen kann.
Für das Anwendbarkeitsproblem
kannder Formalismus also keine Lösung
bereit stellen. Aber auch seine Lösungen der ersten beiden Probleme sind
Scheinlösungen, die auf einer fehlerhaften Identifikation von formalistischer
Mathematik mit Mathematik überhaupt beruhen – eine Schwierigkeit, die schon
beim Intuitionismus auftauchte. Natürlich könnte man im Prinzip jeden
existierenden Beweis dem formalistischen Programm unterwerfen und auf diese
Weise zeigen, dass es sich auch bei diesem konkreten Beweis um ein
regelbasiertes Spiel handelt. Das ist aber himmelweit von der mathematischen
Realität entfernt und kann die Rolle der Mathematik nicht im Entferntesten
beschreiben. Würde man bei jedem mathematischen Problem, gleich welcher
Komplexität, immer und immer wieder auf das jeweilige Axiomensystem zurückgehen
mit der Verpflichtung, die betreffende Aussage aus den Axiomen auf mechanische
Weise mit Hilfe der erlaubten Schlussregeln herzuleiten, so gäbe es nur einen
Bruchteil der vorhandenen Mathematik, weil die Umständlichkeit dieses
Verfahrens jede weitere Arbeit beliebig verzögern müsste. Sicher könnte man so eine bestimmte Art von Mathematik
betreiben, aber in der Realität wird man niemanden finden, der sich auf eine
solche Methode einlässt, weil sie nichts anderes als unfruchtbar sein kann.
Auch die Auffassung, die mathematischen Objekte hätten für sich genommen keine
Bedeutung, ist in Anbetracht konkreter Beweise selbst dann schwer aufrecht zu
erhalten, wenn man diese Beweise in ein formalistisches Spiel übertragen würde.
Selbst dann muss man nämlich als Beweisender beim Übergang zum nächsten
Beweisschritt eine Entscheidung treffen, welche der formal nach den Regeln
erlaubten Manipulationen man nun an den erreichten Formeln vornehmen will. Das
wird nicht auf gut Glück geschehen, sondern nach inhaltlichen Kriterien: wie
kann man das gewünschte Ziel möglichst gut erreichen? Man muss die auf das
Problem passenden Manipulationen herausfinden, was nur dann möglich ist, wenn
man an die Bedeutung der formalen Zeichenketten denkt – an eben jene Bedeutung,
die der Formalist wegdefinieren möchte. Unterlässt man das, so ist jede
erlaubte Manipulation so gut wie jede andere, und eine Bevorzugung bestimmter
Operationen im Rahmen eines Beweises ist nicht zu rechtfertigen. Es stellt sich
also heraus, dass der Formalismus zwar Lösungen anbietet, aber diese Lösungen
nicht so recht zum Problem passen, weil er die tatsächliche Mathematik
ignoriert. Und was soll man von einer Philosophie der Mathematik halten, die
sich die Mathematik so konstruiert, wie sie sie gerne hätte, und sie nicht so
untersucht, wie sie ist?
Damit habe ich meine Diskussion
des Grundlagenstreits der Mathematik beendet. Die Problemlösungen, die in
seiner Folge vorgeschlagen wurden, haben sich als unbefriedigend erwiesen, und
vielleicht liegt es daran, dass dieser Streit im Laufe der Zeit ein wenig eingeschlafen
ist. Dennoch wurde und wird auch außerhalb der vorgestellten Hauptpositionen
über philosophische Fragen der Mathematik nachgedacht. Das Beispiel von Imre
Lakatos habe ich bereits am Anfang dieses Aufsatzes vorgestellt. In seinem
Beitrag zum „Spektrum der Wissenschaft“[19] hat
Kanitscheider zwei weitere Auffassungen besprochen, die versuchen, etwas Licht
auf die Mathematik zu werfen.
