Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 27.11.10 |
von Constantin Graf von Hoensbroech
Prof. Dr. Paul Kirchhof und Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels
Die Welt sähe heute anders, will sagen: besser aus, wenn Immanuel
Kants kategorischer Imperativ auf dem Finanzmarkt oder auch in der
Politik für Familien und Kinder angewandt werden würde. Eine spannende,
auf den ersten Blick vielleicht allzu gewagt anmutende These, die der
ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof formuliert. Doch bei näherer
Betrachtung ist es durchaus nachvollziehbar und möglicherweise geradezu
notwendig, das oberste Prinzip der Moralität des berühmtesten
Philosophen der Aufklärung als zeitlos gültige ethische Kategorie in den
aktuellen Debatten um Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der
zurückliegenden Wirtschaftskrise anzumahnen. Zumal Kirchhof die berühmte
Formel „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen
kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ und ihren
geistesgeschichtlichen Kontext, eben die Aufklärung, ebenso als eine der
elementaren deutschen Verfassungswurzeln identifiziert wie auch das
Christentum, den Humanismus sowie die sozialen Bewegungen des 19.
Jahrhunderts. Das mag sich selbstverständlich lesen, ist es aber nicht,
denn die größte Sorge, die nicht nur den 67 Jahre alten Juristen
umtreibt, ist: das „schwindende Vertrauen in das politische System und
damit zusammenhängend die mangelnde Besinnung auf die Grundprinzipien
und Verfassungswurzeln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.“
Mit
dieser Reflexion entsprach der Professor aus Heidelberg zwar umfänglich
dem Thema „Nach der Krise – vor der Krise. Freiheit und Verantwortung
in Wirtschaft und Gesellschaft“ des diesjährigen Buß- und
Bettagsgesprächs, zu dem das Institut für Gesellschaftswissenschaften
Walberberg traditionell nach Bonn eingeladen hatte. Gleichwohl machte er
mit seinen Überlegungen zugleich auch mehr als deutlich, dass sich, wie
Institutsleiter Pater Professor Wolfgang Ockenfels eingangs bemerkt
hatte, die Moralfrage inzwischen als Systemfrage stellt. Die fatale
Folge eines unklaren Weges zwischen falsch verstandener
Freiheitsfixierung einerseits und mangelnder Freiheitsbereitschaft
andererseits wäre, „dass wir von einer Krise in die nächste rutschen
ohne zu wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen“, so der
Dominikanerpater. Für Paul Kirchhof jedenfalls ist der Weg klar, dies
habe er, wie er mit feinem Humor anmerkt, in seinen zwölf Jahren als
Verfassungsrichter im Reparaturbetrieb dieser Republik erfahren dürfen:
„Die Ideale unserer Verfassung – Freiheit, Gleichheit, Demokratie,
Soziales, Gemeinwohl – sind richtig.“
Enttäuschungen
sind aber nicht ausgeschlossen, und der Misskredit, in die Institutionen
wie die Kirche geraten sind, befördert den Vertrauensverlust. Der
setzte allerdings schon in den 1960er Jahren ein, in jener
Entsolidarisierung mit der Idee von Freiheit, die im Staat immer mehr
einen Apparat für Betreuungs- und Sozialleistungen erwartete. „Die
Rechtsgemeinschaft darf nicht aus dem Ruder des Rechts laufen“, mahnte
Kirchhof und konkretisierte dies beim Blick auf die Politik im
Allgemeinen sowie die Proteste gegen die Tieferlegung des Stuttgarter
Hauptbahnhofs im Besonderen. Trotz 15 Jahren Planung und aller damit
zusammenhängenden Verfahren und Beteiligungen gingen die gegenwärtigen
Entwicklungen, auch durch einseitige Berichterstattung in den Medien,
auf Entscheidungswege zu wie etwa ein Plebiszit, die es erkennbar nicht
gebe. „Das Protestpotenzial muss man sehr ernst nehmen, zumal da ein
fundamentales demokratisches Problem droht.“
In diesem
Sinne gelte es, und darin sieht Kirchhof denn auch die wesentliche
Konsequenz aus den beiden zurückliegenden Krisenjahren, Freiheit als
Erneuerungsprinzip zur Geltung zu bringen, „wenn eben alle bereit sind,
es besser zu machen als zuvor“. So komme es beispielsweise in der
nächsten Finanzkrise ganz lapidar darauf an, sich auf die Freiheit
zurückzuziehen und nicht noch einmal riesige staatliche Rettungsschirme
aufzuspannen. „Sonst ist die Demokratie bei uns und in Europa ernstlich
bedroht.“
Ähnlich sah es Jürgen Rüttgers. Der ehemalige
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bekannte, dass „wir nicht
nochmals eine solche Verschuldungswelle organisieren dürfen“ und gab
einer auf kurzfristiger Gewinnmaximierung ausgerichteten Gesellschaft
keine Überlebenschance. Problematisch schätzt er in diesem Zusammenhang
die gegenwärtige Gefühlslage ein: „Das Casino ist wieder eröffnet.“
Gewerkschaftsführer preschten wieder mutig nach vorn und viele
Unternehmer lebten in dem Irrglauben, dass sie auch die nächste Krise
überstehen werden, nachdem sie die zurückliegende überstanden haben.
