Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 02.12.10 |
von Richard Schröder
Meine Damen und Herren! Der 17.Juni war in der Bundesrepublik
Staatsfeiertag. Es ist mir allerdings bis heute noch kein Westdeutscher
begegnet, der mir genauer erklären konnte, wie es dazu kam und was
daraus folgte. Ich bezweifle zwar nicht, dass es sie gibt, aber sie
können nicht sehr zahlreich sein.
In der DDR war der 17.Juni ein Tabu. Mein Vater, dem ich in diesem
Falle einen Hang zum schwarzen Humor zuschreiben muss, ging am 16.Juni
zum Friseur und erklärte: Morgen ist der 17.Juni, da wird bei uns
gefeiert.- Erstarrte Gesichter: Ist der Apotheker lebensmüde? Dann die
Entwarnung: Da habe ich nämlich Geburtstag.
(Heiterkeit)
Wenn der 17.Juni in der DDR überhaupt erwähnt wurde, wurde er als
faschistischer Putsch bezeichnet, angezettelt vom Westen, namentlich,
wie es hieß, vom RIAS, dem Rundfunk im Amerikanischen Sektor von Berlin.
Zwei Briefmarken, die im Herbst 1953 in Westberlin zur Erinnerung an
den 17.Juni erschienen, wurden auf Briefen in die DDR mit schwarzem
Lack unkenntlich gemacht. Im Sammlerkatalog stand zu diesen Marken nur:
"Nr.110 und 111 fallen aus".
(Heiterkeit)
Tatsächlich ist die Erinnerung an den 17.Juni in der DDR fast völlig
erloschen. Deshalb versuche ich mich hier als erinnernder Chronist auch
mit ziemlich vielen Zahlen.
Am 17.Juni 1953 kam es in 700Orten der DDR zu Streiks und
Demonstrationen. Ausgelöst waren sie durch die 10-prozentige
Normerhöhung, die die SED-Regierung Ende Mai zu Ehren von Ulbrichts
50.Geburtstag verfügt hatte.
(Heiterkeit)
Bei den Lohnzahlungen am Sonnabend, dem 13.Juni 1953, wurden sie zum
ersten Mal wirksam; da wurde noch wochenweise gezahlt. Daraufhin
verfassten am Montag, dem 15.Juni, die Bauarbeiter des Krankenhauses
Berlin-Friedrichshain eine Resolution an den Ministerpräsidenten
Grotewohl und forderten, "dass von dieser Normerhöhung auf unserer
Baustelle Abstand genommen wird. Wir erwarten Ihre Stellungnahme bis
morgen Mittag." Jetzt sind wir beim 16.Juni. Der Vorsitzende der
Betriebsgewerkschaftsleitung und drei Arbeiter brachten die Resolution
in das Haus der Ministerien.
Als am 16.Juni keine Antwort vorlag, zogen etwa 10000Demonstranten
zum Haus der Ministerien. Inzwischen hatte das Politbüro die
Normerhöhung zurückgenommen. Als Minister Selbmann das aber vor dem Haus
der Ministerien den Demonstranten mitteilte, wurde er niedergeschrieen.
Ein Arbeiter rief: "Was du uns da erklärst, interessiert uns überhaupt
nicht. Wir wollen frei sein. Wir fordern freie und geheime Wahlen." Ein
anderer rief: "Für morgen rufen wir den Generalstreik aus".
Eine Abordnung der Demonstranten suchte den RIAS in Westberlin auf,
der in der ganzen DDR gehört werden konnte. Der RIAS informierte über
die Berliner Ereignisse des 16.Juni und verbreitete vier Forderungen
der Demonstranten: Rücknahme der Normerhöhung, Senkung der
Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelungen der
Streikenden. Den Aufruf zum Generalstreik hat der RIAS nicht verbreitet,
aber korrekt die Rücknahme der Normerhöhungen durch das Politbüro. Kurz
darauf verbot ein amerikanischer Offizier dem RIAS die weitere
Verbreitung dieser Nachricht, weil er fürchtete, Westberlin könnte
tangiert und ein Krieg ausgelöst werden.