Mit ihrem
„Unvermeidlichkeitsargument“ haben W.V.O. Quine und H. Putnam versucht, eine
neue Begründung für die Auffassung zu liefern, dass mathematische Objekte eine
eigene Realität beanspruchen können. Es beruht darauf, dass man zur
Formulierung sowohl mathematischer als auch naturwissenschaftlicher Aussagen
oft so genannte Quantoren verwendet. Daran ist nichts Geheimnisvolles. Will man
zum Beispiel zum Ausdruck bringen, dass für alle rechtwinkligen Dreiecke der
Satz des Pythagoras gilt, so gibt es für den sprachlichen Ausdruck „für alle“
ein mathematisches Zeichen, das man als Allquantor bezeichnet und das nur eine
formale Abkürzung für eben dieses „für alle“ darstellt. Offenbar ist dann
dieser Allquantor auch im physikalischen Kontext einsetzbar, da
naturwissenschaftliche Aussagen oft Allaussagen sind, die für alle Objekte
eines bestimmten Bereiches gelten sollen. Zusätzlich zum Allquantor wird auch
gerne der Existenzquantor verwendet, eine formelmäßige Abkürzung für den
Ausdruck „es gibt“ oder „es existiert“. Es handelt sich also bei beiden
Quantoren nur um abkürzende Schreibweisen, aber Quine und Putnam haben sie
dennoch zur Grundlage eines Arguments gemacht, mit dem sie für die reale
Existenz mathematischer Objekte plädieren: weil sich die Quantoren auf
abstrakte wie auch auf reale Objekte anwenden lassen und die physikalischen und
mathematischen Teile naturwissenschaftlicher Theorien sehr miteinander
verschränkt sind, kann man „ohne willkürliche Parteilichkeit“[20]
nicht physikalischer Realist und mathematischer Idealist sein.Hier genügt
schon die Frage, warum man das eigentlich nicht sein dürfe, um dem Argument
zumindest einen Teil seinesBodens zu entziehen. Denn warum soll man nicht
parteilich sein? Der Vorwurf, bei einer Trennung der Sichtweisen in
Parteilichkeit zu versinken, setztin Wahrheit schon die gewünschte
Antwort voraus, denn sobald man – grundlos – akzeptiert hat, dass eine Trennung
in zwei verschiedene Realitätskategorien eine unerwünschte Parteilichkeit
impliziert, ist die Entscheidung zugunsten der Realität der mathematischen
Objekte schon gefallen. Danach sollte man aber auch konsequent sein und noch
einen Schritt weiter gehen. Immerhin könnte man ja auch die – als real
erkannten – mathematischen Objektemithilfe von Quantoren auch mit
weiteren Objekten verbinden wie zum Beispiel den Bewohnern des griechischen
Götterhimmels. Um nur ein Beispiel zu nennen: für alle griechischen Götter
existiert mindestens ein griechischer Berg mit der Eigenschaft, dass alle diese
Götter auf diesem Berg wohnen. Hier werden mathematische Objekte – die Zahl 1
–,physischeObjekte – der Olymp – und mythologische
Objektedurch Quantoren miteinander verbunden, und„ohne willkürliche
Parteilichkeit“ kann man den mythologischen Objekten dannnicht die
Realität absprechen, die man den mathematischen und den physischen bereits
zuerkannt hat.
Das Argument, die
Anwendungenvon Quantoren auf mathematischeObjekte sei für die Wissenschaft
unvermeidlich und deshalb müssten diese Objekte auch existieren, erinnert
tatsächlich an theologische Vorgehensweisen, denn auf ähnliche Weise
argumentiert auch Joseph Ratzinger gerne: nur weil der Mensch oft und gerne an
ein Lebennach dem Tode glaubt und dieser Glaube für viele unverzichtbar
ist, um ihr Leben zu ertragen, muss natürlichauch ein Leben nach dem Tode
existieren.[21] Ob Putnam und Quine die
geistige Nähe zum Papst unbedingt erwünscht hätten, ist mir durchaus nicht
klar, aber ihrer Theorie zufolge ist sie kaum vermeidbar – oder sogar
unvermeidbar und daher ihrer Meinung nach auchreal. Auch Isaac Newton war der Meinung, die Existenz eines
Schöpfergottes sei unvermeidbar, um das Wesen der Schwerkraft zu erklären, und
doch wird man das heute kaum noch als gültiges Argument ansehen. Die Frage nach
dem Objektbereich, die Quine und Putnam mit ihrem Ansatz klären wollten, bleibt
daher trotz ihres Unvermeidlichkeitsarguments offen.
Einen ausgesprochen
platonistischen Ansatz zum Zusammenhang zwischen physischer Realität und
Mathematik hat Max Tegmark vorgeschlagen.[22]
Ausgehend von der kosmologischen Theorie des Multiversums, nach der es nicht
nur unser Universum gibt, sondern dieses Universum nur eines unter vielen ist,
erklärt er die „mathematischen Objekte für die primäre Realität“, alles andere,
insbesonde die physische Realität, ist abgeleitet. Die verschiedenen Universen
bestehen aus „konsistenten formalen Strukturen“, und einige von ihnen besitzen
die „kontingente Eigenschaft“, intelligente Substrukturen hervorzubringen. Das
geht zwar nicht in allen dieser konsistenten Strukturen, aber in unserer eben
schon, und damit ist auch das Problem gelöst, warum unser Universum durch die
Gleichungen beschrieben wird, durch die es beschrieben wird.[23] Hier
weiß man nicht so recht, wo man anfangen soll. Tegmark scheint eine Art
anthropisches Prinzip zu installieren: wir sind nun einmal da und die
Gleichungen sind nun einmal so, wie sie sind, also leben wir eben in einer
konsistenten Struktur, die intelligente Substrukturen hervorbringt. Was ist
dadurch gewonnen? Das Problem, warum wir durch Mathematik das Universum
beschreiben können, ist auf diese Weise keineswegs lösbar, schließlich ist auch
die Euklidische Geometrie eine ausgesprochen konsistente formale Struktur, man
geht aber trotzdem davon aus, dass sie den und umgebenden Raum nicht korrekt beschreibt.
