Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 24.11.10 |
von Constantin Graf von Hoensbroech
Mit der Einführung des berühmten Rufes „Wir sind das Volk“
in die gegenwärtige Debatte um multikulturelle Gesellschaft und Identität und Integration
hat Bundespräsident Christian Wulff in unverantwortlicher Weise einer
Beliebigkeit und Relativierung der deutschen Geschichte das Wort geredet. Gerade einmal zwei Jahrzehnte sind vergangen seit der Ruf „Wir sind das Volk“
so lange gegen die Mauer geschleudert wurde, bis diese sich heute vor genau 21
Jahren öffnete. Auch Christian Wulff zitierte in seiner Rede zum 20. Jahrestag
der Wiedervereinigung die berühmte Vokabel der Freiheit, um sie dann mit den
Worten zu interpretieren: „Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung
sein an alle, die hier leben.“ Muss er nicht, und darf er auch nicht. Denn der
seit dem Herbst 1989 immer stärker gewordene berühmte Ruf nach Einigkeit und
Recht und Freiheit, der sich im Verlaufe der Demonstrationen von „Wir sind das
Volk!“ in „Wir sind ein Volk“ zuspitzte, kann nicht aus seinem damaligen
historischen Kontext gelöst und heute in einem Sinne verwendet werden, wie es
Christian Wulff auslegt.
Man kann nicht genug an die Ereignisse der Wendezeit von
1989 erinnern. Wer damals vor dem Fernseher saß oder selbst dabei gewesen ist,
als sich immer mehr Menschen gegen ein erbarmungsloses diktatorisches Regime
erhoben, wird heute noch eine Gänsehaut bekommen und sich mit Tränen und
Dankbarkeit an jenen Mantel der Geschichte erinnern, der damals die beiden
deutschen Staaten mehr als nur streifte. Die Mauer wurde zwar, in verknappter
Form, nur aus Versehen geöffnet. Doch ohne den zunehmenden Druck der Straße
wäre es erst gar nicht zu jener Pressekonferenz gekommen, auf der
Politbüromitglied Günter Schabowski die von den SED-Diktatoren beschlossenen
Reiseerleichterungen verkündete und – auf Nachfrage – stammelte „Das tritt nach
meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich.“
Der Freiheitswille hatte gesiegt und brachte den antifaschistischen
Schutzwall zum Einsturz. Aus Untertanen waren Bürger geworden, wie es Joachim
Gauck einmal formulierte. Diesen Bürgern ging es um jene Rechte und Werte, wie
sie im Grundgesetz verankert sind, und es ging ihnen um die Einheit von Ost- und
Westdeutschland – sie hatten die Freiheit errungen. Darin liegt die historische
Leistung und Bedeutung. Damit aber wird die Verschiedenheit zu Menschen anderer
Herkunft und anderen Glaubens auch nicht aufgelöst – wie es der Bundespräsident
so missverständlich in seiner Definition von Einheit ausdrückte. Heute muss
niemand mehr in Deutschland auf die Straße gehen, um die Freiheit zu erringen.
Mehr noch: Menschen fremder Herkunft haben hierzulande sogar die Freiheit, auf
die Straße zu gehen, wenn in ihren Ländern die Freiheit bedroht ist. Das
zeitgeschichtliche deutsche Erbe der Freiheit ist weit von den eher
praxisorientierten und sicherlich notwendigen und richtigen Debatten über die
Versäumnisse und Perspektiven der Integrationspolitik oder speziell über die
Zugehörigkeit von Menschen muslimischen Glaubens entfernt. Diese Trennung muss
beibehalten und darf nicht durch missverständliche Interpretationen der
deutschen Einheit verwässert werden, um daraus vorschnell eine einheitliche
staatsbürgerliche Gemeinsamkeit zu formen, die sich eben auch im Umgang mit den
Verschiedenheiten und dem Fremden bewährt.
Im Gedankengang des Bundespräsidenten ist es indes folglich
konsequent, zu sagen „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ So
wird dieser Satz seiner Rede dann zum beherrschenden Zitat, wird zum Kern eines
wohl lange währenden Diskurses inmitten eines wiedervereinigten Deutschland.
Auf der anderen Seite zeigt aber genau diese lebhafte Debatte darüber auch, wie
sehr diese Aussage, gerade einmal zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, die
immer noch so notwendigen Arbeiten an der Vollendung der inneren Einheit von
Deutschen in West und Ost beschwert – und möglicherweise dabei zu einer
zusätzlichen Hypothek wird.
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