Am 16.Juni, 23Uhr wandte sich der Bundesminister für gesamtdeutsche
Fragen, Jakob Kaiser, über den RIAS an die Ostberliner und Ostdeutschen
mit der Bitte, "sich weder durch Not noch durch Provokationen zu
unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und
seine Umgebung in Gefahr bringen." Am 17.Juni, 5.15Uhr meldete sich
der Westberliner DGB-Vorsitzende Scharnowski über den RIAS zu Wort:
Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und
Eisenbahner bei… Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und
disziplinierter wird die Bewegung für Euch mit gutem Erfolg verlaufen.
Am 17.Juni begannen landesweit früh Demonstrationen. Allein in
Berlin waren schließlich 150000, im ganzen Land etwa 1Million auf der
Straße unterwegs, zuallermeist friedlich, es kam aber auch zu
Gewaltakten. Gebäude sind erstürmt, Kioske und das Columbushaus in
Berlin in Brand gesteckt worden. Es gab auch Fälle von Lynchjustiz.
Zwischen 10 und 15Personen sind durch Aufständische ums Leben gekommen.
Die Sicherheitskräfte der SED waren völlig kopflos. Nicht wenige
Polizisten gingen zu den Demonstranten über.
Um 10Uhr ließ der sowjetische Botschafter Semjonow die
handlungsunfähige SED-Führung in geschlossener Wagenkolonne in die
sowjetische Kaserne nach Karlshorst abtransportieren. Um 13Uhr
verhängte die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über alle großen
Städte und über 167 der 217Landkreise. Allein in Ostberlin fuhren
600sowjetische Panzer auf. Es wurde auf Demonstranten geschossen: erst
über die Köpfe hinweg, dann, wo das nicht wirkte, auch auf Personen. Auf
Moskauer Anordnung wurden sofort willkürlich 18standrechtliche
Erschießungen vorgenommen und dieselben zur Abschreckung mit Plakaten
veröffentlicht. Die Zahl der Toten wird insgesamt auf 60 bis 150
geschätzt, die der Verwundeten ist unbekannt. 13000 wurden anschließend
verhaftet, 2000 zu harten Zuchthausstrafen verurteilt, 2zum Tode.
Besonders hart wurden die Organisatoren der Streiks bestraft, obwohl die
DDR-Verfassung das Streikrecht garantierte.
Was als Streik der Arbeiter gegen Lohnkürzungen begann, wurde in
wenigen Stunden zu einem landesweiten Aufstand mit politischen
Forderungen: freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen,
Rücktritt der Regierung, Pressefreiheit, Wiedervereinigung. Beteiligt
waren schließlich alle Schichten der Bevölkerung, auch Mitglieder der
Parteien, auch Mitglieder der SED, und der Gewerkschaften. Auf dem Lande
gab es Bauerndemonstrationen. Viele Demonstrationen führten vor die
Gefängnisse mit der Forderung nach Freilassung der politischen
Häftlinge, oft mit Erfolg. Aber nach 36Stunden endete alles in einer
blutigen Tragödie.
Wie kam es zu diesem Aufstand? Die Normerhöhung war bloß der
Auslöser. Die Ursachen lagen tiefer; sie lagen ein Jahr zurück. Auf der
Zweiten Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12.Juni 1952 wurde der
Aufbau des Sozialismus in der DDR proklamiert: Das hieß: Die DDR sollte
nach dem Muster der Sowjetunion umgestaltet werden. Es folgte das
schlimmste Jahr der DDR.
1947 waren auch in der Sowjetischen Besatzungszone Länderverfassungen
in Kraft gesetzt worden, die der deutschen Verfassungstradition
durchaus noch verpflichtet waren mit Gewaltenteilung und unabhängiger
Justiz, wenn auch nicht uneingeschränkt. Mit Gesetz vom 23.Juli 1952
wurden die Länder abgeschafft und in 14Bezirke aufgeteilt. Mit den
Ländern verschwanden auch die Verwaltungsgerichte und die
Finanzgerichte. 200Richter wurden damals entlassen, nicht weil sie
Nazis waren- die hatte die sowjetische Besatzungsmacht längst
entlassen-, sondern weil ihre Unparteilichkeit störte. Sie wurden durch
unausgebildete SED-treue "Neurichter" ersetzt, die, wenn mir die freche
Bemerkung erlaubt ist, besonders gut kurzen Prozess machen konnten.
