Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 24.11.10 |
von Lisz Hirn
„May I take your photo?“ “Does everybody in Austria play
three instruments?” “What do I have to do to marry an Austrian girl?” “Where is
Aus-tri-a?” Das waren nur einige der Fragen, die mir in Rahmen des philosophischen
Künstlerprojektes „I am Austrian. Ask me anything“ auf der größten Expo aller
Zeiten gestellt wurden. Diese war, wie könnte es anders sein, im chinesischen
Shanghai. Selten bin ich mir so zwergenhaft erschienen, als in den zwei Tagen,
an denen ich mit meinem Kollegen vor dem Österreich-Pavillon stationiert war.
Manchmal habe ich hunderte Fotos machen müssen und nie habe ich den Unterschied
zwischen „Australia“ und „Austria“ so oft erklären müssen wie dort. Kann man
sich die gigantischen Ausmaße dieser Veranstaltung überhaupt vorstellen?
Hunderttausende von Besuchern pro Tag und an einige Spitzentagen sogar mehr als
eine Million. Eine ganze Stadt war von Mai bis Oktober 2010 im Expo-Fieber und
bewies, dass sie mit Menschenmassen umgehen kann. Und das muss sie auch, glaubt
man den demographischen Prognosen. Im gesamten Verwaltungsgebiet von Shanghai,
einschließlich der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten außerhalb der
Kernstadt, leben 18,9 Mio. Menschen - und es werden immer mehr.
Metrostation: Shanghai Railway Station
In den Suburbs sieht man schnell, wie sich Shanghai auf
seine stetig wachsende Bevölkerung vorbereitet hat. Riesige, identische
Hochhäuser im attraktiven Graubraun gehalten, zieren die Landschaft und
versuchen, soviel Wohnraum als möglich zu erzeugen. Die jahrzehntelange
Vernachlässigung der Infrastruktur und des Wohnungsbaus haben zusätzlich zur
rasanten Entwicklung der Bevölkerung, viele Engpässe der Stadt offenkundig
werden lassen. Die Situation ist nach wie vor prekär, auch wenn sich die
durchschnittliche Wohnfläche angeblich von 2m² auf 9m² pro Kopf vergrößert hat.
Gerade auf soviel Quadratmeter, wie man sich leisten kann. Viel verdient der
Durchschnittsbürger nicht, auch wenn man etliche in vermeintlicher
Markenkleidung herumflanieren sieht. Die Fälschungen blühen immer und überall
in Shanghai und die meisten billigen Schnäppchen sind nur als Attrappen zu
gebrauchen. Hier geht es um das Bedürfnis, immer und überall Status zu zeigen
und sein Gesicht zu wahren. Man lobt alles und jeden, stellt sich dabei demütig
und sein Licht unter den Scheffel. Andere Länder, andere Sitten – und man tut
gut daran, sich über diese vor dem Reiseantritt zu informieren.
Metrostation: Hangqing Road
Sieben Gates führen auf das Expo-Gelände. Ein erfahrener
Freund hat uns das Gate 7 empfohlen. Die Wartezeiten würden sich an diesem
unter drei Stunden beschränken. Der Weg von der Station zum Gate ist so lang,
dass man dabei zu ahnen beginnt, wie groß das Gelände selbst sein muss. Überall
meterlange Schlangen vor den Eingängen der Pavillons, überall Menschen, die
essen, schwitzen, lachen und drängen. Die Expo ist ein gigantischer, globaler
Vergnügungspark und jedes Land versucht, mit seinem Beitrag den Vogel
abzuschießen. Der Vogel freilich, der ist das vorwiegend chinesische Publikum,
welches eine besondere Vorliebe für interaktive Beiträge zu haben scheint.
