Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 24.11.10 |
von Dietrich Böhler
Die Berliner Diskurspragmatik fiel nicht vom Himmel. Nicht
allein, daß sie auf meinen Ansatz einer Philosophie und Theorie der Rechts- und
Sozialwissenschaften als kritische Reflexion bzw. als
transzendentalphilosophische Theorie des Sozialen (1970 und später) zurückgeht,[1] und
daß sie insgesamt die von Karl-Otto Apel initiierte Transzendentalpragmatik
reflexiv dialogisch weiterführt. Nein, beides steht wiederum in engstem
Zusammenhang mit jener Revolution des Denkens, die wir die sprachpragmatische
oder einfach pragmatische Wende, verkürzend auch den „linguistic turn“
nennen. Ich meine die von Wilhelm von Humboldt sprachphilosophisch angestoßene,
vom amerikanischen Pragmatisten Charles Sanders Peirce zumal
wissenschaftstheoretisch und wahrheitstheoretisch vertretene Revolution der
Denkart, die dann sprachanalytisch vom späten Wittgenstein und
daseinsphänomenologisch vom frühen Heidegger repräsentiert und schließlich
einerseits von Karl-Otto Apel, andererseits von Jürgen Habermas, von der
Erlanger und Konstanzer Richtung, aber auch von den französischen
Postmodernisten und von dem Neopragmatismus Richard Rortys weitergetrieben
worden ist. Es ist dies die Wende weg von dem neuzeitlichen Paradigma
als Ansatz bei einem vermeintlich sinnautarken und evidenzmächtigen
Erkenntnissubjekt (von Descartes bis Edmund Husserl) und bei der
Erkenntniskritik als Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis, speziell der objektiven Erfahrung (Kant) – hin zu der
Einsicht, daß das Sprechen- und Handelnkönnen allem Erkennen vorausgeht;
und zwar als eine kommunikative Basiskompetenz, so daß jede und jeder immer
schon in die Sinngemeinschaft und Regelgemeinschaft einer Sprache
hineingestellt ist, ehe sie oder er auch nur einen Gedanken hat zuwege bringen
können: ›Du bist schon in Diskurszusammenhängen, ehe du einen Gedanken konkret
denken kannst.‹
Mit Apel können wir nunmehr von einem dritten Paradigma
der Philosophie sprechen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß der Ursprung der
Philosophie primär eine Seinsschau, eine spekulative, metaphysische Ontologie
gewesen ist: das Seinsparadigma der Antike und Scholastik, von dem sich
dann das methodisch kritische Subjektparadigma absetzt. So weit so gut. Aber wohin führen die sprachpragmatische Wende und
damit das dritte Paradigma?
In den entscheidenden Fragen der logischen Geltung, der
Begründung und der Methodenlehre, vom Wahrheitsbegriff bis zum Moral- und
Verantwortungsbegriff, geht die pragmatische Wende diametral auseinander.
Gestützt auf Wittgenstein und Heidegger, sieht der Mainstream, vom moderaten
Habermas über die (sprach-)analytischen Philosophen bis zum radikalen Rorty, die
Zunft der Philosophie einzig und allein im Beschreiben und Rekonstruieren von
Formen der Rede, der Handlung und deren geschichtlichen Kontexten, der Kultur.
Denn Reflexion als Denken des Denkens, mithin das Zentrum
und Proprium des neuzeitlichen Geistes seit Descartes, gilt im dritten
Paradigma zumeist als abzuwerfender metaphysischer Ballast, eine Erblast der
Subjekt- oder Bewußtseinsphilosophie, mit der sich nichts mehr anfangen lasse.
Damit fällt auch das Begründungsziel der kritischen Philosophie Kants, der Mitte
der Subjektphilosophie, in sich zusammen. Es war das Ziel, eine universale
Vernunft mit erweisbaren, gültigen Erkenntnismaßstäben und verbindlichen
Moralkriterien sowie -normen durch Rückgang auf das Vernunftsubjekt zu
begründen, durch eine transzendentale Reflexion in der klassischen Weise, wie
sie dann von Fichte bis zu Husserl entfaltet worden ist.
Gegen die Verabschiedung der Philosophie als Reflexion
machen die Transzendentalpragmatiker und Diskurspragmatiker, fast vereinzelte
Schwimmer gegen den Strom, nicht nur politisch geltend: ›Ihr landet in einem
Kulturrelativismus, der gerade das nicht ermöglicht, was in der globalisierten
Gefahrenzivilisation zuallererst denknötig und orientierungsnötig ist,
universal verbindliche Verantwortungskriterien und -pflichten!‹ Vor allem
argumentieren sie geltungslogisch, und zwar sinnkritisch: ›Ihr vergebt nicht
allein die größte Chance der pragmatischen Wende, nämlich die Errungenschaft
der Subjektphilosophie, die kritische Reflexion, jetzt sprachpragmatisch neu
zu begründen, und zwar als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des
Verstehens und des Argumentierens; nein, damit vergeßt ihr auch euch selbst als
Denkende, die ihr für eure relativistische(n) Position(en) doch selber
Ansprüche auf universale Geltungsfähigkeit erhebt. Also seid ihr
hinsichtlich eurer Position(en) keine Partner, die sich im Diskurs der
Argumente verantworten könnten.‹ In diesem Zusammenhang steht seit 1984 die
Leitidee meiner Lehre und Forschung:[2]
Denkend sind wir im Prinzip nie allein, weil das
erkenntnisorientierte Etwas-Denken ein kommunikatives Verhältnis darstellt. Die
Anderen sind immer dabei. Sie sind geschichtlich präsent, weil sie in den
Sprachen und Traditionen, auf deren Boden wir denken und handeln, schon mitsprechen.