Die Erklärung der Zweiten Parteikonferenz beginnt mit einem Aufruf
zum "nationalen Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und
französischen Okkupanten in Westdeutschland" und zum "Sturz ihrer
Vasallenregierung in Bonn". Die "Festigung und Verteidigung der Grenze"
und die "Organisierung bewaffneter Streitkräfte, die mit der neuesten
Technik ausgerüstet" sind, werden angekündigt. Einen Monat zuvor, am
26.Mai 1952, war die Westgrenze abgeriegelt worden. Die Aufrüstung der
DDR begann. Der Ausbau der Schwerindustrie wurde auf Kosten der
Konsumgüterindustrie forciert: Milliardenprojekte für Schiffsbau und
Flugzeugbau; denn nach dem Willen der Sowjetunion sollte die DDR auf
beiden Gebieten ihre eigenen Rüstungsgüter produzieren. Das alles
brachte die DDR-Wirtschaft in eine schwere Krise.
Die neue Losung "Aufbau des Sozialismus" hieß zugleich: "Verschärfung
des Klassenkampfes", den "feindlichen Widerstand brechen". Im Klartext:
Die Staatsmacht wurde zur Waffe der Partei gegen die Bürger. Das war
mit Klassenkampf gemeint. Der Klassenkampf richtete sich gegen die
wirtschaftlich Selbstständigen- wer Angestellte hatte, war jetzt ein
Kapitalist-, gegen Bauern und Bürgertum. Ihnen, nämlich 2Millionen
Personen, wurden die Lebensmittelkarten entzogen, und die Justiz wurde
regelrecht als Terrorinstrument eingesetzt, getreu dem Satz von Lenin:
Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen…, sondern ihn
prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und
gesetzlich verankern.
Wer es nachlesen möchte, findet es in Lenins Werken, in der DDR erschienen, Band33, Seite344.
Von August 1952 bis Januar 1953 kam es zu 1250 Gerichtsverfahren
gegen Bauern, die das erhöhte Ablieferungssoll nicht erreichten oder
daraus resultierende Steuerschulden nicht begleichen konnten. Ich nenne
ein Beispiel: In Prenzlau wurde ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus
verurteilt und enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht
erfüllt hatte. Mehr als 15000 Bauern flüchteten damals in den Westen.
Die sowjetische Botschaft meldete nach Moskau, dass deswegen
500000Hektar Land brachliegen.
Aufgrund des Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums wurden bis Ende
1953 circa 10000Personen verurteilt, meistens Arbeiter. Auch dafür ein
Beispiel: Ein Lagerarbeiter aus Luckenwalde wurde zu drei Jahren Haft
verurteilt, weil er den Diebstahl von einem Paar Hausschuhe nicht etwa
begangen, sondern durch einen Dritten nicht verhindert hatte. Der
private Handel und Großhandel wurde mittels verweigerter Kredite,
Zulieferungsverboten und systematisch eingesetzter schikanöser
Steuerprüfverfahren zerschlagen. Bei der Zerschlagung des Großhandels
wurden in 3000Betriebsprüfungen 2100Strafverfahren eingeleitet,
2300Personen verhaftet und ein Vermögen von 335Millionen Mark
eingezogen.
März/April 1953 kam es zu einem regelrechten Kirchenkampf. Die Junge
Gemeinde wurde als Tarnorganisation des US-Imperialismus denunziert.
3000Jugendliche wurden von den Oberschulen verwiesen, weil sie nicht
bereit waren, sich vor versammelter Schülerschaft von der Jungen
Gemeinde loszusagen. Lehrer wurden strafversetzt oder entlassen. Etwa
70Pfarrer und Jugendleiter waren damals inhaftiert, 600Studenten wegen
Teilnahme an der Studentengemeinde exmatrikuliert.
In diesem einen Jahr des Aufbaus des Sozialismus hat sich die Zahl
der Häftlinge auf 64400 verdoppelt. Mehrere Hunderttausend sind damals
aus Angst um ihre Freiheit nach Westberlin geflohen.
