Erschienen in Ausgabe: No 57 (11/2010) | Letzte Änderung: 07.11.10 |
von Alexander Kissler
Aus vielen Zutaten ist die aktuelle Debatte über
Missbrauchsfälle an jesuitischen Schulen in den siebziger Jahren
zusammengesetzt: Eine dröhnende und späte Selbstanklage trifft auf gratismutige
Empörung, katholisches Lavieren und Kirchenhass befeuern sich wechselseitig.
Diese trübe Suppe kann keinem schmecken.
Dennoch serviert man sie uns täglich. Die, die es schon
immer wussten, prosten denen, die es schon immer besser wussten, zu: Mit der
Kirche im Allgemeinen und dieser römisch-katholischen im Besonderen sei einfach
kein Staat zu machen. Besser wäre es, sie verschwände ganz.
Der Eifer, mit dem der Hexentrunk befeuert wird, täuscht
über die Tiefendimension des Falles hinweg. Die Etiketten sind schnell zur
Stelle, weil sie argumentative Sollbruchstellen bemänteln. Das vermeintlich
Fraglose soll dem Fragen eine strikte Grenze ziehen. Nur sehr selten wird etwa
die Frage erörtert, ob es denn gerecht zugehe, wenn mit anklagendem Getöse eine
besondere Disposition katholischer Würdenträger zum sexuellen Missbrauch
Minderjähriger unterstellt wird.
Vor elf Jahren etwa, erinnerte jetzt der Berliner
Politik-Blog „Spreeblick“, war die säkulare und recht elitäre „Odenwaldschule“
Zentrum derselben quälenden, peinigenden Aufklärung. Im November 1999 wurde der
langjährige Leiter der eher linksliberal-multikulturellen Reformschule der
Pädophilie überführt. In den 1980er Jahren hatte er laut einem Betroffenen
männliche Schüler „in inflationärem Umfang sexuell missbraucht“.
Verständlich ist das gesteigerte Maß an Entrüstung, wenn die
Täter zuvor versprachen, ihr ganzes Leben Christus zu weihen. Derber kann man
das Versprechen nicht verhöhnen als durch Gewalt gegenüber jenen, die der
Nazarener in die Mitte stellte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so
werdet ihr nicht ins Himmelreich gelangen.“
Symptomatisch ist derlei Verbrechen aber nicht. Käme
irgendjemand auf die Idee, Männer keine Jungen mehr unterrichten zu lassen, um
diese vor jenen zu schützen? Ein solcher Generalverdacht wäre abwegig und
ehrabschneidend. Und ebenso abwegig sollte er auch dann sein, wenn er
geistliches Personal betrifft.
Die römisch-katholische Kirche sieht sich auf der
Anklagebank, weil man mit dem Zölibat das „missing link“ zwischen Pädophilie
und Profession meint gefunden zu haben. Davon abgesehen, dass auch andere
christliche Bekenntnisse unter derselben Geißel leiden: Der Zölibat ist im 21.
Jahrhundert das am deutlichsten sichtbare Zeichen, dem die Welt widerspricht;
schließlich bezweifelt er deren gesamte Logik.
Da in der Spätmoderne alles Welt werden soll, da alles
aufgehen soll im Ewiggleichen, im Durchschnitt und im Diesseitigen, gilt dem
Zölibat ausdauernde Ablehnung. Dass er im Kern ein Hoffnungszeichen ist für die
Welt, indem er das Unbedingte zur Bedingung macht einer ganz anderen
Existenzform, darf die Welt sich nicht eingestehen.
Der Zölibat hält inmitten all des Vorläufigen und Relativen
dem Absoluten die Tür offen. Die Welt aber will mehr vom Gleichen, nichts vom
Besonderen; will mehr von der Gegenwart, kaum etwas von der Zukunft und schon
gar nichts aus den Tiefen der Vergangenheit. Dort reicht ihr Regiment nicht
hin.
Der zölibatär lebende Priester kränkt, allein weil er ist, die Gegenwart
fundamental. Sie vergilt es ihm mit Generalverdacht, Sippenhaft,
Schuldsvermutung.
Ebenso kränkend mag man einen weiteren, darum verschwiegenen
Gedanken empfinden: Die Zeit, in der sich die nun in Rede stehenden Übergriffe
ereignet haben, war der Höhepunkt einer inneren Krise der Kirche. In dieser
nachkonziliaren Krise wiederum bildeten die Jesuiten die Speerspitze des Neuen.
Unter ihrem von 1965 bis 1981 amtierenden Generaloberen Pedro Arrupe, einem
Basken, wandelten sie sich von den Prätorianern des Papstes, ihm unüberbietbar
ergeben, zu „des heiligen Vaters ungehorsamen Söhnen“ – so ein Buchtitel von
1991.
Es waren Jesuiten, die den lockenden Seim des Marxismus und
der Befreiungstheologie in sich aufsogen und den „Arbeiterpriester“ salonfähig
machten; Jesuiten stemmten sich gegen die „Pillen-Enzyklika“ Pauls VI. und
gegen den Pflichtzölibat, und Jesuiten wurden auch von Johannes Paul II.
mehrfach zur (Kirchen-)Ordnung gerufen. Für jede liturgische oder theologische
Extravaganz findet sich noch heute zuverlässig ein Jesuit, der sie gutheißt.
Schon Paul VI. fragte 1966 die Generalkongregation der
Societas Jesu, ob er „noch“ auf deren besondere Treue bauen könne. Erstaunen
und Schmerz erfüllten ihn angesichts der „Übernahme weltlicher Lebensart“ durch
einige Jesuiten. Johannes Paul I. sah 1978 die Gefahr, dass jesuitische „Lehren
und Publikationen unter den Gläubigen Verwirrung und Desorientierung
anrichten“.
Johannes Paul II. dekretierte 1982 vor den Provinzoberen der
Jesuiten, die Aufgabe eines Priesters sei nicht „die eines Arztes, eines
Sozialarbeiters, Politikers oder Gewerkschafters“. Die Glaubenslehre dürfe
nicht von „persönlichen Kriterien oder sozio-psychologischen Theorien“ bestimmt
werden. Eine Ahnung dieser Spannung war noch greifbar, als Benedikt XVI. im
Januar 2008 an den scheidenden Generaloberen schrieb. Die Gesellschaft möge
„das wahre Charisma des Gründers wieder klar und deutlich bejahen“.
Wir lernen: Reformeifer und der Hang zur
Selbstsäkularisierung schützen nicht vor Abgründen. Die moralische Lauterkeit
in der Kirche wächst keineswegs automatisch, wenn die Kirche sich weltlicher
gibt. Das Rüstzeug wider die Versuchung wird nicht mit der Romkritik frei Haus
geliefert. Man kann sich moralistisch über Tradition und Konvention erheben und
dennoch nicht die bessere Moral gepachtet haben. Der Umkehrschluss gilt
natürlich auch – damit aber wäre der weiche Boden des allgemein Fraglosen
wieder erreicht.
www.alexander-kissler.de
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