Warum scheint also die Riemannsche Geometrie die für uns passende Struktur zu
sein, und warum nicht die Euklidische? Die Antwort bleibt uns Tegmark ebenso
schuldig wie jeder andere, und schon deshalb sind die Vorteile seiner Theorie
nicht zu sehen. Ob man nun das Multiversum, sofern es denn ein solches geben
sollte, als physisch annimmt und dann sagt, dass wir die Gleichungen unserem
Universum abgelauscht haben, oder ob man es als eine formale Struktur ansieht,
bei der man dann nicht so recht wissen kann, woher eigentlich die physischen
Objekte kommen – das macht insofern keinen so großen Unterschied, als man in
der einen Version vor dem Problem steht, die Existenzform der mathematischen Objekte
zu erklären, während in der zweiten Version die Existenzform der physischen
Objekte unklar bleiben muss. „The idea that physical world ... is a mathematical
structure“[24] hilft hier nicht weiter,
solange man nicht verdeutlichen kann, wieso eine mathematische Struktur zu physischen
Ausprägungen gelangen kann. Im Übrigen ist nicht klar, wer eigentlich wissen
soll, was eine logisch konsistente Struktur ist, bevor es ein Uni- oder
Multiversum überhaupt gibt.Sind die logischen Gesetze über jeden Zweifel
erhaben und vor der Geburt des Universums vorhanden?In diesem Fall müsste
man klären, wo sie sich aufgehalten haben.Woher hat
siedasUniversum gekannt, bevor es da war und sich nach ihnen
richten konnte? Hier scheint durch die Hintertür der logischen
Konsistenzder Schöpfergottins Spiel zu kommen, der die zulässigen
Strukturen festlegt und damit alle Probleme aus dem Weg räumt. Dann hätte man
sich allerdings die Theorie, die physische Welt sei eine mathematische
Struktur, sparen können, denn der Schöpfergott kann auch die physische Realität
gleich ohneUmweg über die konsistenten formalen Strukturen erschaffen,
wenn er denn Lust dazu verspüren sollte. Indem man einfach die Mathematik
mit dem Universum gleichsetzt, hat man bestenfalls eine verbale Scheinlösung
der angesprochenen Probleme gewonnen. Über die Existenzform mathematischer
Objekte ist damit nur wenig gesagt, weil dieses Problem nur auf die Existenzform
der physischen Objekte verschoben wurde. Und die Frage der Anwendbarkeit der
Mathematik wird dadurch beantwortet, dass die Mathematik ja schon die Welt ist und man sich daher nicht über das
Zusammenpassen wundern muss. Ersetzt man hier die Mathematik durch Gott, so
gelangt man zu einer schönen Begründung für das Wirken Gottes in der Welt, und
man sieht noch etwas deutlicher, dass es sich um ein Scheinargument handelt.
Oder: warum kann man die Regeln der Moral auf die Welt anwenden? Ganz einfach,
das Universum besteht in Wahrheit aus moralischen Strukturen, und daher ist es
nicht überraschend, dass die Moral auf das Universum passt. Wenn man das, was
man erklären will, gleich in den Urstoff des Universums hinein postuliert, ist
es kein Wunder, dass man es am Ende wieder herausbekommt. Auch das Problem der
Anwendbarkeit der Mathematik findet also auf diese Weise keine Lösung.
Eine völlig andere Theorie der
mathematischen Objekte hat Karl Popper im Rahmen seiner Drei-Welten-Lehre
vorgeschlagen. Er teilt die gesamte Welt ein in eine Welt 1 der physischen
Objekte und physischen Vorgänge sowie eine Welt 2 der psychischen Vorgänge.
