Erschienen in Ausgabe: No. 19 (1/2003) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
von Ali Sirin
Einen regen Zulauf konnte
ein Philosoph und Reformator im 13. Jahrhundert in Ostanatolien unter
der einfachen Bevölkerung verzeichnen. Es war Haci Bektas Veli,
der Begründer des Alevitentums, dessen Lehre über
Humanismus, Liebe und Toleranz handelte und eine Alternative
gegenüber des despotischen Seldschukenreiches und später
der strengen Scharia-Regel des osmanischen Staates darstellte.
Haci Bektas’ Lehren
sowie Anschauungen der Welt gegenüber war in der damaligen Zeit
in Anatolien revolutionär, denn sie waren freiheitlich, tolerant
und humanistisch. Anatolien war oft Schauplatz vieler Kriege und die
Menschen fanden in der Philosophie des Alevitentums Trost.
Aber obwohl das
Alevitentum in seiner Theorie die Gleichberechtigung zwischen Mann
und Frau, den Humanismus sowie Toleranz offen darlegte, sah die
Praxis jedoch anders aus. Das Leben war geprägt durch die
Landarbeit, Frauen besaßen kaum Mitsprachrecht und die
Dorfbewohner waren hauptsächlich Analphabeten, hatten nicht die
Möglichkeit Schulen sowie Universitäten zu besuchen.
Das Dorfleben der Aleviten
unterschied sich nicht sonderlich von denen der Sunniten. Es war
segmentär, patriarchalisch sowie traditionell. Die mechanische
Solidarität ließ keine Individualität zu. Der Alltag
bot nicht den entsprechenden Rahmen für die Entfaltung des
Alevitentums und ihrer Philosophie. Nur in der religiösen
Zeremonie, des Cem’s, nahmen Mann und Frau gleichberechtigt
teil, um sich dem Spirituellen hinzugeben.
Die Philosophie der Liebe
und Toleranz entsprach nicht der osmanischen Islamauslegung, was
einen weiteren ausschlagsgebenden Grund für die Nichtentfaltung
der Philosophie im Alltag ausmachte. In den Städten hatte das
Alevitentum erst recht keine Chance. Lediglich in dem zeremoniellen
Cem konnte die alevitische Lehre umgesetzt werden.
Dies ist auf die Tatsache
zurück zu führen, dass die Aleviten, deren Glaube und
Philosophie christliches, jüdisches sowie vorislamisches
Mystikverständnis in sich vereint, durch ihre mystische
Auslegung des Islams sowie ihrer Nichtbeachtung der fünf Gebote
des Korans verfolgt wurden und sich daher in abgelegenen Dorfregionen
niederließen, um für mehr Sicherheit die Abgeschiedenheit
in Kauf zu nehmen. Aleviten sind Pantheisten und glauben nicht an
einen personifizierten Gott. Weiterhin besuchen sie keine Moscheen.
Das Paradies sehen Aleviten auf Erden..
Vor allem in alevitischen
Gedichten und Liedern kommt die Philosophie zum Vorschein, die voller
Melancholie und Sehnsucht ist. Sehnsucht nach einer besseren Welt,
von Freiheit und Frieden und nach konfessionaler Selbstbestimmung.
Im Gegensatz zu der
sunnitischen Mehrheit, glauben die Aleviten an eine Wiedergeburt des
Verstorbenen, sprich, die Seele wird sich nach dem Tod mit einem
neuen Menschenkörper vereinigen. Der Glaube an die Wiedergeburt
unter den Aleviten stammt vermutlich aus der vorislamischen Zeit.
Die Sunniten dagegen gehen
davon aus, dass die Seele bis zum jüngsten Gericht im Grab auf
die Erlösung warten wird. Daher stößt bei den
orthodox denkenden Sunniten der Glaube an eine Wiedergeburt unter den
Aleviten auf Unverständnis. Im Gegensatz zu ihrem Glauben kennt
die alevitische Minderheit in der Türkei zudem eigentlich keine
Hölle bzw. Himmel und die Aleviten schwören auf Gottesliebe
anstatt mit Gottesangst Furcht unter den Gläubigen zu
verbreiten.