Dass sie indes wie ein Truthahn lebten, der glaube, im Paradies zu sein,
weil er immer gefüttert werde, bis ihm jemand den Hals umdrehe, dürften
viele der über 200 Gäste – unter ihnen zahlreiche hochrangige
Mittelständler - im prall gefüllten Saal des Hotel Bristol als unpassend
empfunden haben. Zumal der Politiker bei einem seiner ersten Auftritte
nach dem Bundesparteitag der CDU, bei dem ihm das Parteivolk nochmals
mit Ovationen gehuldigt hatte, zugleich einräumte, dass „wir schon ein
wenig stolz sein dürfen, dass Deutschland es in der Krise besonders gut
gemacht hat“. Und wenig später indes kritisierte er die Politik, die es
eben nicht geschafft habe, Regeln aus der Krise zu ziehen, die „im Kern
keine ökonomische Krise, sondern eine moralische Herausforderung ist:
Die Gesellschaft muss sich neu verorten und sich ihres Fundaments
vergewissern.“ Ob er dabei auch sich selbst meinte?
Schließlich
wiederholte Rüttgers seine Vorschläge zur Bewältigung dieser
moralischen Krise, wie er sie in seiner Hochzeit als
christdemokratischer Arbeiterführer und Sozialpolitiker so oder so
ähnlich immer wieder und richtig formuliert hatte: Es gehe um nicht
messbare Ziele und Werte wie den ehrbaren Kaufmann, Selbstdisziplin,
Ehrlichkeit, Fairness und Gemeinsinn – eben jene „ganz unkäufliche Welt
jenseits des Marktes“, wie es der leidenschaftliche Vorkämpfer der
Sozialen Marktwirtschaft, Wilhelm Röpke, einmal formuliert hat. Auch
Rüttgers sieht sich als leidenschaftlicher Verfechter der Sozialen
Marktwirtschaft. Das hat er in seiner langjährigen politischen Laufbahn
immer wieder betont und sich – was noch wichtiger ist – in seinem Tun
und Handeln daran orientiert. Dennoch: Politiker in einer
verantwortlichen Position ist Rüttgers nicht mehr, und das er noch auf
der Suche nach seiner künftigen persönlichen Verortung ist, war seinem
Auftritt in Bonn anzumerken.
Ob er sich nun stärker mit
grundlegenden systemischen und ideologischen Fragen unserer
gesellschaftlichen Verfasstheit auseinandersetzen und diese mit seiner
langjährigen politischen Erfahrung aktuell formuliert in den Diskurs
hierüber einbringen wird? Mit seinen zehn Regeln für das
ökonomisch-ethische Handeln in Wirtschaft und Gesellschaft – etwa zu
Wirtschaft und Gerechtigkeit, Unternehmerhaftung, Investitionen,
Leistungen und Anspruch – nutzte Rüttgers das Podium in Bonn, um einer
Erneuerung und Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft das Wort zu
reden. „Sonst wird die nächste Krise noch gravierender.“
Der Kommentar entstand unter Mitwirkung von Dr. Stefan Groß
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