Dazu kommt aber noch eine Welt 3: „Die Welt der Produkte des menschlichen
Geistes; im engeren Sinne insbesondere die Welt der Theorien, einschließlich
der falschen Theorien; und die Welt der wissenschaftlichen Probleme.“[25]
Popper behauptet, „dass die Welt 3 zwar genetisch das Produkt der Welt 2 ist,
dass sie aber eine innere Struktur hat, die teilweise autonom ist.“[26]
Warum kann man nun diese Welt 3 als wirklich betrachten? Das kommt ganz darauf
an, wie man den Begriff der Wirklichkeit definiert, und Popper schlägt vor,
„etwas wirklich zu nennen, wenn es auf die Dinge der Welt 1 einwirken kann,.
entweder direkt oder indirekt.“[27] Da
nun aber das Bewusstsein, dessen Vorgänge zur Welt 2 gehören, sowohl Kontakt
zur physischen Welt hat – schon deshalb, weil Bewusstseinsvorgänge auch mit
physisch vorhandenen Gehirnprozessen zu tun haben – als auch zur immateriellen
Welt 3, da man mithilfe des Bewusstseins die Gegenstände der Welt 3 erfasst,
gibt es eine indirekte Verbindung zwischen Welt 1 und Welt 3 über die Welt 2.
„Man kann nicht ernsthaft leugnen, dass die Welt 3 der mathematischen und
empirisch-wissenschaftlichen Theorien einen ungeheuren Einfluss auf die Welt 1
ausübt. Das tut sie beispielsweise vermittels der Tätigkeit von Technikern, die
Änderungen in der Welt 1 bewirken, indem sie bestimmte Folgerungen aus diesen
Theorien anwenden.“[28]
Diese Wirklichkeitsauffassung hat
Konsequenzen für Poppers Einschätzung der mathematischen Objekten, die man gut
am Beispiel der natürlichen und der ganzen Zahlen erkennen kann. Im Gegensatz
zu Kroneckers berühmtem Satz, die ganzen Zahlen habe Gott geschaffen, alles
andere sei Menschenwerk, betrachtet Popper die natürlichen Zahlen als
Menschenwerk, als „Nebenprodukt der menschlichen Sprache, der Erfindung des
Zählens.“[29] Hat man aber erst einmal
die Zahlen selbst und ihre Grundoperationen wie Addition oder Multiplikation
erfunden, so hat man keine große Wahl mehr: „die Gesetze der Addition und der
Multiplikation ... sind keine menschliche Erfindung. Sie sind ungewollte,
unbeabsichtigte Konsequenzen der menschlichen Erfindung, und sie wurden
entdeckt.“[30] Sobald also die
Grundstrukturen erfunden worden sind, geht es durchaus nicht mehr um
menschliche Erfindungen, sondern um die Entdeckung objektiver Tatsachen, an
denen nichts zu ändern ist. Auch die Existenz von Primzahlen oder die
Aufteilung der ganzen Zahlen in gerade und ungerade Zahlen sind Entdeckungen,
die nichts mehr mit freien Erfindungen des menschlichen Geistes zu tun haben.
Schon die natürlichen Zahlen gehören zur Welt 3, aber die bei der Erfindung der
natürlichen Zahlen unvorhergesehene Existenz der Primzahlen zeigt, dass die
Objekte der Welt 3 ein autonomes Eigenleben führen und dass man ihre
Eigenschaften nur noch entdecken kann, wie man beispielsweise die Eigenschaften
von Atomen oder von Galaxien entdeckt. Mathematische Probleme und ihre
gelungenen oder misslungenen Lösungsversuche sind autonome Bewohner der Welt 3,
die deshalb eine eigene Wirklichkeit haben, weil sie – vermittelt durch die
Welt 2 der psychischen Vorgänge – auf die physische Welt 1 einwirken.