In den Gedichten des
türkischen Dichters Yunus Emre und auch vieler anderer
alevitischer Dichter wurde der Tod als der Beginn einer Wiedergeburt
beschrieben und nicht als etwas endgültiges. Die Seele ist
göttlich und somit unsterblich.
Aber es muss erwähnt
werden, dass während der jahrhundertlangen Assimilationspolitik
durch die sunnitische Mehrheit vieles von dem Brauch der Aleviten
verloren gegangen ist bzw. durch die Abgeschiedenheit der
alevitischen Dörfer sich regionale Unterschiede entwickelten,
die leicht verschiedene Ansichten über die alevitische Lehre
entwickelten. Schließlich hatte auch die Stadtflucht bzw. die
Abkehr vom Dorfleben dazu beigetragen, dass unter den Aleviten
einiges an Kultur und Tradition ihres Glaubens verloren ging. Daher
ist die Wiederfindungsphase der Aleviten noch nicht abgeschlossen.
Die alevitische
Philosophie, mit ihrem humanistischen Schwerpunkt, konnte sich erst
mit jahrhundertlanger Verspätung im Zuge der Globalisierung
entfalten. Unter Globalisierung wollen wir die Urbanisierung, das
Annehmen linker Ideologie, die Emanzipation der Frau, die
Nationalitätsfrage, die Konfrontation mit der Moderne bzw. mit
der Außenwelt und der Verfall der Traditionszwang verstehen. In
den Großstädten konnten somit die Fesseln der Traditionen
aufgelockert werden. Die einschränkenden Normen und Werte
verloren an Bedeutung und eine Orientierung an allgemeinen
demokratischen Werten fand statt. Aber auch in den alevitischen
Dörfern hatte die Globalisierung nicht halt gemacht.
Aber mithilfe der
Globalisierung konnte das Alevitentum sich in seinem philosophischen
Element trotzdem nicht vollständig entfalten. Die Emanzipation
der Frau ist schon auf seine Grenzen gestoßen. Die Moral einer
Familie wird immer noch über die weiblichen Familienmitglieder
bestimmt, z.B. Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren. Ehre und
Würde haben auch in der Diaspora noch einen hohen Stellenwert.
Es ist eben ein langwieriger Prozess, die veralteten,
traditionalistischen Ansichten aus der patriarchalischen Welt
auszumerzen.
Aber die Globalisierung
bereitete der alevitischen Gemeinschaft neue Probleme. Sie musste
immer noch ihre Identität gegenüber der sunnitischen
Mehrheitsgesellschaft geheim halten, um ungestört am sozialen
Leben teilnehmen zu können, denn die Vorurteile gegenüber
der alevitischen Minderheit waren (und sind) immer noch unter den
stark religiösen Sunniten vorherrschend. Andererseits herrschen
auch unter den Aleviten Vorurteile sowie Stigmatisierungen gegenüber
den Sunniten, allein über einen Menschen negativ zu reden,
verstößt schon gegen die alevitische Philosophie, nämlich
jeden Menschen als etwas göttliches und somit vorurteilsfrei
anzusehen.
Burak Gümüs
stellte in seinem Buch „Türkische Aleviten“ fest:
„Alevitische Autoren bzw. Personen versäumen bei dem
Vergleich zwischen dem Aleviten- und Sunnitentum, eine Unterscheidung
zwischen Norm- und der tatsächlichen Verhaltensebene, zwischen
Anspruch und Wirklichkeit vorzunehmen...“. Dieses
Selbstbewusstsein, die sich zur Überheblichkeit steigern kann,
ist unter den Aleviten ein Phänomen der 90’er Jahre. Davor
galt es, die alevitische Herkunft der Außenwelt nicht anmerken
zu lassen.“
Die Philosophie des
Alevitentums, so humanistisch und bescheiden sie auch sein mag, kann
in der Praxis nicht perfekt umgesetzt werden. Entweder überfordern
die alevitischen Normen und Werte die Menschen oder die Gesellschaft
bietet nicht den gewünschten Rahmen für die Umsetzung.
Entsprechend der alevitischen Philosophie kann die Welt nur dann zum
guten gelangen, wenn die Menschen zuallererst mit Selbstkritik
beginnen und dann kann nach den Irrtümern in der Welt gesucht
werden. Selbstkritik bedarf jedoch einer großen Willensakt.
