Erschienen in Ausgabe: No 57 (11/2010) | Letzte Änderung: 25.10.10 |
Bernd-Olaf Küppers, Wissen statt Moral. Fünf Thesen zur Wissensgesellschaft, Köln: Fackelträger-Verlag 2010, 192 S.
von Robert Lembke
„Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel
für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ Dieser Satz aus Marxens Einleitung zur Kritik der Hegelschen
Rechtphilosophie paßt wie kaum ein anderer auf das vorliegende Buch. Der
Autor, bisher nicht gerade durch publizistische Breitenwirkung aufgefallen,
setzt mit diesem Pamphlet zum gesellschaftlichen Rundumschlag an. Das bisweilen
selbstbewußt, zumeist aber polemisch Vorgetragene wirkt durch sein Ansinnen,
sich zu beinahe allen etablierten Denkstilen und Weltanschauungen in
Gegnerschaft zu setzen, als anregende intellektuelle Provokation: Beinahe auf
jeder Seite verspürt man als Leser das Bedürfnis, den Ausführungen und
Behauptungen des Autors zu widersprechen. Bezeichnend ist dabei Küppers’ eigentümliches
stilistisches Schwanken zwischen wissenschaftlicher Bescheidenheit auf der
einen und technologisch imprägnierter Omnipotenzanmaßung auf der anderen Seite.
Das Ganze beginnt harmlos im ersten Kapitel mit einem
Defilée der weltanschaulichen Gegner, bei dem man sich 250 Jahre in die
Vergangenheit zurückversetzt glaubt: Es ist, als ob man inmitten der Zeit der
Aufklärung steht, die alten Debatten wieder erlebt und die damaligen Argumente noch
einmal vernimmt. Küppers betreibt Glaubens- und Kirchenkritik wie ehedem, keilt
gegen Kreationismus und Esoterikmarkt und haut – allenfalls das ist neu – auf
die angeblich verblendete „geistigwissenschaftlich-literarische Intelligenz“
ein. Man wird das Gefühl nicht los, hier habe einer die angebliche „Rückkehr
der Religion“, die doch wenig mehr als eine feuilletonistische Mode war,
aufgekommen durch den militanten Islamismus – man vergleiche hierzu Sloterdijks
opus magnum Du mußt dein Leben ändern
–, ernst genommen und in den falschen Hals gekriegt.
Doch darf man sich durch den eher unbeholfenen Beginn des
Werks nicht täuschen lassen – Küppers denkt radikaler, er ist nicht nur, wie er
sich unumwunden selbst bezeichnet, Positivist und Szientist, sondern auch Transhumanist. Seine zentrale Forderung
lautet, den Menschen und seine Gesellschaft von der Herrschaft der „Moral“ zu
befreien und ihn vollends dem fortschreitenden Wissen zu überantworten. Dies
soll ihn schließlich in die Lage versetzen – und der erste Schritt in dieser
Entwicklung sei bereits getan – die Evolution planmäßig steuern zu können und
so über sich selbst hinauszuwachsen. Daß dieses Denken letztlich einem vorwärtsgewandten,
praktischen Nihilismus gleicht, wird aus dem Folgendem ersichtlich werden.
Unter den Begriff „Moral“ fallen für Küppers sämtliche
vorgängigen Orientierungen, die menschliches Handeln leiten und strukturieren.
Das begreift vor allem gewisse Grundwerte, auf denen die gesellschaftliche
Organisation aufruht, mit ein. Die abendländische Philosophie leide seit Plato
an dem Grundfehler, das Wahre mit dem Guten gleichzusetzen und sich damit den
Zugang zur Welt selbst zu vernebeln. In seiner im zweiten Kapitel entfalteten
Erkenntnistheorie, die zu den sympathischsten Passagen des Buches gehört,
betont Küppers zunächst die Tragweite des naturalistischen Fehlschlusses
(Moore), der zur Folge hat, daß es keinen legitimierbaren Übergang vom Sein zum
Sollen gibt. D.h., daß man aus einer zutreffenden, richtigen Erkenntnis der
Natur und des Menschen niemals einen Wertmaßstab für das menschliche Handeln
gewinnt. Mit Auguste Comte an seiner Seite wiederholt Küppers anschließend die
Dreistadientheorie (Religion, Metaphysik, Positivismus) und sieht unsere Zeit noch
immer im metaphysischen Stadium befangen. Jede normative Einzeichnung in
gesellschaftliche Entscheidungsprozesse sei abzulehnen; alle Bremskräfte des
wissenschaftlichen Fortschritts sollen aufgehoben werden, um den Weg zum ‚neuen
Menschen‘ zu beschleunigen.