So weit Poppers Theorie der Welt
3, die auf verschiedene Weisen kritisiert worden ist, und ihre Anwendung auf
die Mathematik. Der manchmal geäußerte Widersprüchlichkeitsvorwurf – etwa in
der Art, die Welt 3 enthalte beispielsweise auch die berühmteRussellsche
Menge aller Mengen, die aber widersprüchlich sei, und müsse daher selbst widersprüchlich
sein und könne nicht existieren– scheint mir allerdings nicht sehr
treffend zu sein. Die Welt 3 enthält ja eben nicht die Menge aller Mengen oder
ähnliche Objekte, sondern die in der Tat widersprüchliche Theorie über
diese Menge. AuchRussellsGehirn enthielt in der einen oder anderen
Form diese Theorie, aberkeiner käme auf die Idee, dass deshalb
RussellsGehirn nicht existierte. Aber warum sind nach Popper
mathematische Objekte und überhaupt die Objekte der Welt 3 real? Weil sie auf
Welt 1 wirken, weil es eine Interaktion mit physischen Objekten gibt, und was
mit Welt 1 wechselwirkt, das ist real. Nun gibt es aber eine Menge mathematischer
Theorien, die nicht im Geringsten auf Welt 1 wirken, es gibt sogar solche, die
es aller Voraussicht nach niemals tun werden, weil erstens die Menge der
denkbaren Theorien unendlich groß ist und wir vermutlich nur endlich viel Zeit
haben, für eine Wechselwirkung zu sorgen, und weilzweitens etliche
Theoriensich mit derart abstrakten Objekten befassen, dass eine Anwendung
in der physischen Welt 1 nicht zu erwarten ist. Aber unabhängig davon: selbst
wenn man nur den derzeitigen Stand der Wechselwirkung berücksichtigen will,
muss man eine Klasse von realen Theorien annehmen – das sind die aktuell
wechselwirkenden –und eine Klasse von irrealen. Ich kann aber nicht sehen,
warum man eine abstrakte Theorie über spezielle topologische Räume mit einem
anderen ontologischen Status ausstatten sollte als beispielsweise die
Differentialrechnung, die unzweifelhaft Auswirkungen auf Welt 1 hat. Als
mathematische Theorie ist die eine so gut oder schlecht wie die andere. Geht
man andererseits von einer Art potentieller Wirkung aus und gesteht zu, dass
alles, was auf Welt 1 wirken könnte, schon real ist, dann kommt man in
eine andere Ecke von Teufels Küche. Auch Probleme gehören ja in Poppers Welt 3,
und sie müssen da auch sein, denndie Wirkung vieler Probleme auf Welt 1
ist offensichtlich. Man kann aber alles zum Problem machen; das gilt nicht nur
in Diskussionen unter Ehepaaren, sondern in einem wesentlich allgemeineren
Sinn. Jede beliebige sinnlos erscheinende Zeichenkettewirft schon das
Problem auf, was wohl damit gemeint sein könnte, ob eintieferer Sinn
dahinter steckt oder ob es sich eben nur um sinnlose Zeichen handelt. Somit
muss auch jedebeliebige Zeichenkette,ganz unabhängig von den
verwendeten Zeichen, als Bewohner der Welt 3 akzeptiert werden, und da
beispielsweise die Kryptographie zur Mathematik gehört,ist auch jede
nochso sinnlose Zeichenkette ein mathematisches Objekt mit einem eigenen
Recht auf Realität.
Tatsächlich sind aber auch
Konstellationen denkbar, in denen ein Bewohner der Welt 3 sein Existenzrecht in
dieser Welt verliert. Denkt man sich einen mathematischen Aufsatz, der in
irgendeiner einigermaßen unbekannten Zeitschrift veröffentlicht wird, so haben
seine Inhalte allein schon durch den Druck eine klare Auswirkung auf die Welt
1, gehören also als wirkliche Objekte zu Welt 3. Nun kann aber die gesamte
Auflage verloren gehen, und da niemand den Aufsatz jemals gelesen hat und der
Autor kurz nach seiner Veröffentlichung verstorben ist, wird mit Sicherheit
keine Wirkung in Welt 1 mehr zu verzeichnen sein, sodass der bisherige Bewohner
der Welt 3 aus seiner Welt verschwindet. Umgekehrt kann man auch die Auffassung
vertreten, dass jeder jemals gedachte Gedanke einen Platz in Poppers Welt 3
verdient, da beim Vorgang des Denkens in jedem Fall physische Vorgänge
ausgelöst werden und somit eine Wirkung auf Objekte der Welt 1 vorliegt. Daraus
folgt aber, dass jeder noch so große Unsinn in Welt 3 gehören würde, sobald er
einmal gedacht worden ist.
Wie man sieht, führt Poppers
Ansatz zu erheblichen Problemen, weshalb man ihn aber noch lange nicht ohne
Weiteres verwerfen sollte. So gerät er beispielsweise nicht in das Problem, die
Sonderstellung der Mathematik in Bezug auf die Sicherheit ihrer Erkenntnisse
erklären zu müssen, da Popper als Fallibilist nicht davon ausgeht, dass so
etwas wie sichere Erkenntnis existiert, und daher auch der Mathematik keinen
Sonderstatus zugestehen muss. Seine Lösung des Problems, wie der Objektbereich
der Mathematik aussieht, bleibt allerdings äußerst unbefriedigend. Dagegen hat
sein Ansatz keine Schwierigkeiten mit der Frage nach der Anwendbarkeit der
Mathematik, denn die grundlegenden mathematischen Objekte betrachtet er als
Erfindungen des Menschen, und da der Mensch sich innerhalb der physischen Welt
aufhält, ist es nicht überraschend, dass auch seine Erfindungen Bezüge zur
physischen Realität aufweisen.