Der Klassenkampf richtete sich auch gegen SED-Mitglieder. Eine
"Säuberung" von "feindlichen Elementen" mit Schauprozessen wurde
vorbereitet. Im Januar 1953 wurden Juden als "zionistische Agenten" aus
der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, VVN, ausgeschlossen.
Seit dem 11.September 1952 wurden an die SED-Funktionäre bis auf die
Kreisebene hinab persönliche Waffen ausgegeben, die erst im November
1989 wieder eingesammelt wurden. In der letzten Sitzung des ZK der SED
1989 beklagte ein Altkommunist unter Tränen die Demütigung, diese Waffe
abgeben zu müssen, mit der er doch den Sozialismus zu verteidigen
beabsichtigte.
Nach Stalins Tod am 7.März 1953 beobachtete die neue sowjetische
Führung die repressive Politik der SED mit wachsender Sorge, weil sie um
die Stabilität ihres westlichen Vorpostens fürchtete. Deshalb wurde die
SED-Führung ziemlich harsch vom 2. bis 4.Juni nach Moskau einbestellt.
Ihr wurde ein umfangreiches Schriftstück zur Stellungnahme vorgelegt,
in dem als Hauptursache für die Massenflucht der DDR-Bürger und die
Wirtschaftskrise "der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des
Sozialismus" verantwortlich gemacht wurde, der nun "für nichtig zu
halten" sei. Kritisiert werden namentlich die Repressionen gegen Bauern,
gegen das "Privatkapital", die Forcierung der Schwerindustrie zulasten
der Versorgung der Bevölkerung und die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten der Kirche. Der SED werden "Maßnahmen zur Stärkung der
Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte" auferlegt. Nicht erwähnt
wird die Normerhöhung, möglicherweise deshalb, weil sie erst nach
Fertigstellung des Papiers verkündet wurde. Sie wurde wohl einfach
übersehen. Das sollte schwerwiegende Folgen haben. Diese Kurskorrektur,
so wird in dem Papier von der sowjetischen Seite erklärt, sollte der
"Stärkung unserer Position sowohl in Deutschland selbst als auch in der
Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene" dienen.
Die SED-Führung gehorchte umgehend. Noch von Moskau aus ließ sie die
Verbreitung ihres Propagandamaterials sperren und die pompösen
Vorbereitungen zu Ulbrichts Geburtstag stoppen, die die Sowjetführung
als Personenkult kritisiert hatte. Am 9.Juni beschloss das Politbüro
der SED ein Kommuniqué, in dem es seine Fehler eingestand, das ganze
Inventar der Repressionen noch einmal aufzählte und deren Rücknahme
ankündigte - mit zwei Ausnahmen: Das Wort "Bürgerrechte" fehlte und die
Normerhöhung. Die Arbeiter- und Bauernregierung hatte die Arbeiter
vergessen, weil Moskau nichts ausdrücklich angeordnet hatte. Weil sie
sich zu Recht übergangen sahen, traten die Arbeiter in den Streik. So
kam es zum 17.Juni.
Welche Folgen hatte der 17.Juni? Eine paradoxe Folge, die weder die
Demonstranten noch die Sowjetunion gewollt haben: Der 17.Juni rettete
Ulbrichts Position. Er triumphierte gegen seine innerparteilichen
Widersacher und säuberte die Partei. Kriterium war der 17.Juni. Wer
zurückgewichen war oder gar mit den Forderungen der Demonstranten
sympathisiert hatte, verlor seinen Posten. Bis 1954, in diesem einen
Jahr, wurde ungefähr die Hälfte aller SED-Funktionäre ausgetauscht.
Dagegen war es nun nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Nazi war. Im
Februar 1954 ermittelten parteiinterne Statistiker sehr penibel, dass
der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der SED zunimmt. Waren es
bisher 8,6Prozent, sind es nun bei den Aufnahmeanträgen 9,3Prozent.
Bei Mitgliedern der SA und SS stieg die Zahl gar von 6Prozent auf
10Prozent. Als die SED-Kreisleitung Pasewalk am 27.Januar 1954 eine
Kommission bilden wollte, um den steigenden Anteil von Altnazis in der
SED des Kreises zu untersuchen, wurde ihr das strikt verboten.
