Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 24.11.10 |
Rezension zu Haruki Murakamis "1Q84"
von Heike Geilen
Für
seine surreale Beschreibung einer dystopischen Welt ist Haruki Murakami schon
lange bekannt. Gefühlsmäßig verarmte und vereinsamte Menschen, mitunter Gewalt,
Paralleluniversen, deren Grenzen zur realen Welt fließend und daher von dieser
kaum zu unterscheiden sind, durchziehen das gesamte Oeuvre des japanischen
Autors. Sein neuestes Werk bildet hierbei keine Ausnahme. Mit „1Q84“ bezieht er
sich zudem auf George Orwells Zukunftsroman „1984“. Der Unterschied zum Briten
besteht allerdings darin, dass Murakami die Vergangenheit erkundet, um sich
auszumalen, wie unsere Geschichte anders hätte verlaufen können: „Denn die Gegenwart entsteht durch die
Anhäufung von Vergangenheit.“, lässt er seinen Protagonisten Tengo
feststellen.
1Q84
steht für eine Parallelwelt. „An einem
gewissen Punkt einer zeitlichen Schiene wurde eine Weiche umgestellt, so könnte
man sagen, und die Welt wurde auf das Gleis des Jahres 1Q84 geschoben.“ Erkennbar
für den jeweiligen Bewohner nur daran, dass zwei Monde am Himmel zu sehen sind:
der gewohnte und ein deutlich kleineres, grünliches Exemplar. „Er war unregelmäßiger geformt als der
ursprüngliche Mond und bei weitem nicht so hell. Er wirkte wie ein
unerwünschtes hässliches Kind, das entfernte arme Verwandte jemandem durch die
Macht irgendwelcher Umstände aufgedrängt hatten.“ Ansonsten unterscheidet
sich 1Q84 nicht vom realen Jahr 1984. Bei näherer Betrachtungsweise allerdings
haben sich ein paar Dinge in andere Richtungen entwickelt. Die Realität ist
leicht verrutscht. Einen nicht unerheblichen Anteil an diesem Fortgang haben
offensichtlich die „Little People“, die des nächtens aus dem Maul einer toten
Ziege steigen, um hernach aus imaginären Fäden einen Kokon - die so genannte „Puppe
aus Luft“ - zu spinnen, in deren Innerem ein zweites Ich heranwächst. Auch wenn
diese ominösen Wesen nicht größer als 60 cm werden, ist ihr Einfluss auf
gewisse Prozesse nicht unerheblich.
Am
eigenen Leib bekommt dies Aomame - eine der zwei Hauptprotagonisten - zu
spüren. Die junge Frau, eine Auftragskillerin, die im Namen der Gerechtigkeit
Männer tötet, die Frauen misshandeln oder sich an Kindern vergangen haben,
gerät durch Zufall in diese Parallelwelt.
Tengo
- ihr männlicher Gegenpart - gibt den typischen Murakami-Mann: talentiert,
intelligent, aber ambitionslos. Seit seinem 10. Lebensjahr ist er mit Aomame
auf besondere Art und Weise verbunden. Damals war er der einzige, der der
Tochter zweier Zeugen Jehovas, gegen ihre hänselnden Mitschüler beisprang. Kurz
darauf verloren sie sich allerdings aus den Augen. Murakami lässt ihrer beider
Lebensläufe zielstrebig aufeinander zustreben. Verbindendes Glied ist eine
17-jährige Schönheit - namens Fukaeri - der Tengo zu einem literarischen
Überraschungserfolg verhilft. Er schreibt ihr stilistisch unbeholfenes Buch so
um, dass es der Verkaufsschlager der Saison wird. Offenbar hat Fukaeri in ihrem
Erzählung eigene Erfahrungen als Kind in einer religiösen Sekte verarbeitet.
Die „Little People“ spielen darin eine Rolle. „Die Puppe aus Luft“ heißt
der Roman.
Verwirrt?
