Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Christoph Butterwegge
Am 9. Februar 2010 verkündete
das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Aufsehen erregendes Urteil zu
den Regelsätzen beim Arbeitslosengeld II und beim Sozialgeld (Az. 1 BvL 1/09, 1
BvL 3/09 und 1 BvL 4/09), die es für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar
erklärte. Zwar hielten die Richter/innen des Ersten Senats den
Hartz-IV-Regelsatz nicht für „evident unzureichend“, sie verpflichteten die
Bundesregierung jedoch, vor dem 1. Januar 2011 eine Neuberechnung/-regelung zu
treffen und bis dahin nötigenfalls einmalige Beihilfen zu gewähren, um
Hilfebedürftigen durch Deckung ihrer Sonderbedarfe eine menschenwürdige
Existenz zu sichern. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann als
Meilenstein im Kampf gegen Hartz IV gelten, zumal die Gewährleistung eines
„menschenwürdigen Existenzminimums“ als Aufgabe und Auftrag des Sozialstaates
aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet wurde. Sie bestätigte
höchstrichterlich, dass die Regelsätze nach vorgegebenen politischen Kriterien
und damit willkürlich festgelegt worden waren, ohne die Interessen der
Hilfebedürftigen an einer menschenwürdigen Existenz ausreichend zu
berücksichtigen.
Beseitigt werden musste nach
dem Urteil auch die soziale Ungerechtigkeit, dass Kinder je nach Alter mit einem
bestimmten Prozentsatz des Erwachsenenregelsatzes abgefunden wurden. Denn das Gericht
erkannte im Unterschied zur Bundesregierung an, dass Kinder keine Erwachsenen
„im Miniformat“ sind, sondern eigene, vor allem Teilhabe- und Bildungsbedarfe
haben. Kinder wachsen eben noch, weshalb sie zum Teil mehr als ihre Eltern
essen und häufiger neue Kleidung sowie größere Schuhe brauchen.
Unberücksichtigt geblieben waren auch die nach Ansicht des Verfassungsgerichts notwendigen
Aufwendungen für Schulbücher, -hefte, Taschenrechner usw.
Die neue Arbeits- und
Sozialministerin Ursula von der Leyen brachte unmittelbar nach der
Urteilsverkündung, bei der sie persönlich anwesend war, statt
Regelsatzerhöhungen die Einführung von Sach- bzw. Dienst- statt der bisher
üblichen Geldleistungen für Kinder ins Gespräch. Gestützt wurde dadurch die Klischeevorstellung,
eine Erhöhung des Regelsatzes komme bei vielen Kindern aus sog. Hartz-IV-Familien
gar nicht an, weil die Eltern das zusätzliche Geld lieber zur Befriedigung ihrer
eigenen Konsumbedürfnisse ausgäben. Zwar mag es tatsächlich den einen oder
anderen Vater geben, der sich lieber den mittlerweile beinahe schon sprichwörtlichen
Flachbildschirm kauft, als das zusätzliche Geld seinen Kindern zugute kommen zu
lassen. Die meisten Eltern im Hartz-IV-Bezug bemühen sich aber redlich, ihre
Kinder gar nicht spüren zu lassen, dass die Familie arm ist. Mit den seltenen
Ausnahmen „vergnügungssüchtiger“ Familienväter zu begründen, dass keine
Erhöhung der Regelsätze stattfinden soll, womit alle übrigen Eltern und Kinder
völlig schuldlos benachteiligt würden, wäre perfide. Dass auch Unternehmen
staatliche Subventionen zweckentfremden, hat nie die Forderung nach sich
gezogen, ihnen kein Geld mehr zu zahlen oder bloß noch Gutscheine
auszuhändigen.
Statt mit noch mehr Bürokratie
und teuren Gutscheinen für Nachhilfestunden vom Scheitern bedrohter
Schüler/innen aus Hartz-IV-Familien womöglich privaten, gewinnorientierten
Anbietern ein weiteres lukratives Geschäftsfeld zu eröffnen, sollte man die
soziale bzw. Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur für Kinder ausbauen, also
durch höhere Aufwendungen für Personal und Sachmittel in den öffentlichen
Schulen sämtlichen jungen Menschen bessere Förderungsmöglichkeiten verschaffen.
In den skandinavischen Gemeinschaftsschulen, die Kinder meist bis zur 10.