Nun könnte man sagen: Küppers hat einfach den Sinn der
Moderne – die Trennung der Wertsphären des Wahren und Guten und Schönen – nicht
verstanden. Dies kommt insbesondere in seiner geradezu grotesk flachen Kritik
an Habermas zum Ausdruck.[1]
Wird doch dessen Gesellschaftstheorie tatsächlich als „säkularisierte Form
religiösen Glaubens“ bezeichnet! (In Wahrheit liegt das einzig ‚Metaphysische‘
und Transzendente bei Habermas, wenn man es denn so nennen will, in der stets
erneuten Uneinholbarkeit des Prozesses sprachlicher Verständigung.) Habermas steht
bekanntlich auf dem Boden Max Webers, wenn er eine grundlegende Differenzierung
der Resultate divergierender Weltzugänge in objektive Welt, subjektive Welt und
soziale Welt vornimmt. Ohne daß ich hier Habermas verteidigen will, ist völlig
evident, dass sich aus dessen Sicht Küppers einfach der völligen Ignoranz der
beiden übrigen Wirklichkeitsdimensionen und demzufolge des Übergriffs des (naturwissenschaftlich
vermittelten) Objektivismus auf die beiden anderen Sphären schuldig macht.
Dies ist auch der Grund, warum Küppers überhaupt kein
Verständnis für die demokratisch-pluralistische Öffentlichkeit hat. Deren
marktförmige und medial inszenierte Gleichstellung disparatester Sprachspiele
und Lebensformen – Stichwort Postmoderne – sieht Küppers als Hauptursache für
den historischen Stillstand des Menschen an. Eine Thematisierung der kulturellen
und sozialen Freiheit, der beiden Hauptstützen des Liberalismus, findet
überhaupt nicht statt. In einer paradoxen Verkehrung philosophischer
Üblichkeiten wird so die Natur zum neuen „Reich der Freiheit“ erklärt, während die
Kultur als erstarrte Formation begriffen wird, in der die Zwänge der Macht und
des Geldes herrschen.[2]
Lehrreich sind auch die Autoritäten, die Küppers aufruft
sowie die Allianzen, die er mit ihnen eingehen will: Mit dem humanistischen
Bildungsideal verbindet ihn das ständige Streben nach Wissen und die Vision
eines idealen Menschentums. Mit Sartre bekräftigt er seine Forderung nach
„völliger Freiheit“ für den an sich wesenlosen Menschen, der das Recht und die
Pflicht habe, sich zu seinem eigenen Produkt zu machen. Und immer wieder fällt
auch der Name Nietzsche, dessen Verabschiedung traditioneller Werte und
ideologischer Befangenheiten den Boden bereite für eine Überwindung der conditio humana. Offenbar gehört auch
Küppers zu jener angelsächsischen Tradition, die Nietzsche als konsequenten
Naturalisten sieht, der eine Evolution des Menschen angestrebt habe, der – auch
wenn davon nicht die Rede ist – notfalls mit technischen Mitteln aufgeholfen
werden muß.
Sieht man sich noch genauer an, wie Küppers den Weg zu
dieser neuen Menschheit beschreibt, so taucht ein weiterer philosophischer
Radikalist vor dem geistigen Auge auf: Wie seinerzeit Johann Gottlieb Fichte,
der von der Natur nur als „Material der Pflicht“ sprach, begreift Küppers sie als
dynamisches System, das dem Menschen in dem Maße dienstbar sein wird, wie er es
versteht, in seine Prozesse einzugreifen und es zu steuern. Jede ‚grüne‘
Behauptung eines Eigenwertes der Natur als Schöpfung wird vehement abgelehnt
und als Hinterwäldertum abgekanzelt. Küppers unterscheidet dabei auch nicht
zwischen einer in der Natur selbst vorgehenden, vergleichsweise langsamen
Veränderung und einer beschleunigten Alteration, die erst durch den Menschen
aufkam – beide gelten ihm in gleicher Weise als Ausdruck der Dynamik der natura
naturans, deren fundamentale „Randbedingungen“ (Luhmann) man erforschen müsse.
Wo kein Schöpfer mehr vorhanden ist, so könnte man Küppers zusammenfassen,
bleibe dem Menschen gar nichts anderes übrig, als sich zum eigenmächtigen Demiurgen
aufzuschwingen.
Was ist nun von Küppers’ Vision einer „Wissensgesellschaft“
zu halten, die allen normativen Ballast abwirft und ihre gesamte Energie in den
wissenschaftlich-technischen Fortschritt steckt?[3]
Haben wir es hier nicht mit einer besonders gewitzten Form des Nihilismus zu
tun, der sich mit der Aura der Wissenschaftlichkeit nur notdürftig verhüllt?
Der Schlüssel zum Verständnis des Buches liegt in Küppers’ Versuch der
Überwindung des Problems einer generellen normativen Orientierung. Denn ohne
eine solche kommt offenbar auch die zukünftige Wissensgesellschaft nicht aus –
wie also den Übergang vom Sein zum Sollen anders meistern als bisher?