Die Säkularisierung
der Aleviten in den Städten der Türkei führte zur
Orientierungslosigkeit sowie Neuorientierung. Während der 60’er
sowie 70’er Jahren in der Türkei entdeckten viele Aleviten
die linke Bewegung für sich, um im Lande auf politischer Ebene
mehr Gerechtigkeit walten zu lassen. Ein weiterer Grund, warum die
linke Ideologie die junge alevitische Generation anzog, war der, dass
es mit der alevitischen Philosophie viele Gemeinsamkeiten hatte, wie
z.B. Kampf gegen Unterdrückung, Gleichberechtigung etc.
Aber der Militärputsch
im Jahre 1980 zerschlug die Träume der Linken sowie die der
alevitischen Anhänger. Viele Aleviten distanzierten sich in den
kommenden Jahren vom linksradikalem Spektrum und orientierten sich
erneut wieder verstärkt an ihrer Konfession.
Mit der Reislamisierung,
die der linken Ideologie den Wind aus den Segeln nehmen sollte, sahen
sich die Aleviten erneut durch eine sunnitische Politik bedroht. In
dem Artikel „Aleviten
im Wandel der modernen Geschichte“ von Hans-Lukas Kieser wird
daher folgendes festgestellt:
„Das
türkeigeschichtlich herausragende Phänomen der alevitischen
Renaissance fiel nicht von ungefähr zeitlich zusammen mit der
öffentlichen kurdischen Artikulation in der Türkei seit
Ende der 1980er Jahre. Zweifellos ermutigte der Kampf der Kurden um
kollektive Anerkennung die Aleviten zu einem identitären coming
out. Im Zeichen medialer Liberalisierung behinderte der Staat
diesen Prozess wenig, ja unterstützte ihn bisweilen gezielt, um
die Aleviten vom Lager der militanten Kurden fernzuhalten. Zum
historischen Kontext der alevitischen Renaissance gehören aber
noch weitere Faktoren. Zu nennen sind die Erfahrung einer verlorenen
Generation von Aleviten, nämlich jener 68er Protestjugend, deren
sozialrevolutionärer Kampf gescheitert war. In einem Kontext,
den global das Ende des Kalten Krieges und regional der blutige
Guerillakampf prägten, trug dies zu einer Suche nach Identität
jenseits politischer Ideologien bei und zum Rückgriff auf ein
(...) [Alevitentum], das die Protestgeneration zu pauschal abgewertet
hatte. Als Katalysator für diesen Prozess wirkte sich der am 2.
Juli 1993 in Sivas von einem islamistischen Pöbel verübte
Massenmord an alevitischen Künstlern aus.“
Über Jahrhunderte
bilden die Aleviten eine sozialpolitische, heterodoxe Gemeinschaft,
so dass die Konfession ihre Identität ausmachte. Die
Konfrontation mit der Nationalitätsfrage wurde eine Zerreißprobe
für die Aleviten während des Konflikts zwischen der PKK und
der Türkei in den 80’ern des letzten Jahrhunderts, in der
Kurden und Türken die Aleviten, vor allem in den 90’er
Jahren, für sich umwarben. Ein Teil der kurdischen Aleviten, vor
allem aus der Region Dersim, unterstützten die PKK in ihrem
Unabhängigkeits-Kampf gegen die Türkei. Die Suche nach der
nationalen Identität zerspaltete die Aleviten in Regimetreuen
und Regimegegnern und zwischen den Aleviten eine Kluft geschaffen.
Ende der 80’er Jahre
begann die Organisation der Aleviten und die Suche nach ihrem fast
verloren gegangenem Glauben. Aleviten lebten in den Städten zwar
vielleicht der Philosophie entsprechend, aber durch ihre
Geheimhaltung, sei es ob aus Scham, Furcht oder Desinteresse. So
bemerkt Dr. Krisztina Kehl-Bodrogi in ihrem Artikel „Glaubenslehren
der Aleviten“:
„Angesichts
der vorangehenden Säkularisierung wurde die Rekonstruktion der
religiösen Traditionen zur zentralen Aufgabe der Bewegung. Dabei
ist – bedingt durch die mündliche Wissensvermittlung in der
Vergangenheit - ein breiter Raum für Interpretationen gegeben.