Betrachtet man aber Poppers
Auffassungen zur Welt 3 nicht als fertige Lösung, sondern als ein
metaphysisches Forschungsprogramm, das noch nicht vollständig ausgearbeitet
wurde und dessen bisherige Ausprägungen der Korrektur bedürfen, so kann man
sich fragen, welche Teile seines Ansatzes zu den beschriebenen Problemen
führen, und dann versuchen, diese Teile zu verbessern. Und das ist in der Tat
möglich, denn die oben angeführten Schwierigkeiten beruhen vor allem auf
Poppers Wirklichkeitsdefinition und auf den Autonomieansprüchen der Bewohner
seiner Welt 3. Reduziert man nun diese Ansprüche und verzichtet darauf, die Wirklichkeit
von Objekten über ihre Einflussmöglichkeiten auf die physische Welt 1 zu
definieren, so kann man tatsächlich auch zur Erklärung mathematischer Objekte
auf so etwas Ähnliches wie die Welt 3 zurückgreifen, wenn auch nur teilweise.
Popper hat den Kroneckersatz, dieganzen Zahlen habe Gott gemacht, alles
andere sei Menschenwerk,gewissermaßen umgekehrt: die ganzen Zahlen sind
eine menschliche Erfindung,vermutlich von der physischen Realität
abstrahiert, und was danach an Zahlentheorie, Analysis oder Ähnlichem kommt,
dasist bereits in der Grundstrukturversteckt und muss nur noch gefunden
werden, nicht mehr erfunden. Was den ersten Teil angeht, so stimme ich
ihm zu. Wir haben – und das war schwer genug und hat lange gedauert –
beispielsweise die natürlichen Zahlen erfunden, einschließlich der zugehörigen
Schreibweisen undRechenoperationen. Damit sind sie in der Welt, egal welche
Nummer diese Welt nun auch tragen mag. Seltsamerweisescheint man sich
javiel weniger Gedanken zu machen, ob die Objekte der
Literaturwissenschaftler oder auch der Wissenschaftstheoretiker existieren und
wenn ja, in welcher Weise. Kaum jemand wird bestreiten, dass eine
philosophische Theorie existiert, weil man sie gedacht, ausgesprochen und aufgeschrieben
hat und weil verschiedene Subjektein der Lage sind, sich darüber zu äußern.
Eine weitergehendeRealität kann jedenfalls ich keiner philosophischen
Theorie zugestehen. Und bei mathematischen Objektensind wir doch in einer
viel besseren Situation, denn diese Objekte haben – im Gegensatz zu
philosophischen oder gar literaturwissenschaftlichen Objekten – intersubjektiv
überprüfbare Eigenschaften. Resultate, die mit der erfundenen Menge der ganzen
Zahlen und ihrenebenfalls erfundenen grundlegenden Rechenoperationen
erzielt werden, sind intersubjektiv überprüfbar, es handelt sich um klare
Konzepte, die aus der Abstraktion derphysischen Realität gewonnen wurden,
aber deshalb selbst real sind, weil sie zu jeder Zeit und an jedem Ort die
gleichen Eigenschaften haben, genauso wie ein Wasserstoffatom zu jedem
Zeitpunkt an jedem Ort die gleichen Eigenschaften haben sollte. Es handelt sich
also bei mathematischen Objekten wie den ganzen Zahlen um sprachliche Ausdrücke,
die aber nicht nur sinnlose Zeichenketten darstellen,sondern aufgrund
ihrer Konstruktion intersubjektiv überprüfbare Eigenschaften aufweisen.[31]
Werdiese Eigenschaften nicht akzeptieren will, scheidet aus dem Spiel der
Mathematik aus – aber jeder, der die Eigenschaften eines Autos bezweifelt, wird
wohl auch besser nicht damit fahren, und wer nicht akzeptiert, dass Flugzeuge
fliegen können, sollte sich von ihnen fernhalten. Insofern ist die Situation
mathematischer Objekte nicht anders als diephysischer Objekte, auch wenn
sie abstrakt sind.