Mit Luhmann geht Küppers davon aus, dass alle Wirklichkeit,
wissenschaftlich betrachtet, systemisch-dynamisch ist. Das bedeutet, daß all
unsere Begriffe und Konzepte nur starre, vorübergehende Festlegungen sind, wie
Küppers am Beispiel des graduellen Übergangs vom Belebten zum Unbelebten zeigen
will: Viren z.B. sind, je nach Zustand und Betrachtungsweise, entweder als
belebt oder unbelebt anzusehen, und dies gelte mutatis mutandis auch für alle
anderen Phänomene. Wie soll man dann aber angesichts dieses Kontinuums des
Seins feste Ankerpunkte gewinnen? Hier kommt nun die systemische Beschaffenheit
der Wirklichkeit ins Spiel. Diese erlaubt, stets eine Differenz zwischen System
und Umwelt festzustellen (Luhmann) sowie darüber hinaus Randbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das System nicht
kollabiert. Die Attraktivität des Systemsbegriffs ist ferner die, daß er auf
‚natürliche‘ und ‚gesellschaftliche‘ Probleme gleichermaßen anwendbar ist und
zu der Hoffnung Anlaß gibt, die Trennung dieser beiden Wissenskulturen (der
„sciences“ und „humanities“) dereinst zu überwinden. Mit der fortschreitenden
Erforschung des Menschen und der gleichzeitigen Veränderung seiner natürlichen
Ausstattung soll die – freilich erst zu erwerbende – Kenntnis dieser
Randbedingungen schließlich dazu führen, Normen rein funktionaler Natur zu
etablieren, die den zukünftigen Menschen und seine Umwelt einem systemischen
Optimum annähern.
Wenn die Rede von Technokratie
jemals berechtigt war, so scheint sie hier mehr als angebracht zu sein. Küppers
Vision einer losgelösten „Wissenstechnologie“, die ohne Gängelung durch
irgendwelche Werte forsch in eine unbekannte technologisch-evolutionäre Zukunft
schreiten will, lebt von einem grenzenlosen Optimismus, der an Wahnsinn grenzt.
Küppers Verachtung des Bürgertums scheint grenzenlos zu sein; wie sonst ist es
zu erklären, daß er dessen zentrale Werte – Wohlstand, Leben und Sicherheit –
nicht benennen kann, stattdessen dessen Realität altertümlich-abstrakt als
„christliche Welt“ kennzeichnet?
Wir haben es hier, und darin besteht seine Originalität, mit
einer Form des Nihilismus zu tun, die sich selbst nicht kennt, weil sie, ohne
es zu merken, einerseits in bürgerlich-individualistischen Denkformen befangen
ist, ihr aber andererseits die theoretischen Mittel fehlen, um diesen zugegebermaßen
beengenden Horizont zu überschreiten. Weil ihm das grundsätzliche Verständnis
von Politik und Gesellschaft abgeht – von den „Geisteswissenschaften“ ganz zu
schweigen –, muß Küppers auf die Idee verfallen, alles Heil von einer Reformierung
der menschlichen und nichtmenschlichen Natur zu erwarten, die irgendwann in
einer radikal technokratischen Organisation allen Lebens gipfeln soll. Küppers
sieht nicht im Mindesten die Gefahren dieses Vorhabens, ja er scheint sie nicht
einmal zu ahnen. Sein Verweis auf die „normative Kraft des Faktischen“, die ein
entfesselter wissenschaftlicher-technologischer Innovationsprozeß entfalten werde,
verrät endgültig jenes verzweifelte, darum aber auch verantwortungslose
Sichlosreißen vom Bestehenden, dessen ausgemachte Verworfenheit Küppers
garantiert, daß jene unbekannte Zukunft, auf die hin es transzendiert werden soll,
nur besser sein kann als das Gewesene.
[1] Habermas hatte 2001 ein Buch mit dem
Titel Auf dem Weg zu einer liberalen
Eugenik veröffentlicht und sich darin wenig wohlwollend über die
Transhumanisten geäußert. Möglicherweise liegt darin ein Grund für Küppers’
oberflächliche Polemik.
[2] Tatsächlich zeigt sich Küppers da am
stärksten, wo er, den Wortführern einer Dialektik der Aufklärung wie Adorno und
Horkheimer oder Postman folgend, die Unabhängigkeit von Rationalität bedroht
sieht, etwa durch die modernen Medien, die ein „Urteilen über Urteile“
erfordern, ohne daß der Einzelne noch in der Lage wäre, die Sachverhalte selbst
zu überprüfen.
[3] Im abschließenden Kapitel wird dazu ein
umfangreiches Programm für Forschung und Wissenschaftsorganisation entwickelt,
auf das ich hier (mangels Sachkenntnis) nicht im Einzelnen eingehe.
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