Klasse gemeinsam unterrichten, arbeiten nicht bloß mehr Lehrer/innen als
hierzulande, sondern auch mehr Sozialarbeiter/innen und Psycholog(inn)en. Gerade
für sozial benachteiligte Kinder wäre es wichtig, dass sie in Ganztagsschulen
ein warmes Mittagessen, Förderunterricht und kulturelle Angebote erhalten. Darüber
hinaus brauchen die Familien im Hartz-IV-Bezug allerdings auch mehr finanzielle
Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn was man bei uns zum Leben benötigt,
bekommt man fast nur gegen Bares.
Durch die „Rettungspakete“ für
das hochverschuldete Griechenland und den „Schutzschirm“ für den von Spekulanten
geschwächten Euro wuchs der Druck, die öffentlichen Haushalte mit
Brachialmethoden zu konsolidieren und vor allem die vermeintlich
„überbordenden“ Sozialausgaben erheblich zu reduzieren. Zu fragen bleibt jedoch,
warum sich die Bundesregierung mit einer Anpassung der Transferleistungen an
die gestiegenen Lebenshaltungskosten immer ausgesprochen schwer getan hat. Die
etablierten Parteien halten seit jeher das „Lohnabstandsgebot“ hoch und
interpretieren es so, dass die Sozialtransfers gerade für Familien niedrig
bleiben müssen, damit Beschäftigte mit mehreren Kindern ein höheres Einkommen als
Transferleistungsempfänger/innen haben. Umgekehrt müssten jedoch die Löhne
steigen, damit die Sozialleistungen nicht sinken. Die einzig richtige
Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil wäre deshalb ein allgemeiner gesetzlicher
Mindestlohn, will man dem sog. Lohnabstandsgebot, das aus einer Zeit ohne
breiten Niedriglohnsektor mit Hungerlöhnen stammt, Genüge tun. Denn bloß wenn
das Lohn- und Gehaltsniveau stabilisiert wird, macht ein solches Postulat
überhaupt Sinn, ohne dass die Menschenwürde der Sozialleistungsbezieher/innen
auf der Strecke bleibt.
Auch wenn das
Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen rein formaljuristisch argumentiert und
vor allem Methodenkritik geäußert hat,
statt die sozialpolitische Dauerbaustelle Hartz IV substanziell in Frage zu
stellen, was man aus Gerechtigkeitsgründen und mit überzeugenden Argumenten
kritisieren kann, löste sein Urteil eine breite Debatte aus. Dies galt vielleicht
noch mehr für die Entscheidung des Koalitionsausschusses vom 26. September
2010, der die präzisen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal
ansatzweise erfüllte. So wurde eine minimale Erhöhung des sog. Eckregelsatzes
für alleinstehende Erwachsene um 5 EUR pro Monat ins Auge gefasst. Das war kaum
mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein und wurde von zahlreichen
Betroffenen als Verhöhnung der Hartz-IV-Bezieher/innen empfunden. Denn auch mit
364 EUR kann man in unserer Wohlstands- und Konsumgesellschaft keinesfalls
menschenwürdig leben, sich weder gesund ernähren noch sich gut kleiden und erst
recht nicht am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben der
Bundesrepublik teilhaben.
Die zentrale Forderung des
Bundesverfassungsgerichts, den Hartz-IV-Bezieher(inne)n ein „menschenwürdiges
Existenzminimum“ zu gewähren, wurde ignoriert. Wieder entspringt die
Entscheidung reiner Willkür, hat aber mit der Lebenswirklichkeit der Armen
nicht das Geringste zu tun. So streicht man den Langzeitarbeitslosen nicht bloß
die Aufwendungen für Haustiere, Schnittblumen sowie Benzin und Autoreparaturen,
obwohl sie durchaus ein privates Kraftfahrzeug haben sollen, um schnell wieder
eine Stelle (an einem vielleicht weiter entfernten Ort) zu finden, sondern auch
die ihnen bisher für Tabakwaren und alkoholische Getränke zugestandenen 19,10 EUR
pro Monat mit der Begründung, diese Güter gehörten nicht zum Grundbedarf.
Hierdurch sinkt der Lebensstandard der Betroffenen und wächst die Gefahr ihrer
sozialen Ausgrenzung weiter, denn zu rauchen oder mal ein Bier zu trinken
gehört zur Alltagsnormalität in unserer Gesellschaft. Da aber kein
Langzeitarbeitsloser wegen des Koalitionsbeschlusses zum Nichtraucher wird,
müssen die Betroffenen das Geld für Zigaretten an einer anderen Stelle
einsparen, was ihre soziale Ausgrenzung ausgerechnet im „Europäischen Jahr zur
Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (2010) weiter verstärkt.
Nach der Neuberechnung
überhaupt nicht erhöht werden sollen die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche.