Unmittelbar nach dem 17.Juni begann erneut der Justizterror. Ab 1954
wurde die Jugendweihe zum neuen Kirchenkampfinstrument. Ab 1958 wurde
die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder forciert. Die Reste der
privaten Wirtschaft, meistens zu "halbstaatlichen Betrieben"
umgewandelt, zerschlug Honecker Anfang 1970, obwohl sie überproportional
am Export beteiligt waren. Aber die SED begann nun auch, die
Lebensverhältnisse zu verbessern, um die Arbeiter für sich zu gewinnen.
Später hieß das: Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nichts
gegen Sozialpolitik! Die SED betrieb sie aber als Gnadengabe für
Wohlverhalten. Das Ziel war: zufriedene Knechte, nicht Bürgerrechte.
Der 17.Juni blieb das Trauma der SED. Als dem Stasiminister Mielke
am 31.August 1989 über die brisante Lage berichtet wurde, fragte er:
"Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?". Aber auch für die
Bevölkerung der DDR blieb der 17.Juni ein Trauma. Alle Losungen von
damals waren seitdem tabu, namentlich freie Wahlen und Pressefreiheit.
Wir mussten lernen: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Das haben
wir 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR wieder erlebt. Wo sich der Ruf
nach Freiheit meldet, erscheinen die sowjetischen Panzer. Budapest ist
1956 stärker zerstört worden als im Zweiten Weltkrieg. Daraus ergab sich
zwingend: Der Schlüssel für große Veränderungen liegt nicht in der DDR,
er liegt in Moskau. Wenn allerdings dort ein Nagy oder Dubcek auftreten
sollte, dann werden die Panzer wohl in den Kasernen bleiben. Er kam
schließlich und hieß Gorbatschow.
Was genau war nun dieser 17.Juni? Die SED hat bis zuletzt behauptet:
Das war ein von außen gelenkter faschistischer Putsch.
Erfreulicherweise hat sich der Vorstand der PDS 1993 davon distanziert.
Trotzdem gibt es auch in ihren Reihen immer noch Vertreter der These vom
faschistischen Putsch; aber das muss uns nicht sehr aufregen. Peinlich
ist, dass alle DDR-Schriftsteller, die sich vor 1989 zum 17.Juni
geäußert haben, Stephan Hermlin, Anna Seghers, Heiner Müller, die These
vom faschistischen Putsch oder, so Stefan Heym, vom halbfaschistischen
Putsch, gefolgt sind. Kurt Barthel, der sich KuBa nannte und furchtbare
Hymnen auf Stalin verfasst hat, schrieb in einem Flugblatt gegen die
Ostberliner Bauarbeiter, dass er sich für sie schäme. "Da werdet ihr
sehr viel und sehr gut mauern… müssen, ehe euch diese Schmach vergessen
wird." Dergleichen mag Bertolt Brecht veranlasst haben, nach dem
17.Juni zwar öffentlich seine Solidarität mit der SED zu bekunden, zu
Hause aber für sich aufs Papier den Text Die Lösung
niederzuschreiben: Die Regierung möge das Volk auflösen und ein anderes
wählen, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verspielt hat.
Zum 50.Jahrestag des 17.Juni haben sich Westdeutsche zu Wort
gemeldet, die erklärten, der 17.Juni sei kein Ruhmesblatt für die
Deutschen. Hubertus Knabe warf dem Westen vor, nicht eingegriffen zu
haben. Gerhard Besier warf den ostdeutschen Kirchen Versagen vor. Solche
Besserwisserei hinterher und vom Schreibtisch aus nervt. Hätte der
Westen am 17.Juni eingegriffen, hätte tatsächlich ein Weltkrieg
gedroht. Die Sowjetunion hatte nach 1945 nicht, wie die Westmächte,
abgerüstet. Hätten die Kirchen vor oder nach dem 17.Juni zu
Demonstrationen aufgerufen, hätten sie bloß die Zahl der Opfer erhöht.
Es ist zweierlei: Märtyrer werden, nämlich Nachteile für seinen Glauben hinnehmen müssen- das haben auch damals viele in der DDR erfahren-, und Märtyrer machen. Das ist den christlichen Kirchen verwehrt, und dabei soll es bleiben.