Freilich verständlich: Viele sprechen kein oder kaum Englisch, kommen aus
einfachen Verhältnissen und werden aufgrund ihrer sozialen Situation China nie
verlassen, die Expo ist ihre Chance die Welt zu sehen. Es gibt scheinbar auch
welche, die sich diesen Ausflug nicht leisten wollten. Um die angestrebte 70
Millionen Besuchermarke zu erreichen, hat China, laut Insidern, durch
Intervention auf diverse Unternehmen, sprich Zwang und Androhung von
Entlassungen, einige Millionen chinesische Arbeitnehmer zum Besuch der Expo
beordert. In China ticken die Uhren anders, vor allem, wenn die Uhren billig
sind.
Metrostation: Yu-Yuan Garden
Das alte China ist hier ebenso sichtbar wie die Exzesse der
chinesischen Überproduktion. Zwischen Pavillons und typisch chinesischen
Teehäusern zwängen sich Ketten wie McDonald´s und KFC hinein, um den Europäern
ein westliches Flair zu vermitteln. Ich schwöre, dass ich in meinem Leben
niemals soviel nutzlosen Ramsch gesehen habe und noch nie so nahe daran, in
eine wahre Shoppingmanie zu verfallen. In Shanghai bekommt man einfach alles
und billig, vor allem im Altstadtviertel. Von einer Armbanduhr mit dem
winkenden Konterfei von Mao Zedong bis zu einer dickbauchigen Buddha-Badepuppe
ist hier unter roten Lampions alles zu haben, was man schon einmal haben wollte
oder geglaubt hat, es gäbe es gar nicht.
Metrostation: Linping Road
Schauplatzwechsel. Ich möchte das alltägliche Shanghai
erleben und nehme mir ein Zimmer im Stadtteil Hongkou. Man sieht die üblichen
Hochhäuser, die mit Menschen prall gefüllt sind. Beim Weiterschlendern bemerkt
man, dass die Häuser allmählich niedriger werden. Plötzlich steht man in der
Zhoushan Road. Einmal hier gewesen, wird man diese Strasse nie mehr vergessen: Hier
findet man noch gebratenen Hund am Stiel und frische Schlangen für den
abendlichen Hot Pot. Jung und Alt trifft sich hier, um von den am Gehsteig
frisch zubereiteten Snacks zu kosten und um High-Tech-Imitationen zu feilschen.
Hongkou liebt oder hasst man. In jedem Fall sei Tierschützern, Vegetariern oder
gar Veganern vom Besuch dieser Strasse dringend abzuraten. Denn: Der Fisch ist
beim Kauf so frisch, dass er noch lebt.
Metrostation: East Nanjing Road
Man kommt an dieser Strasse nicht vorbei, in der sich vor
allem westliche Konzerne breit, sprich einen Namen gemacht haben. Geht man bis
zum Ende der Strasse, erreicht man den „Bund“. Der Bund wurde zunächst von den
ansässigen Niederländern als Deich zum Huangpu errichtet. An der Uferpromenade befinden
sich noch immer die im westlichen Stil errichteten Gebäude. Sie sind zwischen
dem Ende des 19. und dem Beginn des 20.Jahrhunderts entstanden. Gebäude
von beachtlicher architektonischer Größe überziehen das östliche Ufer des
Huangpu und bilden einen Antagonismus zur Westseite, die eine lange Geschichte
aufweist und die noch zum großen Teil den Stil und Namen der einstigen
„Kolonialmächte“ tragen. Auf der östlichen Seite des Flusses sieht man
Shanghais Zukunft im nächtlichen Treiben strahlen. Hier steht das höchste
Gebäude Chinas, das 492 Meter hohe Shanghai World Financial Center. Dieser Stadtteil
trägt den Namen Pudong und erinnert an einen schlechten Science Fiction-Roman.
Bei seinem Anblick ertappt man sich dabei, dass man den Nachthimmel nach Ufos
absucht.
