Erschienen in Ausgabe: No 57 (11/2010) | Letzte Änderung: 25.10.10 |
Zur Eröffnung am 14. Oktober 2010
von Andreas Urs Sommer
Friedrich Nietzsche ist der
Philosoph des Wagemuts, der Denker des Risikos, der jedes Netz und jeden doppelten
Boden verschmäht hat. Mit dem Bau, der jetzt in Naumburg eröffnet worden ist,
haben alle Beteiligten – die Stadt Naumburg, das Land Sachsen-Anhalt, die in
der Friedrich-Nietzsche-Stiftung institutionalisierte wissenschaftliche
Forschung und nicht zuletzt die Architektin mit ihrem Team – sich selbst in
diese Tradition des Wagemuts und Risikos gestellt: Es zeugt von Wagemut, das
kurzfristige Nutzenkalkül auszublenden und dem nach Neuen suchenden Geist nicht
nur ein Denkmal zu setzen, sondern vielmehr eine Wohnstätte, vielleicht sogar
eine Heimat zu geben. Naumburg kann stolz darauf sein, mit dem
Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht nur den ersten Neubau eines öffentlichen
Gebäudes seit der Wende in Angriff genommen zu haben, sondern dieses Gebäude nicht
etwa der Verwaltung oder dem Sport, sondern dem Geist gewidmet zu haben. Für
eine solche Entscheidung braucht es Wagemut und Risikofreude, die in
Deutschland trotz der Sonntagsreden von Politikern und Unternehmensvorständen
Mangelware sind. Wagemut und Risikofreude werden hier im
Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht in ökonomische, sondern in intellektuelle
Profitmaximierung investiert.
Das
Nietzsche-Dokumentationszentrum wird, sobald in ein paar Monaten die immense
Nietzscheana-Sammlung von Richard Frank Krummel darin ihren Platz gefunden
haben wird, eine Schatzkammer der Kulturgeschichte sein. Dieser Schatzkammer
ist auch der grosse, internationale Kongress gewidmet, der das
Nietzsche-Dokumentationszentrum eröffnet und der eine gemeinsame Veranstaltung
der Nietzsche-Gesellschaft und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung ist. Dieser
Kongress unternimmt erste Erkundungsgänge in diesen Schätzen versuchen und
damit die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte in all ihren Facetten beleuchten.
Nietzsche strahlte und strahlt in unterschiedlichste Sphären aus: in die
Soziologie ebenso wie in die Literatur, die bildenden Künste und die Musik, in
die Philosophie ebenso wie in die Politik, in die Ökonomie ebenso wie in die
Ökologie. Daher ist die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte zugleich ein
wesentlicher Teil der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Man wird ohne
Übertreibung sagen können, dass das Nietzsche-Dokumentationszentrum die
Kulturgeschichte der Moderne in nuce
präsentieren wird und dadurch gute Chancen hat, zu einem Leuchtturm in der
Kulturlandschaft Sachsen-Anhalts zu werden.
Jedoch soll das
Nietzsche-Dokumentationszentrum nicht nur ein Archiv der Vergangenheit sein. Es
soll auch eine Pflanzstätte, ein Laboratorium der Zukunft werden. In ihm soll
neu, soll anders gedacht werden – es soll Freiräume des Denkens erschliessen
und die Menschen, namentlich auch die Menschen in Naumburg, zur aktiven
Gestaltung dieser Freiräume anhalten. Friedrich Nietzsche war ein Philosoph des
Andersseins, des Andersdenkens. Das Nietzsche-Dokumentationszentrum soll
deswegen ein Ort werden, wo entgegen moderner Denkzwänge die Freiheit des
Andersdenkens und Andersseins kultiviert wird. Die kleine Stadt Naumburg hat
damit die geistesgeschichtlich vielleicht einmalige Chance, Deutschland ein kleines
geistiges Zentrum zu schenken. Gemeinsam sollten wir dafür sorgen, dass dem
Wagemut, das die Erbauer und künftigen Betreiber des
Nietzsche-Dokumentationszentrums bewiesen haben, unter ökonomischen und
intellektuellen Zwängen nicht der Atem ausgeht. Wir sollten das
Nietzsche-Dokumentationszentrum als eine gemeinsame Aufgabe von Stadt, Land und
Stiftung verstehen – eine grosse Aufgabe, die jedoch mit viel Freude und
Erkenntnisgewinn reichlich entlohnen wird. Der Kongress „Einige werden posthum
geboren“ wird uns aller Voraussicht nach weit mehr als einen blossen
Vorgeschmack dieser Freude und dieses Erkenntnisgewinns geben. Dass wir selbst
postum geboren worden sind, ist damit ein Glücksfall. Hoffen wir, dass das
Nietzsche-Dokumentationszentrum für die geistige Welt insgesamt zum Glücksfall
wird.
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