Nochmals: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Zuletzt ist uns das
1989 in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens verdeutlicht
worden. Aber wenn der 17.Juni gar keinen Erfolg hatte, war er dann
nicht eine Torheit? Immanuel Kant hat zur Französischen Revolution
bemerkt: Bedenkt man, mit wie viel Elend und Greuel sie verbunden war,
könnte niemand verantworten, sie auf diese Kosten noch einmal zu
unternehmen. Trotzdem finde diese Revolution "in den Gemüthern der
Zuschauer eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus
grenzt", weil sich da gegen den Despotismus der Gedanke des Rechts
Geltung verschafft hat. So ähnlich sollten wir den 17.Juni auch sehen.
Ihn noch einmal zu initiieren, wenn wir das fingieren, könnte der hohen
Opfer wegen niemand verantworten. Aber trotzdem nötigt es uns
Bewunderung ab, dass der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit
damals so unerwartet mächtig wurde.
(Beifall)
Widerlegt wurde, dass den Deutschen der Untertanengeist angeboren sei.
Das wurde im Herbst 1989 noch einmal widerlegt. War er die
Fortsetzung des 17.Juni? Erst einmal: Nein. Die oppositionellen Gruppen
in der DDR und die Demonstranten des Herbstes haben sich nicht auf
dieses Datum bezogen. Eher könnte man sagen: Weil eine neue Generation
junger Nonkonformisten nicht durch die Erinnerung an den 17.Juni
gelähmt war, erlaubte sie sich unbekümmert Kritik, zunächst bei den
Themen Umwelt, Frieden, Abrüstung und Dritte Welt. Das brachte die SED
deshalb in Verlegenheit, weil das nicht die Themen waren, die als
staatsfeindlich perhorresziert waren. Sie forderten auch nicht freie
Wahlen, sondern zählten, was das DDR-Wahlrecht zuließ, bei den
Kommunalwahlen im Mai 1989 nach und erstatteten dann Anzeige nach
DDR-Recht. Diese Gruppen unter dem Dach der Kirche entdeckten die
Vernetzung als Schutz.
Nicht von Baustellen und Betrieben nahmen die Demonstrationen ihren
Ausgang, sondern von Friedensgottesdiensten. Es wurden
Verhaltensmaßregeln gelernt: Wer verhaftet wird, ruft seinen Namen,
damit er nicht namenlos verschwindet, und "Keine Gewalt!". Als die
Montagsdemonstration zur Massenbewegung anschwoll und an der "Runden
Ecke", dem Stasiquartier in Leipzig, vorbeiführte, stellten sich
Demonstranten mit Kerzen zum Schutz vor das Gebäude, damit auch nicht
eine Fensterscheibe kaputtging und Anlass zur Gewalt gab. Der
Volkskammerpräsident Sindermann hat später dazu resigniert festgestellt:
"Auf alles waren wir vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen".
(Heiterkeit)
Nach dem 17.Juni 1953 waren die Arbeiterkampfgruppen zum Kampf gegen
die Konterrevolution gegründet worden. Als sie 36Jahre später, im
Herbst 1989, zum ersten Mal gegen Konterrevolutionäre, sprich: die
Demonstranten, eingesetzt werden sollten, haben
346Kampfgruppenangehörige den Befehl verweigert. Vergeblich habe ich
mich bis zum heutigen Tage bemüht, darauf hinzuweisen, dass es auch hier
Leute gibt, die unseren Respekt verdienen.
(Beifall)
Diese 346Kampfgruppenangehörige haben gesagt: Die Demonstranten sind
keine Konterrevolutionäre. Wir wissen das; da sind auch Kollegen von
uns dabei.
Die deutsche Einheit gehörte nicht zu den Forderungen der
oppositionellen Gruppen in der DDR. Erst als die Mauer fiel und die
Ohnmacht des Regimes offenbar war, begannen Demonstranten aus der
Nationalhymne der DDR zu skandieren: "Deutschland einig Vaterland". Da
waren sie alle drei wieder beieinander: Einigkeit und Recht und
Freiheit.
Ich danke Ihnen.
Quelle: bundestag.de
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