Die fehlende Kodifizierung der Lehre bedeutet aber auch einen nicht
zu unterschätzenden Vorteil für das (...) [Alevitentum].
Ohne den Hemmschuh einer in Schrift gegossene Lehre kann es sich
leichter an veränderte Bedingungen anpassen; ein Umstand, der
Religionen mit Schrifttradition ungleich schwerer fällt.“
Vor
allem in der Diaspora organisierten sich die Aleviten recht
erfolgreich, um sich Gehör verschaffen zu können. Die
größte Organisation ist zurzeit die Föderation der
alevitischen Gemeinden in Deutschland (AABF). Die alevitischen
Organisationen in Europa engagieren sich für den interreligiösen
Dialog und für die Wiederbelebung ihrer Konfession. Sie ist
bereit, sich mit der Moderne auf allen Ebenen auseinander zu setzen.
Von Vorteil ist es, dass das Alevitentum keine Buchreligion ist sowie
keine geistliche Institution besitzt, die Dogmen aufstellen kann.
Beatrice
Hendrich bemerkte in „Die
Feierlichkeiten von Hadschi Bektasch“, dass:
“Viele
der Diskussionen zeigten, dass die Arbeitsmigration aus der Türkei
nach Europa jetzt ganz ungeahnte Früchte zu tragen scheint: Die
in Europa sozialisierten Kinder der Auswanderer, die in die Türkei
zurückkehren oder geradezu zwischen beiden Welten hin und
herpendeln, geben der Diskussion eine neue Richtung und eine
veränderte Qualität. Anders als es die einseitigen
Beschwörungen von in den Einwandererländern entstehenden
"Parallelwelten" suggerieren wollen, ist das (...)
[Alevitentum] somit zu einem die verschiedenen Lebenswelten
verbindenden Phänomen geworden.“
Es gibt innerhalb des
Alevitentums in der Diaspora zwei Bewegungen. Die eine möchte
das Alevitentum mehr aus der philosophischen Sichtweise betrachten
und die religiösen Elemente nicht zu sehr hervorheben, damit die
freiheitlichen Gedanken dieser Konfession erhalten bleiben sowie
verstärkt werden können. Die andere Bewegung aber strebt
mehr in die dogmatische Richtung, andere sprechen auch von der
Dogmatisierung des Alevitentums, die der Konfession mehr
Institutionalität sowie Religiosität verleihen wollen, um
so mehr religiöse Annerkennung zu erlangen.
Die Philosophie des
Alevitentums wurde während der 60’er und 70’er Jahre
durch die linke Ideologie bereichert, so dass viele Jugendliche bei
der Frage, was ihnen am Alevitentum wichtig sei, unter anderem den
Widerstand gegen die Ungerechtigkeit erwähnen. Weiterhin hatte
der Kampf der Kurden dem Alevitentum Mut zur Artikulation gegeben.
So heterodox die
Gemeinschaft der Aleviten, so vielfältig das Reservoir ihrer
Kultur, ihres Glaubens sowie ihrer Philosophie auch ist, dies trifft
ebenfalls auf ihre Weltansicht zu. An Streitkultur untereinander
mangelt es nicht. Zum Schluss kann gesagt werden, dass die
Globalisierung der alevitischen Philosophie die Möglichkeit zur
Entfaltung gegeben hat, jedoch mit gewissen Einschränkungen.
Selbst die Zuhilfenahme
von Religionen und Ideologien um die Welt menschlicher, gerechter und
freiheitlicher zu gestalten, scheitert an den Bedingungen der
Gesellschaft, die primär allein von Bedürfnisbefriedigungen
geprägt zu sein scheint.
Gümüs, Burak:
Türkische Aleviten. Vom Osmanischen Reich bis zur heutigen
Türkei. Konstanzer Schriften zur Sozialwissenschaft. Konstanz
2001.
Kieser, Hans-Lukas:
Aleviten im Wandel der modernen Geschichte.
http://www.hist.net/kieser/pu/AleviModerne.html
Kehl-Bodrogi, Dr.
Krisztina: Glaubenslehren der Aleviten. www.meome .de (nicht mehr im
Internet!)
Hendrich, Beatrice: Die
Feierlichkeiten von Hadschi Bektasch.
http://www.alewiten.com/diefeierlickeiten.htm
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