Willkommen
im Mysterium von Haruki Murakami. Darin bringt es der Japaner zur Perfektion, denn „die Dinge sind meist nicht das, was sie zu
sein scheinen. (...) Oder handelte es sich nur um eine gefälschte Erinnerung?
Eine durch eigenmächtige Täuschungsmanöver seines Bewusstseins im Nachhinein
entstandene Fiktion?“ Vielleicht lesen wir gar einen Roman im Roman? Seine
Requisiten hält Murakami allerdings eng beisammen. „Alles
hat zwei Seiten.“, stellt Tengo fest. So auch die zweigeteilte Struktur von
„1Q84“. Neben den bereits erwähnten zwei Monden in zwei Welten, erfolgt
der Kapitelwechsel der zwei Bücher (das japanische Original erschien in zwei
Bänden) konsequent abwechselnd: Tengo agiert unter gerader Zahl, Aomame unter
ungerader. Die bipolare Ordnung lässt sich außerdem an jeder Menge anderer
Beispiele festmachen: zum Beispiel das Doppelleben der beiden Protagonisten,
die in
zwei Fraktionen gespaltene neureligiöse Gruppe oder die zwei Väter Tengos.
Stilistisch
kann der Roman nicht punkten. Mit seinem lapidar-kühlen Duktus und einfachem
Satzaufbau zählt Murakami nicht zu den Sprachkünstlern. Bei ihm liegt die
Finesse im Detail: im formalen Handlungsaufbau, in seiner gewieften
Erzählweise, in der strukturellen Melange unterschiedlicher Themen. „Vereinfacht ausgedrückt war es die Aufgabe
einer Geschichte, eine bestimmte Problematik in eine andere Form umzuwandeln.
Durch Merkmale und die Richtung dieser Wandlung deutete sich auf der
erzählenden Ebene eine Antwort an.“, ist im Buch zu lesen. Darin ist Haruki
Murakami ein Meister. Religion, Soziologie, Literatur und Musik fließen in
einem wohldurchdachten Potpourri zusammen und werden auf höchstem Niveau
perspektivisch verwirbelt und zeitlich verschliffen. „Die Zeit hatte sich in ihrem Gedächtnis verirrt und glich nun einem
Gewirr aus losen Fäden.“ Murakami fungiert als souveräner Strippenzieher,
als Mittler zwischen den Welten.Er
verknüpft die eine mit der anderen in einer nahezu perfekten Komposition, die den
Leser in einen permanenten Sog zieht. „1Q84“ liest sich flüssig, ohne flach zu
sein und lässt den Leser nach 1022 Seiten verwundert, ob seines schnellen
Endes, auftauchen.
Einen
nicht unerheblichen Anteil hat daran gleichfalls die Übersetzerin Ursula Gräfe,
die dem deutschen Leser das japanische Werk ohne Qualitätsverluste zugänglich
machte.
„Ein Schriftsteller ist kein Mensch, der
Fragen löst. Es ist ein Mensch, der Fragen aufwirft.“, kann man im Buch
lesen.Am Ende bleiben einige unbeantwortet.
Doch auch wenn Vieles im Unklaren bleibt, einige Personen auf
unerklärliche Weise verschwinden und nicht wieder auftauchen, das Mysterium der
„Little People“ keine Aufklärung erfährt und die endgültige Zusammenführung der
beiden Protagonisten.... nein, ich möchte nicht zu viel verraten, so hat Haruki
Murakami alles gesagt.
Oder
vielleicht doch nicht?
Auf
jeden Fall ist dem Japaner hervorragend gelungen, seine Figuren „an der
Wegkreuzung der Gegenwart“ stehen und sie von dort aus die Vergangenheit genau
in Augenschein nehmen zu lassen. Jetzt müssen sie nur noch aus der veränderten
Vergangenheit ihre Zukunft gestalten. Für den Herbst 2011 ist ein dritter Teil
angekündigt, der in Japan bereits erschienen ist.
Haruki
Murakami
1Q84
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
DuMont
Buchverlag, Köln (Oktober 2010)
1022
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3832195874
ISBN-13:
978-3832195878
Preis:
32,00 EURO
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