Nun packt Popper aber die
Probleme, die im Zusammenhang mit diesen Grundobjekten entstehen können, in
dieautonome Welt 3, indem er sagt, dass sie in der Welt sind, sobald man
sich beispielsweise einmal auf die Zahlen geeinigt hat. Das ist aber schon in
der physischen Realität nicht der Fall. Die meisten von uns gehen davon aus,
dass es Sterne und Planeten im All gibt, und zwar ganz von alleine, ohne unser
Zutun. Bei den Galaxien kann man das schon anders sehen, eine Galaxisist
ein abstrakter Begriff, der selbst erst erfunden werden muss, bevor man daran
gehen kann, die vorhandenen Sterne und Planeten in Galaxien zu ordnen. Noch
klarer wird das bei Galaxienclustern. Den Sternen und auch den einzelnen Galaxiendürfte
es ziemlich egal sein, ob in der Nähe noch andere Galaxienihres Weges
ziehen; nur die Definition und Beobachtung des Menschen macht aus verschiedenen
Galaxien ein Galaxiencluster. Das existiert dann natürlich und hat bestimmte
intersubjektiv überprüfbare Eigenschaften, aber man muss erst einmal die
Begriffe der Galaxie und des Clusters erfinden, bevor man an die Probleme
herankommt. Bei Objekten wie zum Beispiel den Primzahlen ist das aber ganz
ähnlich. Selbstverständlich existieren die Zahlen 2,3,5,7,11 usw.,
sobaldeinmal die natürlichen Zahlen in der Welt sind, aber die
Besonderheit, eine Primzahl zu sein, muss erst einmal definiert werden, bevor
irgendwelche Probleme auftauchen, die manvielleicht lösen kann. Auch die
Eigenschaft, Primzahl zu sein, ist eine erfundene Eigenschaft, und bevor jemand
auf die Idee kommt, sich für Teilbarkeiten zu interessieren, ist diese
Eigenschaft nicht in der Welt. Ich plädiere also dafür, Probleme nicht als
autonom zu betrachten, sondern ebenfalls als Erfindungen des menschlichen
Geistes, die aber nach ihrer Erfindung wieder mit dem gleichen
Intersubjektivitätsargument wie oben reale Objekte sind. Deshalb würde man beispielsweise
die Frage, welche natürlichen Zahlen wohl besonders schöne Kringel haben, kaum
zur Welt der mathematischen Probleme zählen, weil sie keinen intersubjektiv
überprüfbaren Sinn aufweist.
Was dann abergefunden und
entdeckt werdenkann, sind die Lösungen der Probleme. Die alte
Hilbert-Maxime "Da ist das Problem, löse es" bedeutet natürlich, dass
mannach einer Lösung sucht, die zum Problem passt. Natürlich
istjede mathematische Lösung – ebenso wie jede physikalische Theorie –
zunächst einmal frei erfunden, aber diese frei erfundene sprachliche Struktur
hat wieder intersubjektiv überprüfbareEigenschaften, die sich dann an dem
vorhandenen mathematischen Problem messen lassen müssen. Und abgesehen von der
grundsätzlichen Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft bedeutet das, dass eine
vorgeschlagene Lösung ein mathematisches Problemlöst oder eben nicht; da gibt
es kaum noch Entscheidungsspielraum. Zwar haben die Arbeiten von Lakatos
deutlich gezeigt, dass die Frage, ob eine gegebene Lösung tatsächlich ein
gegebenes Problem löst, im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beurteilt werden
kann, aber das ändert nichts daran, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine
vorgeschlagene Lösung eines Problems intersubjektiv üerprüfbar ist und an den
jeweiligen Standards gemessen werden kann.
Ichgestehe den
mathematischenObjekten also ebenfalls Realität zu, aber ihre Autonomie
beginnt erst sehr spät, nämlich auf der Ebene der Lösungen, und selbst dann ist
diese Autonomie stark eingeschränkt, da die intersubjektive Beurteilung immer
nur auf der Basis der jeweils akzeptierten Standards, also auf der Basis eines
gewissen Hintergrundwissens erfolgen kann. Das ist aber kein Nachteil, denn in
der gleichen Situation befinden sich auch alle anderen Wissenschaften; ohne ein
gewisses Maß an akzeptiertem Hintergrundwissen, das man zu einem gegebenen
Zeitpunkt als unproblematisch annimmt, kommt keine Wissenschaft aus. Was kann
nun diese Auffassung zu den drei Grundproblemen beitragen, die mich durch den
gesamten Aufsatz begleitet haben? In der Frage des Sonderstatus der Mathematik,
was ihre Sicherheit angeht, schließt sich meine Position an die Poppers an. Wie
ich schon zu Anfang besprochen habe, ist die Mathematik nicht sicherer als
andere Wissenschaften und ist genauso wie beispielsweise die Physik auf
akzeptierte Standards und ein zeitabhängiges Hintergrundwissen angewiesen. Da
es also keinen Sonderstatus der Mathematik gibt, muss man ihn auch nicht
erklären. Was die mathematischen Objekte und die Theorien der Mathematik
angeht, so handelt es sich um sprachliche Ausdrücke, deren Eigenschaften einer
intersubjektiven Überprüfung zugänglich sind, wodurch ihre Realität begründet
wird. Die Probleme, die im Zusammenhang mit Poppers Welt 3 aufgetreten sind,
kommen hier nicht zum Zuge, da Poppers problematisches Realitätskriterium nicht
mehr verwendet wird, die Frage der Autonomie erst im Zusammenhang mit
Problemlösungen auftaucht und die Rolle des zeitbedingten Hintergrundwissens
berücksichtigt wird. So verschwindet beispielsweise das Problem des beliebigen
Unfugs, der in Welt 3 beheimatet ist, vollständig, denn schließlich wird
mathematischer Unfug genau dadurch erkannt, dass seine Eigenschaften eben nicht
intersubjektiv überprüfbar sind, womit er das Wohnrecht in der modifizierten
Welt 3 verliert. Dort finden sich nur die Dinge, die von uns unabhängige
Eigenschaften haben und uns interessieren, da sonst der sprachliche Ausdruck,
über dessen Eigenschaften man kritisch diskutieren kann, nicht entstanden wäre.