Das läuft praktisch auf eine Kürzung hinaus, weil ihre Anpassung ebenso wie die
der Erwachsenen künftig nicht mehr zum 1. Juli eines jeden Jahres, sondern
bereits zum 1. Januar erfolgt und somit für dasJahr 2011 entfällt. Stattdessen will man den Kindern ein „Bildungspaket“
im Wert von 250 EUR pro Jahr zukommen lassen. Hierin eingeschlossen sind
allerdings 100 EUR des „Schulbedarfspakets“ und 30 EUR, die bisher für
eintägige Klassenausflüge gezahlt wurden, weshalb das von der zuständigen Bundesministerin
gefeierte Bildungspaket nicht bloß ein soziales Placebo, sondern auch eine
politische Mogelpackung darstellt. Was sind schon 10 EUR pro Monat mehr für ein
Kind? Man kann damit zwar Mitglied in einem Verein werden, sich von den im
Regelsatz vorgesehenen dürftigen Mitteln aber kaum die dafür nötigen
Ausrüstungsgegenstände (Sportschuhe usw.) kaufen. Auch die Ausgabe von
„Teilhabe- und Bildungsgutscheinen“ etwa für musischen oder Nachhilfeunterricht
ist keine Lösung des Problems, weil sie einer Gängelung der
Hartz-IV-Bezieher/innen durch Politiker/innen gleichkommen, die sonst immer
„Wahlfreiheit“ für die Bürger/innen fordern, sowie letztlich eine weitere
Einschränkung des Handlungsspielraums von Armen darstellen.
War zunächst geplant, dass über
die Vergabe bzw. Ausgestaltung der Gutscheine sog. Familienlotsen in den
Jobcentern entscheiden sollten, was diese zweifellos überfordern würde,
beschloss die Bundesregierung am 20. Oktober 2010 einen Gesetzentwurf zur
Regelsatzermittlung bei Hartz IV, nach dem die zuständigen Stellen größere
Wahlmöglichkeiten haben, auch die Jugendämter oder andere kommunale Behörden
entsprechende Aktivitäten festlegen können und zudem eine direkte
Kostenübernahme stattfinden kann. Gutscheine dürften nicht bloß Hartz-IV-Bezieher/innen
bzw. deren Nachwuchs diskriminieren, weil als solche bei jedem Theater- oder
Schwimmbadbesuch kenntlich machen, sondern die Betroffenen auch disziplinieren
und ihnen diktieren, wofür sie ihre Transfers zu verwenden haben – wenn das
nicht sogar der heimliche Kardinalzweck des besagten Gutscheinsystems für seine
Hauptprotagonist(inn)en ist. Warum soll eine alleinerziehende Mutter im
Hartz-IV-Bezug, die am 20. eines Monats kein warmes Essen mehr auf den Tisch
bringt, weil das Geld für den Supermarkteinkauf nicht reicht oder ihr aufgrund
unbezahlter Rechnungen der Strom bzw. das Gas abgestellt wurde, das ihren
Kindern zugedachte Geld eigentlich nicht für Nahrungsmittel oder für die
Begleichung ihrer Schulden bei den Stadtwerken, sondern für Museumsbesuche oder
die Musikschule ausgeben? Wenigstens diese Entscheidung selbst treffen zu
können, macht doch ihre Menschenwürde aus und ist der Inbegriff von
Eigenverantwortung!
Ähnliches gilt für eine nach
dem Vorbild einzelner schwedischer Kommunen als moderner Gutscheinersatz in die
Debatte gebrachte elektronische Chipcard. Während man dort Bargeld jedoch kaum
noch kennt und selbst Bagatellrechnungen per Kreditkarte begleicht, hat es
diese in Deutschland erheblich schwerer, sich durchzusetzen. Mit der Würde des
Menschen, die unsere Verfassung in Art. 1 GG zum obersten Wert erklärt, wäre
eine Bildungschipcard genauso wenig vereinbar wie der Zwang, betteln zu gehen. Nur
wenn alle Kinder über eine solche Karte verfügen würden und bloß deren
Aufladung von unterschiedlichen Akteuren – den Eltern im Falle besser
gestellter Kinder und den JobCentern im Falle des Bezuges von Sozialgeld –
vorgenommen würde, fiele ihr diskriminierender Charakter weg.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der
Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut in einem reichen Land. Wie
das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus Verlag, Frankfurt am
Main/New York 2009) erschienen.
Mehr über den Autor, finden Sie unter: http://www.hf.uni-koeln.de/30578 sowie
unter http://christophbutterwegge.de.vu/.
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