Metrostation: People´s Square
Die Historie ist in dieser Stadt ebenso präsent wie die
Zukunft. Die erste Besiedelung der Region wird auf etwa 4000 v. Chr. datiert. 960
wurde Shanghai erstmals namentlich erwähnt und wächst seitdem in immer größere
Dimensionen. Im beeindruckenden Shanghai Urban Planning Exhibition Center kann
man die Zukunft Shanghais sogar aus Plänen und Modellen lesen: diese Stadt hat
viel vor und viel zu tun. In den 1980ern fiel der Entschluss, Shanghai ein
weiteres Mal die Vorreiterrolle für die Modernisierung Chinas zuzuweisen.
Dadurch wurden die Produktion und folglich auch die ausländischen Investitionen
auf diesem Sektor angekurbelt. 1990 wurde der Stadtteil Pudong gegründet und
damit die Basis für einen „Neuen chinesischen Bund“. Die Stadt macht sich seitdem
als Standort für die Entwicklung von Technologien verschiedenster Art einen
Namen und auch als Zentrum internationaler finanzieller Institutionen.
So weit, so gut, aber Shanghai hat auch viele Probleme zu
lösen, will es seine Stellung in China und der Welt behaupten. Folgende
Probleme sind bis jetzt ungelöst: die Überbevölkerung und Umweltprobleme wie Smog,
Lärmbelastung und die Verschmutzung der Flüsse. Shanghai hat weltweit einen Ruf
als die am meisten umweltgeschädigte Stadt. Weiter warten auch soziale Probleme
in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch und Prostitution auf eine
profunde Aufarbeitung und Lösungsstrategien.
Metrostation: East Shaanxi Road
Die French Concession ist der place-to-be für die Jungen und
Reichen Shanghais. Hier findet man ambitionierte Friseursalons im
Pariser-Style, kleine Boutiquen mit Qualitätsware und Bäckereien, die vorgeben,
etwas von französischer Patisserie zu verstehen. Am Abend wird es dort still
und man wird vergeblich nach einem lauschigen Plätzchen suchen. Dafür muss man
sich östlich halten, bis man zur Station Xintandi kommt. Diese ist die
Empfehlung, die man hört, wenn man ausgehen will. Und das ist schwerer als man
meint in Shanghai. Es gibt spärlich gemütliche Lokale und wenn, findet man dort
eher immigrierte Westler als ausgehfreudige Chinesen. Xintandi scheint das
Ausgehviertel zu sein. Es ähnelt einem künstlichen Teich, in dem alles Westliche
angesiedelt wird, das man sonst nicht haben oder unterbringen möchte. Es ist
ein großes Biotop, in dem man immer wieder blutjunge Chinesinnen sieht, die mit
wesentlich älteren Herren europäischen Typs in intimer Atmosphäre verkehren.
Voreilige Schlüsse ergeben sich von selbst.
Metrostation: Jing-an Tempel
Es gibt aber nicht nur Sex und Konsum in Shanghai, sondern
auch Stätten der inneren Einkehr und Anbetung. Eine der religiösen Attraktionen
ist der Jing-an Tempel. Hier wird buddhistische Tradition in bester chinesischer
Manier praktiziert. Obgleich verwunderlich ist, wie sich die Lehre vom
mittleren Weg zwischen Extremen mit der chinesischen Lebenswelt vereinbaren
lässt, wo einerseits exzessiver Konsum und andererseits bittere Armut auf der
Tagesordnung stehen. Das Highlight des Jing-an Tempels ist der in ihm
verborgene Jade-Buddha. Diesem kann jeder opfern, der es gerade nötig hat.
Räucherwerk und Opferutensilien sind rundherum erhältlich. Wer sich nicht
sicher ist, ob Buddha seine Dienste rechtzeitig tut, kann sich zusätzlich der
Hilfe der altchinesischen Götter oder dem chinesischen Weisen Konfuzius
versichern. Letzterer charakterisiert seine Landsleute wie folgt: "Nie
habe ich einen gesehen, der der Tugend mehr ergeben war als der Sinnlichkeit."
Und wenn man eines in Shanghai kann, dann ist es, seine Sinne zu befriedigen.
Bei Tag und bei Nacht.
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