Und die Frage nach der Anwendbarkeit lässt sich dadurch beantworten, dass die
grundlegenden Objekte tatsächlich im Sinne Poppers Erfindungen des Menschen
sind, der sich aber dabei, da er nun einmal in der physischen Realität lebt,
seiner eigenen Erfahrungen bedienen muss, sodass die Welt der Erfahrungen
automatisch eine Rolle bei den mathematischen Grundkonstruktionen spielt. Dass
dann mathematische Erkenntnisse auf eben diese Erfahrungswelt angewendet werden
können, muss nicht mehr überraschen, denn eine ähnliche Situation liegt auch im
alltäglichen Gebrauch der Sprache vor, deren Begriffe in weiten Teilen von der
Realität abstrahiert sind. Mithilfe dieser Begriffe kann man gehaltvolle
Theorien über eben diese Realität formulieren, man kann aber auch
beispielsweise aus den Begriffen des Pferdes und des Nashorns den neuen Begriff
des Einhorns zu Wege bringen und versuchen, Aussagen über Einhörner zu treffen.
Ob solche Aussagen auf die physische Realität angewendet werden können, muss
dann überprüft werden, wobei man im Falle der Einhorntheorie üblicherweise
davon ausgeht, dass sie der Prüfung auf Anwendbarkeit nicht standhält. Und im
Falle mathematischer Aussagen ist es nicht anders. Da ihre Grundbegriffe
menschliche Erfindungen sind, die von der Realität abstrahiert wurden, haben
mathematische Aussagen eine Chance auf Anwendung, wenn auch keine Garantie; sie
liefern Strukturen, die bei sorgfältiger Prüfung eine Anwendung auf die
Realität erlauben könnten, aber wie im Falle des Einhorns ist es ohne Weiteres
möglich, dass eine formal korrekte mathematische Struktur niemals zu einer
Anwendung finden wird.
Die Druckfassung dieses
Artikels ist in der Zeitschrift Aufklärung & Kritik 2/2010, S.
42-66, erschienen
Literatur
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erreichbar unter
http://space.mit.edu/home/tegmark/multiverse.html
, 2003
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Anmerkungen
[1]
Lexikon (2001), S. 364
[2] ZEIT
(2005), S. 398
[3]
Albert (2001), S. 15
[4] Zum
Problem essentialistischer Definitionen vgl. auch Popper(1980), S.59ff
[5]
Kanitscheider (2009)
[6] ebd.,
S. 72
[7]
Lakatos (1990)
[8] Davis
und Hersh (1985), S. 365
[9]
Kanitscheider (2009), S. 73
[10]
Davis & Hersh (1985), S. 407
[11]
Kanitscheider (2009), S. 72
[12]
Popper (1994a), S. 289)
[13]
Niemann (2008), S. 73
[14]
Davis & Hersh (1985), S. 334
[15] vgl.
Russell (1988), S. 145
[16]
Russell (1972), S. 246
[17]
ebd., S. 233
[18]
Hilbert (1922)
[19]
Kanitscheider (2009), S. 72ff
[20]
ebd., S. 78
[21] vgl.
dazu Rießinger (2008)
[22]
Kanitscheider (2009), S. 78 sowie auch Tegmark (2003)
[23] ebd.
[24]
Tegmark (2003), S. 13
[25]
Popper (1994b), S. 96
[26]
ebd., S. 98
[27]
ebd., S. 97
[28] Popper
(1984), S. 161
[29]
Popper (1994b), S. 98
[30]
ebd., S.98f
[31] vgl.
dazu auch Davis & Hersh (1985), S. 422, wo ein ähnlicher Ansatz skizziert
wird
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