Überdies sind sie auch logisch einbezogen. Denn zu jeder Rede und Handlung
müssen wir, um sie auch nur als diese unsere Rede/Handlung verstehen zu können,
mit Geltungsansprüchen Stellung nehmen können – insofern gegenüber (möglichen)
Anderen. Keine Handlung ohne impliziten Begleitdiskurs![3] Wie
kommt es dazu?
Keimzelle des Begleitdiskurses ist etwas, das wir alle
Stunde im Munde führen und im Ohr haben, und zwar auch, wenn es, wie zumeist,
nicht einmal laut wird. Es ist ein in allem Etwas-Denken und Kommunizieren a
priori mitverstandenes pragmatisches Element unserer Grammatik. Ich meine jene
embryonale Stellungnahme, die der performativ-propositionalen „Doppelstruktur“
(Habermas) einer formal vollständigen Äußerung innewohnt: der performative Akt
– also z.B. „hiermit behaupte ich“, „ich frage (dich)“ oder „ich versichere (dir)“
etc. Darin sind die universalen Geltungsansprüche auf Verständlichkeit
und Wahrhaftigkeit, auf Wahrheit und Richtigkeit eingeschlossen, welche sich
nicht allein auf das Gesagte, den propositionalen Gehalt, sondern auch auf die
Kommunikationsbereitschaft des Sprechers/Akteurs beziehen. Letzteres wird
zumeist übersehen.
Dadurch, daß wir uns allein mit (der Form nach)
doppelstrukturierten Äußerungen auf eine Handlung beziehen können, befinden wir
uns immer schon in dem Sinnzusammenhang einer Handlung mit implizitem
Begleitdiskurs.
Durch die Geltungsansprüche im Begleitdiskurs erkennen wir
die Anderen stillschweigend als solche an, die das Recht haben, von uns die
Einlösung der Geltungsansprüche zu verlangen. Natürlich sind wir frei, den
Begleitdiskurs entweder abzubrechen, indem wir uns z.B. auf eine Rolle, einen
Job, ein Amt zurückziehen, worin moralische Erörterungen und Engagement nicht
vorgesehen seien,[4] oder den Diskurs auf strategische
Vorteilsüberlegungen zu verkürzen. Nur können wir solchermaßen –
„diskursparasitär“ (B. Herrmann) – weder etwas geltend machen, was zählen
würde, noch wird man uns als Argumentationspartner ernstnehmen können. Unsere
Glaubwürdigkeit ist dahin.
Vergessen wir uns aber nicht selbst, sondern treten als
Akteure mit Geltungsansprüchen in den Begleitdiskurs ein, so erkennen wir die
Anderen bewußt als mögliche Argumentationspartner an und sehen uns ihnen
gegenüber in der Pflicht. Dann wissen wir, daß wir uns bereits in einem moralisch
geladenen Verhältnis befinden, so als hätten wir den Anderen ausdrücklich
z.B. versprochen, sie als gleichberechtigte Argumentationspartner ernstzunehmen.
„Moralisch“? Ja. Das Diskursverhältnis ist in zweierlei
Hinsicht moralisch. Erstens sind andere mit ihren Erwartungen ebenso im Spiel
wie wir mit unseren Ansprüchen, so daß hier Recht und Unrecht, Gutes und Böses
geschehen kann. Zweitens gilt als „moralisch“ eine solche Verhaltensweise, ein
solches Verhältnis usw., kurzum etwas, das den „Grund einer Verbindlichkeit“
bei sich führt, wie Kant (gegenüber der Aristoteles-Tradition) gezeigt hat.[5] Moralisch
ist das, wozu wir einsehbar verpflichtet sind – eben als Denkende und bereits
im Medium des Denkens. Moralität beginnt im Denken und erkennt sich durch
Denken.
Dies ist ein Auszug aus der
Abschiedsvorlesung, den ausführlichen Text finden Sie unter: http://www.hans-jonas-zentrum.de/down/2010/Abschied_13_10_10.pdf
[1] D. Böhler, „Rechtstheorie
als kritische Reflexion“, in: G. Jahr u. W. Maihofer (Hg.), Rechtstheorie.
Beiträge zur Grundlagendiskussion, Frankfurt a.M. 1971, S. 62-120.
[2] D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der
Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:Neubegründung der
praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a.M. 1985.
[3] D. Böhler u. M. Werner, „Alltagsweltliche Praxis und
Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften“, in: F. Jaeger u. J. Straub
(Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. II, Stuttgart u. Weimar
2004, S. 72 f.
[4] Den bornierten Rückzug auf
die faktische Rolle, die Umgehung des Sich-Verantwortens im Diskurs, erleben
wir heute dramatisch an der Basis und der Spitze der Geldgesellschaft: vom
Standesethos der Aktienanalysten über Wallstreet bis zu Josef Ackermann.
Gestern war diese Vermeidung der moralischen Verantwortung in der Gefolgschaft
des Führersystems gang und gäbe, vom NS-Richter bis zu Adolf Eichmann.
Vgl. meine Vorlesungen zur Praktischen Philosophie/Ethik seit den 90er Jahren
und meine Arbeiten „Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der
dialogbezogenen Selbst- und Mit-Verantwortung“, in: K.-O. Apel u. H. Burckhart
(Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik,
Würzburg 2001 (zit.: Prinzip Mitverantwortung), bes. S. 41-45, sowie
„Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: Th. Bausch, D. Böhler
u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD Bd. 3,
Münster 2000, bes. S. 50 ff.
[5] I. Kant, Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Akademie-Ausgabe, Bd. IV; Neuausgabe
der
Philos. Bibl. Meiner, Hamburg 1999.
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